DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Aktuelle Politik
Ein hoher (politischer) Beamter des Bun- desarbeitsministeriums hat zur Treibjagd auf die Kassenärzte geblasen; ein maßgeb- licher Sprecher der Ortskrankenkassen blus das Echo. Ward so die erste „Schlepp- netzfahndung" im Bundesgebiet eingelei- tet? Hat man sich von nun an so die Jagd nach „Schwerstverbrechern" vorzustellen, zu welchen die Berufsgruppen der Kassen- ärzte, Zahnärzte und Apotheker von der
Spitze des Arbeitsministeriums und der Ortskrankenkassen gestempelt wurden?
Desavouierung, Diffamierung, Kriminalisie- rung aller Kassenärzte — diese Worte sind nicht zu stark, um alles das zu charakterisie- ren, was im Vorfeld der jüngsten „Konzer- tierten Aktion im Gesundheitswesen" das Verhältnis zwischen der Kassenärzteschaft und dem Bundesarbeitsministerium bela- stete und den sozialen Frieden gefährdete.
D
er Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung" (im Auftrag, gezeichnet: Jung) hat im Januar klammheimlich den Anfang gemacht und an den Bundesminister der Justiz —„Betr.: Abrechnungsmanipula- tionen bei Honoraren und Arz- neimittelabgaben zu Lasten der GKV" — ein Schreiben gerichtet, in dem er u. a. die Einrichtung von „Sonderkommissionen" zur Strafverfolgung von „Straftaten dieser Berufsgruppen", also auch der Gesamtheit der Kas- senärzte, anregte. Fast zwei Schreibmaschinenseiten füllt die Liste der Stellen, die der Bundesarbeitsminister von die- ser Initiative informierte. Weder die Kassenärztliche Bundesver- einigung noch eine Kassenärzt- liche Vereinigung findet sich darunter; sie haben erst nach Wochen aus den Bundesländern von diesem Brief erfahren.
In Ministerialdirektor Jungs Brief ein bezeichnender Satz: „Die Ef- fektivität und die notwendige Ak- zeptanz von Gegenmaßnahmen werden jedoch wesentlich davon abhängen, daß Art und Umfang der Betrügereien bundesweit nachgewiesen werden." Die Treibjagd, die Schleppnetzfahn- dung sollen also erst einmal et- was „beweisen", was als mini- sterielle Vorverurteilung im sel- ben Schreiben pauschal unter-
Energischer Protest
gegen falsche Verdächtigung Die Ärzte
wehren sich
stellt wird, nämlich, „daß der tat- sächliche Schadensumfang über den bisher festgestellten Schaden beträchtlich hinaus- geht und bundesweit zu erheb- lichen finanziellen Einbußen der gesetzlichen Krankenversiche- rung führt", und daß sich in den
„bereits vorliegenden Unterla- gen" (?) eine „erhebliche Sozial- schädlichkeit" zeige.
• Die Kassenärzte und ihre Or- ganisationen sind nicht geson- nen, solche falsche Verdächti- gung hinzunehmen. In einem auf die Gesamtproblematik einge-
henden Brief an Bundesminister Dr. Norbert Blüm ließ Professor Häußler vorweg keine Zweifel daran, „daß die Kassenärzt- lichen Vereinigungen nachge- wiesenen Betrug durch Abrech- nung nicht erbrachter ärztlicher Leistungen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln scharf ahnden. Dies heißt, bei gröblicher Verletzung kassen- ärztlicher Pflichten, welche den Kassenarzt zur Ausübung kas- senärztlicher Tätigkeit ungeei- gnet machen, wird die Entzie- hung der Zulassung gemäß § 368 a Abs. 6 RVO veranlaßt."
Das steht nur deshalb nicht täg- lich in der Zeitung, weil „Betrü- gereien" eben nicht alltäglich sind, sondern nur vereinzelt vor- kommen, wie sich gerade auch im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe er- weist, wo einzelne Staatsanwälte und Kassenfunktionäre von vie- len hunderten Betrugsfällen sprachen, während es in Wirk- lichkeit nur wenige waren.
Angesichts der zahlreichen ein- gestellten Ermittlungsverfahren rückte Häußler gegenüber dem Minister die Größenordnung des aus „Abrechnungsmanipu- lationen" resultierenden Scha- dens zurecht, der eindeutig zu Lasten der Gemeinschaft der Kassenärzte geht. Häußler:
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 12 vom 19. März 1986 (21) 773
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Die Ärzte wehren sich
„Die Behauptung, zur ,Siche- rung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversi- cherung' müßten dringend Ab- wehrmaßnahmen ergriffen wer- den, ist daher falsch." Prof.
Häußler wies den Arbeitsmini- ster auch darauf hin, daß von der Staatsanwaltschaft unter dem Vorwurf „Honorarbetrug"
Sachverhalte subsumiert wer- den, die entweder gefestigtem Kassenarztrecht oder Abspra- chen der Vertragspartner ent- sprechen, und daß die Staats- anwaltschaft sogar soweit geht, unzulässigerweise in die Kom- petenz der KVen einzugreifen.
Häußler: „Auslegungen von Ab- rechnungsfragen gehören in die gemeinsame Kompetenz der Vertragspartner; im Streitfall entscheidet die Sozialgerichts- barkeit. Erst wenn Betrug vor- liegt, ist die Strafverfolgungsbe- hörde gefordert."
Auch die Vertreterversammlung der KV Westfalen-Lippe hat erst jüngst wieder betont, daß sie zum Schutze aller korrekt ab- rechnenden Kolleginnen und Kollegen wie alle KVen „von sich aus die disziplinarisch, zulas- sungsrechtlich sowie berufs- rechtlich gebotenen Maßnah- men in die Wege leitet, um Be- trüger aus ihren Reihen auszu- schließen". Die Vertreterver- sammlung hat sich indes mit gleichem Nachdruck gegen pau- schale Verunglimpfungen und Verdächtigungen der gesamten Kassenärzteschaft verwahrt.
• Der Vorsitzende der KV West- falen-Lippe, Dr. med. Ulrich Oesingmann, dazu: „Meine Kri- tik bezieht sich ...nur auf einzel- ne Staatsanwälte, die sich inzwi- schen durch verschiedene Äuße- rungen selbst dem Vorwurf aus- gesetzt haben, ihren Amtspflich- ten nicht mehr mit der notwendi- gen Objektivität und Beschrän- kung auf die eigenen Zuständig- keiten nachzukommen."
Solche Tendenzen werden durch Rundbriefe wie den des
Bundesarbeitsministers natür- lich noch angeheizt, wie auch durch den inzwischen nachge- schobenen Vorschlag des Vor- standsvorsitzenden des Bundes- verbandes der Ortskrankenkas- sen, Wilhelm Heitzer, in jedem Bundesland „Schwerpunkt- staatsanwaltschaften" zu bilden.
„Weit haben wir's gebracht", konstatierte der bayerische KV- Vorsitzende, Professor Dr. med.
Dr. h. c. Hans Joachim Sewe- ring: „60 000 Kassenärzte, 29 500 Zahnärzte und 31 000 Apotheker werden als potentielle Straftäter abgestempelt, . . . als eine Gruppe mit gehäufter Krimi- nalität, für die das Normalmaß der Strafverfolgung nicht mehr ausreicht."
• Auch die Forderung des von der Gewerkschaftsseite nomi- nierten Vorsitzenden des AOK- Bundesverbandes weist Sewe- ring auf das schärfste zurück:
„Es gibt keinerlei Rechtferti- gung dafür, die Kassenärzte un- ter eine ,Sonderfahndung` zu stellen. Heitzer hat durch diese Forderung der seit Jahren beste- henden vertrauensvollen Zusam- menarbeit zwischen den Kassen- ärzten und den Allgemeinen Ortskrankenkassen einen schweren Schaden zugefügt".
Mit einer einstimmig verab- schiedeten Resolution hat die Vertreterversammlung der KV Niedersachsen die Empfehlung des Bundesarbeitsministers zur Einrichtung von Sonderkom- missionen ebenfalls empört zu- rückgewiesen: „Auch einzelne Betrugsfälle von Kassenärzten rechtfertigen nicht die Diskrimi- nierung aller Kassenärzte. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben nach der Reichsversi- cherungsordnung selbst für Recht und Ordnung unter den Kassenärzten zu sorgen und kommen dieser Verpflichtung mindestens ebenso nach wie andere staatliche Organe und Körperschaften ihren Pflich- ten."
Das gilt selbstverständlich für alle KVen, auch für die KV Ham- burg, aus der hier beispielhaft ein „Fall" geschildert wird: Mit monatelanger Verzögerung hat sie von der Anzeige des Ge- schäftsführers der Betriebskran- kenkasse Hoesch (Dortmund) bei der Staatsanwaltschaft Ham- burg gegen einen einzelnen Kas- senarzt „wegen Betrugsver- dachts" in einem einzigen Ab- rechnungsfall erfahren. Der Hamburger KV-Vorsitzende, Dr.
Klaus Voelker: „Ich bin entsetzt, mit welcher Leichtfertigkeit ein Bediensteter der BBK Hoesch ei- ne solche Anzeige erstattet . Was für ein Arztbild hat eigent-
lich der Bedienstete einer sol- chen Krankenkasse?" Offenkun- dig hat es sich hier nur um eine versehentliche Abrechnung tat- sächlich erbrachter oder veran- laßter Leistungen auf einem fal- schen Formular gehandelt! Ein
„klassischer Fall" — aber nicht von Betrug! Ein solcher Fehler wird normalerweise zwischen Krankenkasse, Kassenärztlicher Vereinigung und Kassenarzt ge- klärt und berichtigt.
• Wenn in Zukunft Krankenkas- sen-Bedienstete bei jeder Ab- rechnungsdiskrepanz ähnlich leichtfertig von „Betrug" spre- chen und Anzeige erstatten wür- den, dann könnte sich die KV ge- zwungen sehen, wie Dr. Voelker
betont, Strafanzeige gemäß
§ 164 StGB wegen falscher Ver- dächtigung zu erstatten.
Gerade von einzelnen Kassen und einzelnen Staatsanwälten aus dem Raum Dortmund/Bo- chum sind Fälle solch minderer Wertigkeit so hochgespielt wor- den, daß sie — obgleich in ihrer Mehrzahl längst „abgelegt" — dem Bundesarbeitsministerium nun Anlaß gaben, die deutschen Kassenärzte insgesamt zu krimi- nalisieren. Ein in der Rechtsge- schichte der Nachkriegsdemo- kratie einmaliger Vorgang, den der Vorsitzende des Hartmann- bundes, Prof. Dr. Horst Bourmer, Anfang März dem Bundeskanz-
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Die Ärzte wehren sich KURZBERICHTE
ler unterbreitet und ihn darauf aufmerksam gemacht hat, wie sehr sich die Ärzte in Praxis und Krankenhaus, die täglich Ein- satzbereitschaft und Pflichtbe- wußtsein beweisen, tief in ihrer Berufsehre verletzt, aber auch von einem politischen Stil der Verunglimpfung abgestoßen fühlen.
• Dabei geht es nicht darum, daß der Bundesarbeitsminister oder die Bundesregierung ei- nen Mißbrauch sozialer Leistun- gen etwa „hinnehmen" sollen:
Gefragt sind indes Bundesar- beitsminister Dr. Blüm und Bundeskanzler Dr. Kohl nach ihrer Bewertung der — wie der Hartmannbund unterstreicht: —
„durch nichts begründete(n) Pauschalverdächtigung der deutschen Kassenärzte durch einen hohen Beamten im Bun- desministerium für Arbeit und Sozialordnung".
Die Kassenärzte sind es jeden- falls leid — so schrieb in der Vor- woche auch der Vorsitzende der KV Nordrhein, Dr. Rolf Thier, an den Arbeitsminister des Landes Nordrhein-Westfalen —, fortge- setzt pauschale, ja zum Teil un- geheuerliche Diffamierungen hinzunehmen. Dr. Thier wieder- holte das Angebot, dem Versi- cherten umfassend Kosten- kenntnis zu vermitteln.
Ein solches Transparenzange- bot hatte die KV Nordrhein schon vor zwei Jahren dem Orts- krankenkassenverband Rhein- land unterbreitet, der es aus Ko- stengründen ablehnte.
Dr. Thier: „Unser Angebot, auch unsere Abrechnungen offen auf den Tisch zu legen, soll dazu beitragen, daß man uns Kassen- ärzte nicht weiter in Form einer ,Schleppnetzfahndung' des- avouiert und kriminalisiert". Man darf darauf gespannt sein, wie die nordrheinischen Kranken- kassen auf den Vorschlag der Offenlegung aller Ausgaben rea- gieren. roe
Medizinische
Orientierungsdaten sind überfällig
Realistische und realisierbare Ge- sundheitspolitik darf sich nicht, wie bisher, in erster Linie an wirt- schaftlichen und finanzpolitischen Daten orientieren, sondern muß sich maßgeblich an den sich rasch ändernden medizinischen, sozia- len und demographischen Gege- benheiten ausrichten. Dazu ist es erforderlich, endlich den bereits seit 1977 bestehenden Gesetzes- auftrag gemäß § 405 a der Reichs- versicherungsordnung (RVO) zu vollziehen, der der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen auf- erlegt, auch und in erster Linie medizinische Orientierungsdaten bei den Empfehlungen für die Fortentwicklung im Gesundheits- wesen zu berücksichtigen. Daran erinnerte der Präsident der Bun- desärztekammer, Dr. Karsten Vil- mar (bei einem berufspolitischen Kolloquium während des 34. Inter- nationalen Fortbildungskongres- ses der Bundesärztekammer am 5.
März in Davos).
Eine Gesundheitspolitik, die zu- nächst oder ausschließlich nach den Kosten und dann erst nach dem medizinischen Notwendigen fragt, sei zutiefst inhuman, stellte Vilmar fest. Gleichwohl müsse darauf geachtet werden, daß die Leistungen des Gesundheitswe- sens auch in Zukunft bezahlbar bleiben. Dafür sei es erforderlich, stärker als bisher zwischen eige- ner Vorsorge und Inanspruchnah- me der Solidargemeinschaft zu trennen. Der einzelne müsse mehr Entscheidungsfreiheit bei der Wahl des Versicherungsträgers und des individuell gestaltbaren Versicherungsschutzes erhalten.
Große Erwartungen knüpft der Präsident der Bundesärztekam- mer an die Arbeit des neuberufe- nen Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion. Allerdings dürfe die Beratertätigkeit nicht von vornherein auf eine „gesund-
heitsökonomische Schiene" ge- hoben werden, so daß die medizi- nische Betrachtung vernachläs- sigt wird. Eine Input-Output-Analy- se, wie sie im industriellen Sektor angewandt wird, wird den Erfor- dernissen des Gesundheitswesens nicht gerecht. Heilung, Linderung und Verbesserung der subjektiven Lebensqualität infolge des medizi- nischen, aber auch medizinisch- technischen Fortschritts ließen sich ebensowenig in Heller und Pfennig bewerten wie eine huma- ne Betreuung von Totkranken und Sterbenden.
Fortschrittliche Gesundheitspoli- tik dürfe sich nicht an utopischen Zielen orientieren, betonte Vilmar.
Wer das hochgesteckte Gesund- heitsziel der Weltgesundheitsor- ganisation („vollkommene physi- sche und psychische Gesundheit und soziales Wohlbefinden") zum Maßstab nehme und weiter aus dem sozialen Füllhorn austeilen wolle, schüre unerfüllbare Hoff- nungen. Die dadurch angeheizte Anspruchsinflation müsse zur Un- zufriedenheit führen. Die Ärzte- schaft könne zudem die aus einer Anspruchsinflation erwachsenden Kostenschübe nicht abwehren.
Vilmar warnte vor einer politi- schen Orientierung des Gesund- heitswesen, wie sie in dem soeben veröffentlichten Sozialprogramm der SPD und in den Forderungen der Krankenkassen nach einer starren Budgetierung der Kassen- ausgaben zum Ausdruck komme.
Verbindliche Ausgabenhöchst- grenzen für die einzelnen Lei- stungsbereiche würden jede be- darfsgerechte, patientenorientier- te und an den medizinisch-wissen- schaftlichen Erkenntnissen und technischen Möglichkeiten ausge- richtete medizinische Versorgung unmöglich machen. In den ver- staatlichten Gesundheitssystemen Großbritanniens und Kanadas bei- spielsweise haben zentrale Bud- getierungen nicht zur gewünsch- ten Kostendämpfung geführt, son- dern eher eine dirigistische Zutei- lung und Begrenzung sozialer Lei- stungen bewirkt. HC Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 12 vom 19. März 1986 (23) 775