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Archiv "Was ist eigentlich Praxis" (03.09.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Was ist eigentlich Praxis

Prof. Dr. phil. Herbert Stachowiak ist Philosoph mathema- tisch-naturwissenschaftlicher Herkunft. Entscheidungs- und Handlungstheorie der Medizin ist eines seiner Arbeitsge- biete. Epistemologisch argumentiert er auf der Grundlage des unauflösbaren Zusammenhanges von Erkenntnistheo- rie und Ethik. Er gilt als deutscher Hauptvertreter des Systematischen Neopragmatismus.

EI

s ist unbestritten, daß die gegenwär- tige Medizin in Forschung, Lehre und Praxis eine bemerkenswerte Po- larisierung erfährt. Einerseits wächst die Perfektion ihrer naturwissen- schaftlich-technischen Methoden und erfährt sie eine offenbar unaufhaltsame Spezialisierung — an- dererseits wird der Ruf nach übergreifenden, inte- grativen und ganzheitlichen Betrachtungs- und Vorgehensweisen immer lauter. Diese Dichotomi- sierung kann dem humanen Fortschritt der Medi- zin nicht dienlich sein. Sie erschwert vor allem dem Praktiker, auf dessen sichere und schnelle Hilfe der Patient angewiesen ist, seine verantwortungs-

volle Tätigkeit. Gibt es einen Weg, der jene kon- troversen Tendenzen wieder zusammenführen, sie womöglich auf einem höheren Fortschrittsniveau der ärztlichen Wissenschaft und Kunst füreinander zum Tragen bringen kann? Eine medizinphiloso- phische Antwort auf diese Frage soll hier in An- knüpfung an den klassischen Praxisbegriff versucht werden.

Herkunft und Geschichte des Praxisbegriffs

„Praxis" („neöe,g") meint im altgriechi- schen Sprachgebrauch den ganzen Umkreis des Handelns einschließlich der Handlungswirkung (9). Ärztliche Praxis war schon bei Homer, später deutlicher bei Hippokrates, „heilende Kunst", die auf Grund richtiger Symptomeinschätzung schnell prognostiziert und „zum Nutzen der Leidenden"

(3) schnelle Therapie-Entscheidungen trifft. Zu- grunde liegt dabei das Steuermanns-Modell, die klassische Idee des „kybern6tes" ( „wu - (3EevAtrig"), der in „feedback-loops" den jeweili- gen Ist-Zustand gegen Störungen dem vorgegebe- nen, in Grenzen variierbaren Soll-Zustand an- gleicht (6).

Dieses dynamisch-adaptive Seins-Sollens-Ge- füge ging schon mit Aristoteles verloren. Rein be- trachtende „Theorie" wurde beherrschend, Praxis von ihr als lediglich mittelbezogenes Herstellen oder als klugheitsgeleitetes Handeln abgetrennt.

Ärztliche Praxis

Mit „ärztlicher Praxis" kann Unterschied- liches gemeint sein. Oft nennen wir „Praxis" ein- fach die Arbeitsräume des niedergelassenen Arz- tes (niederlassen = eine Praxis eröffnen) oder auch nur seinen Patientenkreis, manchmal nur sei- ne Sprechstunde. Solche Äquivokationen sind un- schädlich, da der Verwendungszusammenhang des Wortes dessen Bedeutung bestimmt

Unter „ärztlicher Praxis" ist aber auch die systematisch erworbene berufliche Fertigkeit des Arztes zu verstehen, das heißt seine verläßliche Fä- higkeit der sicheren Diagnose, des richtigen „Sub- sumtionsschlusses" vom Befund auf das je relevante prognostische Regelwissen, der sicheren therapeu- tischen Konzeption und der erfolgreichen, kontrol- lierten Therapie. Es ist meine These, die ich im letz- ten Abschnitt erläutern möchte, daß diese Fertigkeit Dt. Ärztebl. 84, Heft 36, 3. September 1987 (45) A-2313

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auf dem Niveau heutigen medizinischen Wissens zum kybernetischen Systemdenken zurückfinden muß. Homöostatische Normalität (2) als Behand- lungsziel kann nur aus der Einheit von Ganzheit und Exaktheit begriffen werden.

Praxis im „systemic approach"

Im „systemischen Ansatz" (4) bildet der Arzt zwar das von ihm betrachtete und zu beeinflussen- de „Original"-geschehen auf meist hoch selektive

„Modelle" (5) ab, durch die er sich die Wirklich- keit gedanklich operabel macht (7, 8). Aber er fügt diese Modelle übergreifenden Systemzusammen- hängen ein, die bedarfsweise über die Systemer- weiterungen seines eigenen Faches hinaus auch an- grenzende Fächer, ja, Wissensbestände psycholo- gischer und soziologischer Art berücksichtigen. So wird in diesem Denkansatz ärztliche Intuition sy- stematisch-analytisch gestützt, werden Kausalzu- sammenhänge kontrollierbar, Modelloperationen planbar, Maßnahmen bewertbar. Es ist ein Sy- stem-Holismus (1), der unsere „Enge des Bewußt- seins" nicht überfordert.

Gute ärztliche Praxis war stets Praxis auf der Grundlage der Einsicht in übergeordnete System- zusammenhänge. Hier war Entscheidendes verlo-

rengegangen. Es ist wichtig, daß wir unter Ver- wendung der Errungenschaften moderner Wissen- schaft den Weg zum exakten Holismus der altgrie- chischen Steuermannskunst zurückfinden.

Literatur

1. Gross, R.; Medizinischer Holismus. Dt. Ärztebl. 83 (1986), 1 2. Gross, R.: Wichmann, H. E.: Was ist eigentlich normal? Med.

Welt 30 (1979), 3

3. Lang, E.: Der Kybernetesbegriff bei Homer. In: Staehowiak, H. (Hrsg.), Pragmatik. Bd. I: Pragmatisches Denken von den Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert, Hamburg, Meiner (1986), 77

4. Rapoport, A.: Der „Systemic Approach" — eine pragmatische Bewegung. In: Stachowiak, H. (Hrsg.), Pragmatik. Bd. II: Der Aufstieg pragmatischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg, Meiner (1987), 359

5. Stachowiak, H.: Allgemeine Modelltheorie, Wien—New York, Springer (1973)

6. Stachowiak, H.: Rezente Gedanken zur Kybernetik. grgk/Hu- mankybernetik 23 (1982), 95

7. Stachowiak, H.: Medizin als Handlungswissenschaft. In: Gross, R. (Hrsg.), Modelle und Realitäten in der Medizin, Stuttgart — New York, Schattauer (1983), 7

8. Stachowiak, H.: Medicine and the Paradigm of Neo-Pragma- tism. A Contribution to Medical Decision Theory. Theory and Decision 21 (1986), 189

9. Stachowiak, H.: PRAGMATIK: ein neues Gemeinschafts- werk. In: Stachowiak, H. (Hrsg.), Pragmatik. Bd. I: Pragmati- sches Denken von den Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert, Hamburg, Meiner (1986), XIX.

Em. o. Univ.-Prof. Dr. phil.

Herbert Stachowiak

Taubenweg 11, 4790 Paderborn

KONGRESSNOTIZ

Jodmangel verstärkt die Strahlenexposition

Beim 6. Wiesbadener Schilddrü- sengespräch berichtete F. Kollmann von der Universitätskinderklinik in Frankfurt, daß es nach dem Reaktor- unfall in Tschernobyl zu einer er- staunlich schnellen inhalativen und später nutritiven Aufnahme von ra- dioaktivem 131-Jod bei 52 zufällig ausgewählten Kindern im Alter von 9 Monaten bis 16 Jahren im Rhein- Main-Gebiet gekommen ist. Die höchsten Radioaktivitätswerte in der Schilddrüse betrugen bis zu 300 Bq. Die Gesamt-Strahlenexposition lag zwischen 100 und 200 mrem mit Spitzenwerten von über 300 mrem.

Nach Auffassung des Sprechers des Arbeitskreises Jodmangel, Prof.

D. Hötzel, Bonn, wäre ein beträcht- A-2314 (46) Dt. Ärztebl. 84, Heft 36,

licher Teil der aufgetretenen Strah- lenexposition bei ausreichender Jod- versorgung der Bevölkerung zu ver- meiden gewesen. Die Reaktorka- tastrophe von Tschernobyl sollte ein Ansporn sein, den im Hinblick auf die Jodversorgung bestehenden Sta- tus der Bundesrepublik als Entwick- lungsland zu beseitigen, statt pau- schal vor Jodtabletten zu warnen, wenn nur die sogenannten „Reak- tor-Jodtabletten" mit einem Jodge- halt von 100 mg und nicht die zur Jodprophylaxe neben jodiertem Speisesalz empfohlenen Jodid-Ta- bletten mit einem 1000fach geringe- ren Jodgehalt gemeint waren. Denn als Anpassung an den Jodmangel ha- ben im Mittel bis zu 60 Prozent der Kinder und bis zu 19 Prozent der Er- wachsenen nach von R. Gutekunst, Universität Lübeck, beim 6. Wies- badener Schilddrüsengespräch vor- getragenen Untersuchungsergebnis- sen in allen Teilen der Bundesrepu- blik fast doppelt so große Schilddrü- sen als normal.

Es verwundert daher nicht, daß durch die hohe Inzidenz der endemi- 3. September 1987

schen Jodmangelstruma und ihrer vielfältigen Folgekrankheiten, so der als Fehlanpassung auftretenden thyreoidalen Autonomie, über die G. Hintze, Wuppertal, berichtete, in der Bundesrepublik Kosten für Dia- gnostik und Therapie von Schilddrü- senkrankheiten von jährlich etwa ei- ner Milliarde DM entstehen, wäh- rend die Prophylaxe und auch die Therapie mit Jod eine der billigsten und erfolgreichsten Maßnahmen ist.

Im Rahmen des 6. Wiesbadener Schilddrüsengesprächs appellierte der Arbeitskreis Jodmangel an die Ärzte, die Patienten über die Jod- mangelsituation in der Bundesrepu- blik aufzuklären und neben der Ver- wendung jodierten Speisesalzes bei Risikogruppen wie Kindern, Heran- wachsenden und Schwangeren die Einnahme von Jodid-Tabletten mit einer physiologischen Jodmenge von 100 .tg zu empfehlen.

Professor Dr. med.

Peter Pfannenstiel

Deutsche Klinik für Diagnostik Aukammallee 33, 6200 Wiesbaden

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