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Archiv "Der Körper als Instrument zur Bewältigung seelischer Krisen: Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen" (07.09.2001)

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E

s gibt nur eins, was die Menschen mehr erregt als die Lust ...

und das ist der Schmerz.

... So waren wir auf un- serer Reise mindestens zweimal einer Bußpro- zession von Flagellanten begegnet. ... Sie zogen in Zweierreihen durch die Stadt, bekleidet nur mit einem knappen Lenden- schurz, denn offensicht- lich hatten sie jedes Ge- fühl der Scham verloren.

Mit kurzen Lederpeit- schen schlugen sie sich und einander die Rücken blutig, und dabei schrien

sie, heulten laut und vergossen heiße Tränen, als ob sie mit eigenen Augen die Passion des Erlösers schauten, und flehten mit schrillen Klagegesängen um die Barmherzigkeit Gottes und die Fürbitte der Heiligen Jungfrau.“ (Um- berto Eco – Der Name der Rose)

Aus historischer Perspektive ist – wie Umberto Ecos Beschreibung einer mittelalterlichen Flagellantenprozes- sion zeigt – die Instrumentalisierung des Körpers nichts Neues. Angehörige

dieser schwärmerisch frommen Laien- bewegungen pflegten sich morgens und abends zur Buße durch Selbst- geißelung und Auspeitschung in einer besonderen Form der Glaubenssehn- sucht zu üben. Neben diesen Formen religiöser Verzückung, gibt es Selbst- verletzungen zur Bewältigung negati- ver Emotionen aus kulturvergleichen-

den Beobachtungen: So spricht Ka- plan (7) von Selbstverletzung als einer Form der Trauerbewältigung. Men- schen raufen sich zum Zeichen der Trauer das Haar, sie schneiden sich Gesichter und Arme auf oder reißen sich blutige Strähnen aus der Kopf- haut, um der Größe ihres Schmerzes Ausdruck zu verleihen. Bei Urein- wohnern Neuguineas ist es Sitte, dass sich die Stammesmitglieder beim Tod eines nahe stehenden Menschen ein Fingerglied abschneiden (14).

Selbstverletzungen finden unter kulturanthropologischen Gesichts- punkten auch zur Symbolisierung und Kennzeichnung einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit statt. Dazu dienen rituelle Beschneidungen und Verletzungsakte, die insbesondere bei Pubertierenden die Aufnahme in die Gruppe der Erwachsenen kennzeich- nen. Analogien zu modernen Jugend- kulturen drängen sich auf: Punkritu- ale, Piercing und Tattooing dienen nicht nur einem Schönheitsideal, son- dern sollen auch eine Abgrenzung von tradierten Lebensformen zum Aus- druck bringen. Die Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur und die Abgren- zung von der Erwachsenenwelt wer-

Der Körper als Instrument zur Bewältigung seelischer Krisen

Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen Franz Resch

Zusammenfassung

Selbstverletzende Handlungen sind ein gravie- rendes Problem in der Psychiatrie und Psycho- therapie des Jugendalters. Bei einer Prävalenz von knapp einem Prozent der Bevölkerung fin- det sich Automutilation in einigen Patien- tengruppen gehäuft – beispielsweise bei Ess- störungen in mehr als 25 Prozent. Vor allem Mädchen sind betroffen. Die Bedeutsamkeit traumatischer Lebenserfahrungen im Sinne der Entwicklung eines dissoziativen Symptomkom- plexes wird immer wieder hevorgehoben. Die Störung der Impulskontrolle geht mit Verände- rungen im Serotoninstoffwechsel einher. In- trapsychisch stellt die Selbstverletzung eine Form der Affektregulation dar. Repetitive selbstverletzende Handlungen können einem suchtartigen Mechanismus gehorchen. Grund-

lage der Psychotherapie ist, eine sichere trag- fähige Beziehung herzustellen. Die Verarbei- tung der traumatisierenden Erfahrungen der Vergangenheit soll in einer gesicherten Gegen- wart mit Hinblick auf eine realistische Zukunfts- idee erfolgen.

Schlüsselwörter: Adoleszenz, Trauma, Selbst- verletzung, Automutilation, Dissoziation, Sero- tonin

Summary

The Body Under Siege for the Purpose of Overcoming Emotional Disturbances – Self- Mutilation in Adolescence

Self-mutilations represent one of the challenges in psychiatry and psychotherapy of adoles-

centes. General prevalence of the phenomenon comprises nearly 1 per cent of the population.

Prevalence increases in patient populations, e. g.

more than 25 per cent in eating disorders, fe- males being conflicted representing the majori- ty. Traumatic life circumstances play an impor- tant role in the pathogenesis and result in a complex of dissociative symptomatology. Im- pulsivity seems to reflect underlying deficits in serotonin-metabolism. Psychodynamically, self- mutilation represents a mean of affect regulati- on. Repetitive self-wounding seems to follow a behavioral pattern of substance dependence.

Psychotherapy is based on a firm therapeutic re- lationship. Trauma-related interventions rely on present-shelter and a realistic future prospect.

Key words: adolescence, trauma, self-mutilation, automutilation, dissociation, serotonine

Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie (Direktor: Prof.

Dr. med. Franz Resch) der Universität Heidelberg

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den auch heute durch Modeerschei- nungen kenntlich gemacht, die eine Überwindung von Schmerz und Kör- pergrenzen erfordern.

Die Psychiatriegeschichte kennt das Phänomen selbstverletzenden Verhaltens (SVV) seit mehr als 100 Jahren. So wurden bei offenbar schi- zophren Erkrankten schwere Selbst- verstümmelungen berichtet, die mit der Enukleation eines Auges, Kastra- tionen und/oder Amputationen ver- bunden waren. Seit den 70er-Jahren werden leichtere Formen oberflächli- cher Hautverletzungen bei jugendli- chen Patienten immer häufiger be- obachtet. Solche Verletzungen wer- den „deliberate self-harm“ (DSH) und

„self-mutilation“ (SM) genannt. Mit diesen verschiedenen Formen der Au- tomutilation beschäftigt sich der fol- gende Artikel.

Definition und Einteilung

Während Putnam (13) dem selbstver- letzenden Verhalten keine pathogno- monische Bedeutung für die Zuord- nung zu einer bestimmten psychiatri- schen Erkrankung zuteilt, sondern selbstverletzendes Verhalten als Ex- tremform, Affekte auszudrücken und zu verarbeiten, ansieht, wurde auf- grund der regelmäßig anzutreffenden Vergesellschaftung mit anderen Sym- ptomen versucht einen syndromalen Überbegriff zu finden. Von Pattison (12) wurde das „deliberate self-harm“- Syndrom (DSH) beschrieben, das durch multiple Episoden und Formen direkten selbstverletzenden Verhal- tens gekennzeichnet ist, wobei dieses Verhalten über mehrere Jahre stabil anzutreffen ist und nur selten zum To- de führt. Als assoziierte Erkrankun- gen sind gehäuft Depressionen und funktionelle Psychosen zu finden.

Demgegenüber definiert Favazza (2, 3) das Syndrom repetitiver Auto- mutilation, das durch die ständige Be- schäftigung mit dem Gedanken sich körperlich zu schädigen, gekennzeich- net ist. Wiederholt misslingt es, dem Impuls sich selbst zu verletzen, zu wi- derstehen, sodass es zu einer physi- schen Verletzung mit Gewebsschädi- gung kommt. Typischerweise findet

man ein sich intensivierendes Span- nungsgefühl unmittelbar vor dem Akt der Selbstverletzung und eine Erleich- terung und Zufriedenheit während der selbstverletzenden Handlung. Es besteht keine unmittelbare suizidale Intention und das Syndrom repetitiver Automutilation ist auch nicht Aus- druck eines Wahnsyndroms, eines hal- luzinatorischen Impulses, einer trans- sexuellen Idee oder schweren geisti- gen Retardierung.

Nach Favazza (3) kann das selbst- verletzende Verhalten in drei große Gruppen eingeteilt werden (Grafik 1).

Die majore Automutilation ist als au-

todestruktive Handlung im Zusam- menhang mit Sinnestäuschungen oder Wahnideen religiösen oder sexuellen Inhalts zu fassen. Bei organischen Psy- chosen, schizophrenen Erkrankungen, affektiven Störungen mit Suizidalität und auch drogeninduzierten Psycho- sen finden sich schwere Selbstverlet- zungen, die eine tiefgreifende Beein- trächtigung des Selbstbildes und/oder suizidale Impulse widerspiegeln. Ste- reotype Automutilationen sind als au- toaggressive Handlungen bei geistig behinderten Kindern und Jugendli- chen, autistischen Syndromen, hirnor- ganischen Störungen und schweren Stoffwechselstörungen schon seit Jahrzehnten bekannt (6, 10, 25). Dem- gegenüber haben Selbstverletzungen mit einem superfiziellen und modera- ten Schädigungsbild im Sinne dissozia- tiver Automutilationen erst jüngst besonderes wissenschaftliches Inter- esse hervorgerufen (4, 16, 17, 20, 22).

Dem zwanghaften Typ oberflächlicher

Selbstverletzung werden Nägelbei- ßen, Trichotillomanie und Hautkrat- zen zugeordnet. Episodische und re- petitive Formen der oberflächlichen Automutilation sind durch Haut- schnitte, Gravuren, Verbrennungen, Nadelstiche, das Aufkratzen von Wunden und das Herbeiführen von Knochenbrüchen gekennzeichnet.

Ein weiterer Versuch zur Systemati- sierung wurde von Lacey und Evans (9) gemacht. Die Autoren beschreiben ein multiimpulsives Störungsmuster, das die statistischen Zusammenhänge mit Drogenabusus, Promiskuität, Ess- störungen und anderen impulshaften

Störungen, die mit vorübergehen- den Kontrollverlusten einhergehen, betont. Innerhalb solcher multiimpul- siven Störungsmuster können Sym- ptomverschiebungen stattfinden, wo- bei die therapeutische Betreuung ei- nes Anteils der Störungen zu einem Ausagieren in anderen Bereichen führen kann. Wiederholt werden Zu- sammenhänge mit chronischen post- traumatischen Stressstörungen (22) und Persönlichkeitsentwicklungsstö- rungen vom Borderline-Typ (8) her- gestellt. Auch in der Untersuchung des Autors findet sich (16), dass ju- gendliche Patienten mit selbstverlet- zenden Verhaltensweisen signifikant häufiger die Kriterien einer Border- line-Persönlichkeitsstörung erfüllen (nach den Forschungskriterien des ICD-10). Die Tabellegibt einen Über- blick über jene kinder- und jugendpsy- chiatrischen Störungen, bei denen selbstverletzende Verhaltensweisen ge- häuft zu beobachten sind.

Grafik 1

Selbstverletzendes Verhalten (modifiziert nach [3]).

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Epidemiologie

Nach Walsh und Rosen (23) beträgt die Inzidenz zwischen 14 und 600 Fäl- len pro 100 000 Einwohner pro Jahr.

Die Prävalenz wird mit 0,6 bis 0,75 Prozent der Allgemeinbevölkerung angegeben, Favazza (3) berichtet so- gar von einer Jahresprävalenz von ei- nem Prozent. Bei psychiatrischen Pa- tienten beläuft sich der Anteil von Selbstverletzungen auf über vier Pro- zent, unter selegierten Patientenstich- proben finden sich noch erheblich höhere Prävalenzzahlen, zum Beispiel 13 Prozent bei Persönlichkeitsstörun- gen mit Borderline-Symptomatik und

25 bis 40 Prozent bei Patienten mit Ess- störungen (4). Das Geschlechtsver- hältnis wird sehr differierend, je nach Untersuchung, zwischen 2:1 bis 9:1 für weibliche Patienten angegeben. Ein- zelne Berichte legen den Verdacht na- he, dass selbstverletzende Handlun- gen nicht selten bereits vor dem zwölf- ten Lebensjahr beginnen (18).

Klinik und Komorbidität

In der Regel werden Selbstverletzun- gen in offener Weise durchgeführt (21). Selbstverletzende Akte sind in diesem Sinne als Aktionssprache zu bewerten. Demgegenüber sind heimli- che artifizielle Störungen und vor- getäuschte Selbstbeschädigungen sel- tener und besitzen noch eine zusätzli- che sozial manipulative Komponente.

Heimliche Selbstverletzungen ent- wickeln sich manchmal erst im Rah- men medizinischer Untersuchungs- und Behandlungskontexte. Vom Pati- enten werden aktiv körperliche Störungen erzeugt, wobei der Patient seine Autorenschaft dabei verheim- licht (11). Nicht heilende Wunden und wiederholte, auch riskante diagnosti- sche Maßnahmen, kennzeichnen die pathologische Arzt-Patienten-Bezie- hung, die sich in wechselseitigen Handlungszwängen und -verstrickun- gen äußern kann.

In der Heidelberger Untersuchung, die an 161 konsekutiv erhobenen ju- gendlichen Patienten der Abteilung

für Kinder und Jugendpsychiatrie durchgeführt wurde, zeigten immer- hin 19 Prozent der Patienten automu- tilatives Verhalten. In der Heidelber- ger Stichprobe zeigte sich, dass Selbst- verletzungen als Einzelereignisse sel- ten erscheinen. Nur vier Prozent der Patientinnen mit selbstverletzendem Verhalten hatten zum Untersuchungs- zeitpunkt erst einmal Hand an sich ge- legt. 25 Prozent zwei- bis dreimal, aber 71 Prozent bereits mehr als dreimal. 73 Prozent favorisierten Schnittwunden vor anderen Formen der Selbstbeschä- digung. In 85 Prozent wurde eine Ver- letzung der Extremitäten, in 15 Pro- zent auch des Rumpfes beobachtet (16).

Typischerweise sind Selbstverlet- zungen mit anderen psychopathologi- schen Phänomenen vergesellschaftet, wobei nach Lacey und Evans (9) vor

allem andere Formen der Impulskon- trollstörungen komorbid auftreten können. 39 Prozent der von der Ar- beitsgruppe des Autors untersuchten selbstverletzenden Patienten wiesen auch Drogenmissbrauch auf, 55 Pro- zent Essstörungen (zumeist Bulimie), in 55 Prozent fanden sich auch Suizid- versuche und 87 Prozent wiederholte Suizidideen.

Die ausgeprägte Suizidalität bei Patienten mit Selbstverletzungen ist alarmierend. Aufgrund der Tatsache, dass selbstverletzendes Verhalten nicht direkt zur Selbsttötung führen soll, sondern eher selbsterhaltenden Zwecken dient, dürfen Therapeuten sich nicht in falscher Sicherheit wie- gen. Suizidale Impulse können alle Formen der Selbstfürsorge bei den Patienten überwältigen und schließ- lich zu suizidalen Handlungen führen (16).

Spannungsbogen

Charakteristisch für den selbstverlet- zenden Akt ist ein Spannungsbogen, auf dessen Gipfel die Gewebeschädi- gung durchgeführt wird: Zumeist ge- hen belastende zwischenmenschliche Erfahrungen den selbstverletzenden Handlungen voraus, wobei eine starke subjektive Färbung der Beurteilung sozialer Situationen mit Verzerrung der sozialen Wahrnehmung fassbar wird. Aus diesem Grund kann oft die Umgebung die Belastung des Patien- ten nicht antizipieren und erkennt erst die Kränkung, die am Ausgangspunkt des Spannungsbogens steht. Subjektiv besteht eine narzisstische Fehlregula- tion mit Wutgefühlen, Verzweiflung, dysphorischer Verstimmung, Angst und Gefühlen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Eine Bewältigung widersprüchlicher und negativ getön- ter Affekte misslingt. Im Zuge eskalie- render Selbstvorwürfe kommt es zur Wendung von Hass in Selbsthass. Kog- nitive Prozesse, wie Wahrnehmung und Denken beginnen unter affekti- vem Druck zu dissoziieren. Ein immer unbändiger werdender Wunsch be- herrscht das Bewusstsein, verbindet sich mit vitalem Leeregefühl und Be- nommenheit: Sich schneiden, um dies

´ TabelleCC´

Kinder- und jugendpsychiatrische Störungen, bei denen selbstverletzendes Verhalten gehäuft zu beobachten ist (nach ICD-10)

F 04 Hirnorganisches Psychosyndrom Autodestruktives F 06 Organische Psychosen

Verhalten F 2 Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen F 3 Affektive Störungen und Suizidalität

F 43.1 Posttraumatische Belastungsstörungen Dissoziative F 44 Dissoziative Störungen

Automutilation F 48.1 Depersonalisationssyndrome F 60.3 Borderline-Persönlichkeitsstörungen Stereotype F 7 Mentale Retardation

Automutilation F 84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

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alles zu beenden! Es kommt zur Selbstentfremdung im Sinne von De- personalisation und Derealisation.

Das Selbst wird dabei in einen wahr- nehmenden und einen handelnden Teil aufgespalten. Die Zunahme des Spannungsgefühls führt zu weiteren dissoziativen Erlebnisweisen mit Trancezuständen, Amnesien, Körper- gefühls- und Bewegungsstörungen.

Die entscheidende Phase der tatsäch- lichen Umsetzung in die Gewebeschä- digung wird häufig von Amnesie und Analgesie begleitet. Der Schnitt wird gesetzt.

Während das Blut rinnt, fühlt der Patient ein Gefühl der Erleichterung und des Wohlbefindens. Er erlebt ein kurzes personales Erwachen. Das Spannungsgefühl erscheint momentan wie gelöscht. Zunehmend bauen sich jedoch negative Gefühle des Ekels, der Scham und der Schuld wieder auf.

Angst vor entstellenden Narben und vor dem negativen Echo der Umge- bung, unterbrechen das erleichternde Gefühl. Der Circulus vitiosus wird so- mit erneut aufgeladen.

Bausteine einer Pathogenese

Selbstverletzendes Verhalten kann im Rahmen von Störungen der Impuls- kontrolle interpretiert werden. In ei- nem Überblick über die Literatur hat sich bisher in Familienstudien und Zwillingsstudien kein Hinweis erge- ben, dass suizidales und selbstverlet- zendes Verhalten eine genetische Transmission zeigt (19). Es gibt zwar Einzelfallberichte von Familien, in de- nen mehrere Geschwister selbstverlet- zendes Verhalten zeigen, aber in die- sen Falldarstellungen kann zwischen genetischen und umweltbedingten Faktoren nicht unterschieden werden.

Weitere systematische Studien zur Er- fassung einer genetischen Belastung sind notwendig.

Tierexperimentelle Untersuchun- gen bei Ratten haben gezeigt, dass ei- ne reduzierte Serotoninaktivität, die durch Tryptophanmangeldiät oder Lä- sionen des Raphe nucleus hervorgeru- fen wird, einen Anstieg aggressiven Verhaltens bewirkt. Klinische Unter- suchungen bei Patienten mit selbstver-

letzendem Verhalten konnten zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen ha- bitueller Impulsivität und serotoniner- ger Unterfunktion besteht (5). Die Autoren folgern daraus, dass Impulsi- vität selbstverletzenden Verhaltens, Suizidversuche, Autoaggression und depressives Verhalten einen kohäsi- ven Symptomkomplex bilden, der mit einem relativen Serotoninmangel ein- hergeht.

Eine Evidenz für eine spezifische Beteiligung von noradrenergen, dopa- minergen oder GABAergen Mecha- nismen konnte bis dato nicht gewon- nen werden. Es gibt jedoch immer wieder Hinweise, dass Methylpheni-

dat und Neuroleptika zur Unterbre- chung selbstverletzender Verhaltens- weisen wirksam sind.

Eine mögliche Bedeutung des En- dorphinsystems für selbstverletzendes Verhalten wurde immer wieder disku- tiert. Die Hypothese ist, dass durch die Selbstverletzung die Endorphinspie- gel akut erhöht werden, und auf diese Weise eine Repetition des Verhaltens gebahnt wird (25). Manche Autoren postulieren, dass die Erzielung eines erhöhten Umsatzes an endogenen Opiaten zur Aufrechterhaltung des opiatergen Tonus mittels selbstverlet- zender Akte angestrebt werde. Ande- re Autoren meinen, dass die vorhan-

denen Daten, den Beweis einer Invol- vierung des endogenen Opiatsystems noch nicht erbracht haben. Ein Zu- sammenhang zwischen dissoziativen Zuständen und dem Opioidsystem wird jedoch weiterhin vermutet (1).

Auch Zusammenhänge zwischen süchtigem Verhalten und Endorphi- nen wird immer wieder diskutiert.

Da nach Lacey und Evans (9) ver- schiedene Impulskontrollstörungen mit Suchtcharakter gehäuft gemein- sam vorkommen, könnte eine patho- genetische Verwandtschaft derselben vermutet werden.

In der Literatur herrscht die Über- einstimmung, dass die Biographie

selbstverletzender Patienten durch kumulative Traumatisierungen ver- kompliziert ist. Aufgrund biographi- scher Daten konnten fünf Erlebnisbe- reiche dargestellt werden, die eine ge- wisse Prädisposition zu selbstverlet- zenden Verhaltensweisen bewirken können (23). Der Verlust eines Eltern- teils durch Scheidung oder Fremdun- terbringung, chronische Krankheiten oder mehrfache Operationen, sexuel- ler Missbrauch und körperliche Miss- handlung, impulsive Verhaltenswei- sen auf Seiten der Familienmitglieder und Gewalt zwischen den Familien- mitgliedern. In der Adoleszenz kön- nen schließlich Verlusterlebnisse, fa- Grafik 2

Entwicklung des dissoziativen Symptomkomplexes (aus [18], mit freundlicher Genehmigung des Beltz-Ver- lags). PTSD, Posttraumatische Stressstörung

(5)

miliäre Konflikte oder Erlebnisse, die mit Körperentfremdungsgefühlen ein- hergehen, den selbstverletzenden Akt bahnen.

In der Heidelberger Untersuchung zeigten 65 Prozent der selbstverletzen- den Patienten sexuelle Missbrauchs- erlebnisse, in 42 Prozent wurden kör- perliche Misshandlungen nachgewie- sen, 74 Prozent waren von ihren An- gehörigen emotional vernachlässigt worden. Zusammenfassend kann man folgende pathogenetische Entwicklung postulieren: Wenn es eine genetische Disposition gibt, die in Wechselwirkung mit perinatalen Faktoren und frühen psychosozialen Entwicklungseinflüssen steht, dann könnte diese zu einer spezi- fischen Fragilität der kindlichen Per- sönlichkeit führen. Durch wiederholte Traumata und das Fehlen von protekti- ven Faktoren in der sozialen Umge- bung, erlebt das Kind Symptome einer posttraumatischen Stressverarbeitung.

Halten die Traumatisierungen an, ent- wickelt sich schließlich ein dissoziatives Muster mit Amnesien, tranceartigen Zuständen, schnellem Wechsel von Stimmungen und Verhaltensweisen so- wie Störungen der Affektregulation.

Diese gibt schließlich Anlass zu ei- ner persönlichkeitsnahen Vulnerabilität mit erhöhter Dissoziationsbereitschaft, Somatisierungstendenz, Neigung zu Selbstverletzung mit suizidalen Impul- sen und Suchtmittelmissbrauch im Sin- ne eines multiimpulsiven Verhaltens- musters bei Borderline-Persönlichkeits- struktur. Schon geringfügige Traumati- sierungen können dann zur Dekompen- sation bei solchen vulnerablen Men- schen führen (Grafik 2).

Selbstverletzung als Sucht?

Nach dem Konzept von „nicht stoffge- bundenen Suchtformen“ (24), können repetitive selbstverletzende Akte, auch unter dem Gesichtspunkt der Sucht, betrachtet werden. Zu einer Sucht ge- hören neben einem starken Verlan- gen nach dem Suchtmittel, die Tendenz zur Dosiserhöhung, Abhängigkeit und Entzugserscheinungen nach Absetzen des Mittels.

Wegen der Gefahr einer unzulässi- gen Ausweitung auf sämtliche Alltags-

tätigkeiten wird das Konzept nicht stoffgebundener Formen sehr kontro- vers diskutiert (15). Legt man die Kri- terien für Substanzabhängigkeit nach DSM IV zugrunde und geht man da- von aus, dass mindestens drei Kriteri- en erfüllt sein müssen, dann kann man anmerken, dass bei manchen Patien- ten im Rahmen der Repetition selbst- verletzenden Verhaltens der Schwere- grad der Verletzung, die Tiefe der Schnitte, und damit der Blutverlust, sowie die Gefahr entstellender Nar- ben zunahmen. Zugleich nahm auch die Frequenz der selbstschädigenden Akte zu.

Es scheint also Patienten zu geben, die eine Art Toleranzentwicklung des Verhaltens aufweisen. Einige Autoren berichten, dass man durch Unter- drückung selbstverletzenden Verhal- tens eine Art Entzugssyndrom (2) her- vorrufen kann, welches sich als Agita- tion, Irritabilität und Ängstlichkeit äußert, auch halluzinatorische Erleb- nisse, paranoide Verkennungen wur- den beobachtet. Weiter werden selbst- verletzende Verhaltensweisen nicht selten länger und öfter, als beabsich- tigt durchgeführt.

Es bestehen erfolglose Wünsche und Versuche, das Verhalten zu ver- ringern oder zu kontrollieren. Zudem wird viel Zeit dafür aufgewendet, um sich mit der Beschaffung von Rasier- klingen oder dem Anlegen von De- pots mit Schnittinstrumenten an un- terschiedlichen Stellen, zu beschäfti- gen.

Das selbstverletzende Verhalten wird trotz Kenntnis eines anhaltenden und wiederkehrenden körperlichen und psychischen Problems durchge- halten. Rein phänomenologisch könn- te man also das Verhalten repetitiver Selbstverletzung als ein Verhalten mit Suchtcharakter interpretieren.

Therapie

Die Selbstverletzung ist als ein archai- sches Aktionsmuster aufzufassen, das simultan mehrere Zwecke erfüllen kann. So befreit der autoaggressive Akt von einem inneren psychischen Druck und trägt den Selbstansprüchen auf Kosten des in der Depersonalisati-

on verdinglichten Körpers Rechnung.

Nicht ein Motiv steht hinter dem Akt der Selbstverletzung, sondern ein ganzes Motivbündel aus bewussten und unbewussten Anteilen, das nur künstlich in einzelne Zwecke auflös- bar ist. Selbstverletzung kann als ein auf der vorsprachlichen Ebene ange- siedelter Akt der Symbolisierung an- gesehen werden.

Selbstverletzendes Verhalten ist ei- ne der kompliziertesten Problemver- haltensweisen in der therapeutischen Arbeit der Kinder- und Jugendpsy- chiatrie. Grundlage jeder therapeuti- schen Aktivität ist die Herstellung ei- ner sicheren und tragfähigen Bezie- hung. Das Therapieprogramm ist mul- timodal und umfasst psychotherapeu- tische und pharmakotherapeutische Maßnahmen. Verhaltenstherapeuti- sche und/oder tiefenpsychologisch ori- entierte Ansätze zur Traumabewälti- gung und Förderung des Abbaus des selbstverletzenden Verhaltens werden durch supportive und familienzen- trierte Vorgangsweisen ergänzt.

Medikamentöse Therapieversuche, vor allem mit serotoninergen Antide- pressiva können erfolgreich sein.

Auch Neuroleptika und Lithiumionen sind wiederholt angewandt worden.

Systematische Untersuchungen zur Bestätigung der offenen Fallstudien im Kinder- und Jugendbereich wären wünschenswert. Grundsätzlich ist zu betonen, dass die Therapie selbstver- letzender Verhaltensweisen in die Hand eines erfahrenen fachärztlichen Therapeuten gehört, der der Komple- xität der zugrundeliegenden Störungs- muster umfassend Rechnung tragen kann. In schwierigen Fällen muss die therapeutische Verantwortung auf ein stationäres Team übertragen werden.

Klare Grenzensetzung, Gestaltung von Erlebnis- und Erfahrungsräumen, sowie kontingente Verhaltensantwor- ten des koordinierten Teams sind not- wendig. Ein Verständnis für die Selbstfürsorge der Patienten und die Reinszenierungsmechanismen kann helfen, die eigene Betroffenheit zu überwinden.

Nicht durch empathische Einfüh- lung allein, sondern nur durch eine professionelle therapeutische Haltung kann die tragfähige Beziehung im Sin-

(6)

ne einer therapeutischen Bindung ge- staltet werden. Selbstverletzendes Ver- halten ist in hohem Maße beziehungs- gefährdend: Der Therapeut fühlt sich immer wieder in die Enge getrieben, hintergangen, brüskiert und ent- täuscht. Die Beziehung zum selbstver- letzenden Patienten muss immer wie- der neu stabilisiert werden, um eine Kontinuität trotz vielfacher Ein- brüche und Einschnitte aufrecht zu er- halten. Vor dem Hintergrund einer so gestalteten Beziehung gilt es die Akti- onssprache der Selbstverletzung in zwischenmenschliche Wortsprache zu übersetzen und gemeinsam mit dem Patienten neue Kommunikationsfor- men zu erschließen.

Vor einer Erarbeitung der traumati- schen Vergangenheit ist es notwendig, eine kurz- und mittelfristige Perspek- tive gemeinsam mit den Jugendlichen herzustellen. Erst in der Geborgenheit einer sicheren Gegenwart und im Hin- blick auf eine realistische Zukunfts- planung soll schließlich die langsame fürsorgliche Aufarbeitung biographi- scher Traumen beginnen. Dieser Re- konstruktions- und Integrationspro- zess braucht Geduld, einen langen Atem und eine therapeutische Be- scheidenheit, die den Jugendlichen nicht überfordert. Therapiekonzepte zur Behandlung von Borderline-Pati- enten sind bei der Behandlung selbst- verletzender Jugendlicher hilfreich.

Nicht vergessen werden darf, dass sol- che Patienten, eine personale Würde und Fürsorge auf Kosten ihres Kör- pers aufrechterhalten, eines Teils ihrer Person also, der in ihrem Leben zu- meist bereits schicksalhaft von ande- ren instrumentalisiert worden war.

Wir danken der Körberstiftung Hamburg für die freundli- che Unterstützung unserer Arbeit.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 2266–2271 [Heft 36]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Franz Resch Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie Universität Heidelberg

Blumenstraße 8 69115 Heidelberg

Bei übergewichtigen Personen mit ge- störter Glucosetoleranz entwickelt sich langfristig häufig ein manifester Diabetes mellitus Typ 2. Ob sich dies durch Änderung der Lebensführung beeinflussen lässt, war Thema einer finnischen Interventionsstudie.

522 übergewichtige Personen mitt- leren Alters mit einem BMI von im Mittel 31 und bereits eingeschränkter Glucosetoleranz wurden randomisiert einer Interventions- beziehungsweise einer Kontrollgruppe zugeordnet. Die Interventionsgruppe wurde individu- ell mit dem Ziel beraten, das Körper- gewicht zu reduzieren, die Gesamt- fettaufnahme und die Zufuhr gesättig- ter Fettsäuren zu vermindern, die Bal- laststoffzufuhr zu erhöhen und sich vermehrt körperlich zu bewegen. Als Zeichen einer erfolgreichen Interven- tion konnte in der Interventionsgrup- pe eine Gewichtsabnahme von 4,2 kg

im ersten Beobachtungsjahr gegen- über 0,8 kg in der Kontrollgruppe fest- gestellt werden. In der Nachbeobach- tungsphase von 3,2 Jahren kam es in der Kontrollgruppe bei 23 Prozent zu einem klinisch manifesten Diabetes mellitus, hingegen war dies nur bei elf Prozent der Patienten der Interventi- onsgruppe der Fall. Somit ließ sich nach Ansicht der Autoren eindrucks- voll demonstrieren, dass eine Ände- rung der Lebensführung bei Adiposi- tas das Erkrankungsrisiko für Typ-2- Diabetes-mellitus signifikant senken

kann. acc

Tuomilehto J et al.: Prevention of type 2 diabetes melli- tus by changes in lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance. N Eng J Med 2001; 344: 1343–1350.

Prof. Tuomilehto, National Public Health Institute, De- partment of Epidemiology and Health Promotion, Diabe- tes and Genetic Epidemiology Unit, Mannerheimintie 166, Fin-00300 Helsinki, Finnland.

Diabetes-Prävention durch Änderung der Lebensführung

Referiert

Patienten mit transfusionsbedingter Hepatitis C vervielfachen durch über- mäßigen Alkoholkonsum das gegen- über anderen transfusionsbedingten Hepatitiden bereits vergrößerte Risi- ko, eine Leberzirrhose zu entwickeln.

Die Ergebnisse einer retrospektiven Studie, die an mehreren amerikani- schen Leberzentren durchgeführt wur- de, erlauben es, die jeweiligen Risiken genauer zu definieren: So betrug das absolute Risiko für Patienten mit He- patitis C, eine Leberzirrhose zu ent- wickeln, 17 Prozent und war damit, verglichen mit 3,2 Prozent für Patien- ten mit Non-A-, Non-B-, Non-C-He- patitis und 2,8 Prozent in der Kontroll- gruppe, deutlich erhöht. Alkoholismus allein führt viermal häufiger zu Leber- zirrhosen – in Kombination mit einer transfusionsbedingten Hepatitis C er- gab sich jedoch eine drastische Ver- größerung des Zirrhoserisikos: Die Odds-Ratio von 7,8 stieg im Vergleich zu den Kontrollfällen ohne Alkohol-

missbrauch auf 31,1 an. Inwieweit die erhobenen Daten bezüglich des per- sönlichen Alkoholkonsums realistisch sind, lässt sich nachträglich nicht mehr kontrollieren, so die Autoren, und es könne davon ausgegangen werden, dass die hier vorgestellten Risiken im- mer noch zu niedrig seien. Gerade des- wegen aber sollten Patienten, die sich durch Transfusionen mit dem Hepati- tis-C-Virus infiziert haben, ausführlich bezüglich ihrer Trinkgewohnheiten be-

raten werden. goa

Harris D Robert et al.: The relationship of acute transfu- sion-associated hepatitis to the development of cirrhosis in the presence of alcohol abuse. Ann Intern Med 2001;

134: 120–124.

D. Robert Harris, Westat, 1650 Research Boulevard, Rockville MD 20850, USA.

Zirrhoserisiko transfusionsbedingter Hepatitiden und Alkoholmissbrauch

Referiert

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