Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III Universitätsklinikum Ulm
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer
Therapie und Outcome
des Malignen Neuroleptischen Syndroms auf der Basis einer systematischen Fallanalyse
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm
Lilli Esther Kuhlwilm Geb. Hiesener Aus Braunschweig
Ulm 2020
Amtierender Dekan: Prof. Dr. Thomas Wirth
1. Berichterstatter: Prof. Dr. Carlos Schönfeldt-Lecuona 2. Berichterstatter: PD Dr. Jan Wagner
Tag der Promotion: 08.07.2021
Daten aus dieser Dissertation sind veröffentlicht in folgender Publikation:
Kuhlwilm L, Schönfeldt-Lecuona C, Gahr M, Connemann BJ, Keller F, Sartorius A. The Neuroleptic Malignant Syndrome - A systematic case series analysis focusing on therapy regimes and outcome. Acta Psych Scand 2020; 142: 233–241 [66].
https:// doi.org/10.1111/acps.13215
Copyright: Die Autoren, lizenziert unter CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.
III
Inhalt
Inhalt ... III Abkürzungsverzeichnis ... IV
1. Einleitung ... 1
1.1. Epidemiologie ... 1
1.2. Risikofaktoren ... 1
1.3. Auslöser ... 1
1.4. Pathophysiologie ... 2
1.5. Definition ... 2
1.6. Diagnostik ... 5
1.7. Auftreten und Dauer ... 5
1.8. Komplikationen ... 6
1.9. Therapie ... 6
1.10. MNS-Therapieleitlinien ... 8
1.11. Aktuelle Evidenzlage der MNS-Therapie ... 10
1.12. Zielsetzung ... 11
2. Methoden... 12
2.1. Studiendesign ... 12
2.2. Suchstrategie ... 12
2.3. Statistik ... 17
3. Ergebnisse ... 19
3.1. Ergebnisse der Fallrecherche ... 19
3.2. Ergebnisse der statistischen Auswertung ... 19
3.3. MNS-Fallserien mit Bezug zu Therapie und Outcome... 34
4. Diskussion ... 36
4.1. Hinführung zum Thema ... 36
4.2. Beantwortung der Fragestellung ... 36
4.3. Ergebnisse aus anderen MNS-Fallserien ... 38
4.4. Weitere Ergebnisse der Fallserienanalyse ... 46
4.5. Stärken und Limitationen ... 53
4.6. Ausblick und Hypothesen ... 55
5. Zusammenfassung ... 57
6. Literaturverzeichnis ... 59
Anhang ... 71
Danksagung ... 77
Lebenslauf ... 78
IV
Abkürzungsverzeichnis
ANOVA Analysis of variance
AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
CK Kreatinkinase
DatScan Dopamine Transporter single photon emission computerized tomography
DGAI Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V.
DGPPN Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie undPsychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
DSM-IV/-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, forth/fifth edition
EEG Elektroenzephalogramm
EKT Elektrokonvulsionstherapie
EPS Extrapyramidalmotorische Störung
ICD-10 International Statistical Classification of Deseases and Related Health Problems, 10th revision
I.M. Intramuskulär
I.V. Intravenös
KI Konfidenzintervall
MNS Malignes Neuroleptisches Syndrom
N Anzahl
OR Odds Ratio
P.O. Per os (oral)
RCT Randomized controlled trial WHO World Health Organisation
1
1. Einleitung
Das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) ist ein seltenes, akut lebensbedrohliches neuropsychiatrisches Krankheitsbild, welches in den meisten Fällen mit der Einnahme von Antipsychotika assoziiert ist. Es geht mit den Hauptsymptomen Rigor, Fieber, Bewusstseinsstörung und autonome Dysfunktion einher. Das Syndrom wurde erstmals 1956, kurz nach der Entdeckung des ersten Antipsychotikums Chlorpromazin, durch Frank J. Ayd und 1960 durch Delay et al. beschrieben [17, 35].
1.1. Epidemiologie
Die Inzidenz des MNS bei Patienten mit antipsychotischer Medikation beträgt 0,01 – 1,4%
[24, 59, 82, 95, 120]. Die Mortalität wird in der Fachliteratur mit Werten zwischen 5 – 22%
angegeben, die Tendenz ist abnehmend, da das Syndrom unter atypischen Antipsychotika (Antipsychotika der zweiten und dritten Generation) deutlich seltener ist [102, 112, 113].
Das MNS tritt in allen Altersklassen auf, wobei das durchschnittliche Erkrankungsalter 38 - 42 Jahre beträgt [1, 69, 102]. Männer sind häufiger betroffen als Frauen [69, 115]. Sowohl Patienten mit psychiatrischer als auch mit nicht-psychiatrischer Vorerkrankung können betroffen sein [5].
1.2. Risikofaktoren
Bestimmte Faktoren sind mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines MNS assoziiert: ein MNS in der Vorgeschichte, Dehydrierung, Erschöpfung, Malnutrition, Agitiertheit, die Gabe von Typika (Antipsychotika der ersten Generation), parenterale Antipsychotika-Applikation, schnelle Dosiserhöhung [68], Lithium-Komedikation, organischer Hirnschaden, affektive Störungen und Alkoholabhängigkeit [4, 5, 24].
Drogenmissbrauch in der Vorgeschichte erhöht vermutlich ebenfalls das Risiko [6]. Es wird in der Fachliteratur davon ausgegangen, dass es sich um eine idiosynkratische Nebenwirkung handelt, gleichzeitig scheinen hohe Antipsychotika-Dosen die Auftretenswahrscheinlichkeit zu erhöhen [5, 103].
1.3. Auslöser
Ausgelöst wird das MNS vorwiegend durch Antipsychotika (früher „Neuroleptika“
genannt), wobei es unter den hochpotenten Antipsychotika der ersten Generation, den sogenannten „Typika“ (z.B. Haloperidol), häufiger auftritt als unter den neueren „Atypika“
(z.B. Clozapin) oder niederpotenten Antipsychotika [24, 120]. Andere zentralwirksame
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Substanzen mit hohem Dopamin-(D2)-Antagonismus, wie das Antiemetikum Metoclopramid [40], sowie in seltenen Fällen Antidepressiva [15] oder Antikonvulsiva (z.B.
Carbamazepin [86]), und ferner das abrupte Absetzen dopaminerger Therapie bei Morbus Parkinson [61] können ebenfalls in selteneren Fällen ein MNS auslösen.
1.4. Pathophysiologie
Der zugrundeliegende Pathomechanismus des MNS ist nicht vollständig geklärt. Die meisten Theorien vermuten aufgrund der Assoziation zu antidopaminerger Medikation eine Blockade zentraler Dopaminrezeptoren als Ursache [56]. Eine dopaminerge Hypofunktion der Basalganglien, wie sie auch beim Morbus Parkinson vorliegt [142], könnte ursächlich für die extrapyramidalmotorischen, Parkinson-ähnlichen Symptome des MNS sein.
Bildgebende Verfahren des dopaminergen Systems mittels DaTscan (Dopamine Transporter single photon emission computerized tomography) haben gezeigt, dass bei Patienten mit akinetischer Parkinsonkrise und bei solchen mit MNS in denselben Hirnarealen ein stark reduziertes Bindungspotenzial für Dopamin vorliegt [71]. Eine dopaminerge Hypoaktivität im Hypothalamus, welcher u.a. eine Rolle bei der zentralen Thermoregulation spielt [21], wird für die Entstehung von Hyperthermie und anderer Symptome autonomer Fehlregulation verantwortlich gemacht [29]. Darüber hinaus werden auch Störungen in weiteren Neurotransmittersystemen (Serotonin [58], Glutamat [65], Acetylcholin [12, 36]) als relevante Faktoren diskutiert. Andere, in der Fachliteratur umstrittene Theorien vermuten einen mit der Malignen Hyperthermie verwandten Pathomechanismus, da beide Krankheitsbilder mit den gleichen Hauptsymptomen Hyperthermie, Rigor und CK-Anstieg einhergehen und auf das periphere Muskelrelaxans Dantrolen ansprechen [4, 47]. Dabei wird ein Defekt der Skelettmuskulatur vermutet, welcher bei Neuroleptika-Exposition zu einer abnormen Kalziumausschüttung im sarkoplasmatischen Retikulum führt [5]. Hinweise auf eine genetische Komponente gehen aus der Entdeckung eines Genpolymorphismus des Dopamin-D2-Rezeptors hervor, welcher mit der Prädisposition, ein MNS zu entwickeln, assoziiert wird [123].
1.5. Definition
Das MNS stellt eine eigene diagnostische Entität dar: In der ICD-10 wird es unter den sekundären Parkinson-Syndromen (G21.0 „Malignes Neuroleptika-Syndrom“) im Kapitel
„Extrapyramidale Krankheiten und Bewegungsstörungen“ aufgeführt, sowie in der Rubrik
„Arzneimittel, die bei therapeutischer Verwendung schädliche Wirkung verursachen“
(Y49.3: Phenothiazine; Y49.4: Buthyrophenone und Thiothixene und Y49.5: sonstige
3
Antipsychotika) [139]. Die American Psychiatric Association (APA) hat 1994 im DSM-IV Diagnosekriterien des MNS festgelegt (Code 333.92) [9], welche 2013 mit Herausgabe des DSM-5 weiterentwickelt wurden (Tab. 1) [10].
Tabelle 1: MNS-Diagnosekriterien (Zeilen) nach DSM-IV [9] und DSM-5 [10] im Vergleich (Spalten); modifiziert nach [66], lizenziert nach CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.
DSM-IV DSM-5
Hauptsymptome
1) Rigor 2) Hyperthermie
3) Vorherige Antipsychotika- Exposition
1) Rigor
2) Hyperthermie (>38,0°C, mindestens zwei orale Messungen)
3) Diaphorese
4) Dopamin-Antagonist-Exposition innerhalb 72 Std. vor Symptombeginn Nebensymptome
Mindestens 2 der folgenden: Fakultativ Vegetativ Diaphorese, Tachykardie, Inkontinenz,
erhöhter oder labiler Blutdruck
Tachykardie (>25% über Norm), Hypertonie (>25% über Norm oder fluktuierend), Sialorrhoe, Harninkontinenz, Blässe, Tachypnoe (>50% über Norm), Dyspnoe Psycho-
pathologisch
Bewusstseinsstörung Bewusstseinsstörung: qualitativ (Delir), quantitativ (Stupor bis Koma)
Motorisch Dysphagie, Tremor, Mutismus Tremor, Akinesie, Dystonie, Trismus, Myoklonus, Dysarthrie, Dysphagie Labor Leukozytose, Nachweis von
Muskelschädigung (z.B. CK↑)
Leukozytose, CK↑ (4-fach über Norm), metabolische Azidose, Hypoxie, Fe↓, Katecholamine↑
Ausschlusskriterien
1) Die Symptome sind nicht auf andere Substanzen oder einen neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktor (z.B. Virusinfektion)
zurückzuführen.
2) Die Symptome können durch eine psychische Störung nicht besser erklärt werden.
Die Symptome sind nicht auf andere infektiöse, toxische, metabolische oder neuropsychiatrische Ursachen
zurückzuführen.
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom; DSM = Diagnosic and Statistical Manual of Mental Disorders; CK = Kreatinkinase; Fe = Eisen
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Caroff und Mann etablierten 1993 folgende häufig zitierte MNS-Definition [24]:
1) Hyperthermie (>38,0°C) 2) Rigor
3) Antipsychotika-Exposition innerhalb 7 Tage vor Symptombeginn (innerhalb 2 – 4 Wochen bei Depot-Antipsychotika)
4) Mindestens 5 der folgenden: Bewusstseinsstörung, Diaphorese oder Sialorrhoe, Tachypnoe oder Hypoxie, Tachykardie, Hypo- oder Hypertonie, Inkontinenz, CK- Anstieg, Myoglobinurie, Leukozytose, metabolische Azidose, Tremor.
5) Die Symptome sind nicht auf andere Substanzen oder einen systemischen oder neuropsychiatrischen Krankheitsfaktor zurückzuführen.
Es gibt in der Literatur weitere Definitionen des MNS, die in ihren diagnostischen Kriterien z.T. differieren [3, 69, 95].
Das MNS kann mit einer Vielzahl an Haupt- und Nebensymptomen einhergehen (siehe Tab.
1). Jedoch ist keines der Symptome einzeln genommen spezifisch für das Krankheitsbild und es liegen vielfach Berichte von atypischen Verläufen beispielsweise ohne Manifestation von Rigor [87], CK-Erhöhung [84] oder Fieber [88, 95] vor.
Das MNS wird durch manche Quellen in verschiedene Schweregrade unterteilt, welches insbesondere für therapeutische Entscheidungen von Relevanz ist. Häufig genutzt wird die Abstufung in leichtes, moderates und schweres MNS nach Woodbury und Woodbury [138]
(Tab. 2).
Tabelle 2: Definition der MNS Schweregrade nach Woodbury und Woodbury [34]; modifiziert nach [66], lizenziert nach CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.
Schweregrad Mildes MNS Moderates MNS Schweres MNS
Symptome
- Rigor, Katatonie oder Verwirrtheit - Körpertemperatur ≤
38°C
- Herzfrequenz ≤ 100 min-1
- Rigor, Katatonie oder Verwirrtheit - Körpertemperatur 38
- 40°C
- Herzfrequenz 100 bis 120 min-1
- Schwerer Rigor, Katatonie oder Verwirrtheit
- Körpertemperatur ≥ 40°C - Herzfrequenz ≥ 120 min-1
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom
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1.6. Diagnostik
Für die Diagnostik muss eine Reihe von Differenzialdiagnosen, welche mit den gleichen Hauptsymptomen wie das MNS einhergehen, berücksichtigt werden. Dazu zählen andere neuropsychiatrische Krankheitsbilder wie die Maligne Katatonie (diese schwierige differenzialdiagnostische Situation wird in der Fachliteratur als „katatones Dilemma“
bezeichnet [67]). Weiter müssen Status epilepticus, Morbus Parkinson, infektiöse oder entzündliche Erkrankungen wie Enzephalitis (u.a. Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis), Meningitis oder Tetanus bedacht werden. Auch systemische Erkrankungen wie Hitzschlag, Thyreotoxikose oder Phäochromozytom, sowie andere substanzinduzierte Störungen wie das Serotonin-Syndrom, das Anticholinerge Syndrom, Maligne Hyperthermie, Lithium- Intoxikation und Drogenintoxikationen kommen differenzialdiagnostisch in Betracht [10, 30, 131, 133]. Im Zuge der Diagnosesicherung und zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen wird die Durchführung folgender Untersuchungen als sinnvoll erachtet [22, 69]:
• Laboruntersuchungen mit besonderem Fokus auf Blutbild, Elektrolyte, Nieren- und Leberfunktion, Muskelenzyme, Myoglobin und Entzündungsparametern.
• Blutgasanalyse bei respiratorischen Störungen und zum Ausschluss einer metabolischen Azidose.
• Blut- und Urinkulturen zum Ausschluss von Infektionen.
• Ggf. toxikologisches Labor und Lithiumspiegel-Bestimmung.
• Kraniale Bildgebung mittels CT oder MRT zur Darstellung intrakranialer Prozesse
• Lumbalpunktion zum Ausschluss von zentralnervösen Infektionen und neurologischen Erkrankungen (beim MNS i.d.R. unauffällig) [101].
• EEG (zeigt beim MNS häufig diffuse Verlangsamung oder unauffälligen Befund [101])
Das MNS wird aufgrund der Großzahl auszuschließender Differenzialdiagnosen auch als Ausschlussdiagnose bezeichnet [134].
1.7. Auftreten und Dauer
Ein MNS kann zu jedem Zeitpunkt unter antipsychotischer Therapie auftreten, in den meisten Fällen geschieht es jedoch innerhalb ein bis zwei Wochen nach Behandlungsbeginn oder Dosiserhöhung [1]. Nach Absetzten der antipsychotischen Medikation beträgt die
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mittlere Erkrankungsdauer zwischen 7 und 13 Tagen; bei Depot-Antipsychotika oder kompliziertem Verlauf deutlich länger [1, 24].
1.8. Komplikationen
Komplizierte Verläufe sind häufig und erhöhen die Wahrscheinlichkeit zu versterben [77].
Sie sind bedingt zum einen in der Schwere der Erkrankung selbst und zum anderen in der langen Krankheitsdauer und Immobilisationszeit während der Therapie. Zu den häufigsten Komplikationen zählen Rhabdomyolyse, akute Niereninsuffizienz, Pneumonie, akute respiratorische Insuffizienz und Sepsis. Weitere Komplikationen kommen oftmals vor:
Elektrolytentgleisung, Dehydrierung, Thrombose, Krampfanfall, Lungenarterienembolie, Lungenödem, Leberversagen, Multiorganversagen und Herzstillstand [1, 33, 77]. Das MNS kann zu bleibenden neurologischen Schäden in Form von motorischen oder kognitiven Störungen führen [2]. Ein nicht erkanntes und unterhandelndes MNS hat eine schlechtere Prognose. Je später es erkannt wird, desto wahrscheinlicher wird ein negativer Outcome in Form von bleibenden Schäden oder Tod.
1.9. Therapie
Die Therapieempfehlungen orientieren sich an der Sicherheit der MNS-Diagnose und am Schweregrad der Erkrankung. Als wichtig und in der Fachliteratur unumstritten gilt die frühzeitige Erkennung des Syndroms und das sofortige Absetzen der auslösenden Antipsychotika. Andere potenziell auslösende Medikamente, sofern verordnet, sollten ebenfalls abgesetzt werden [24, 69].
Symptomatische Therapie
Die symptomatische Therapie spielt eine zentrale Rolle in der MNS-Therapie. Es ist auf ausreichende, großzügige Flüssigkeitszufuhr zu achten, um eine durch Fieber und Diaphorese verursachte Dehydrierung zu vermeiden [45, 48, 69]. Nach Bedarf wird die Durchführung von mechanischer Kühlung z.B. mit feuchten Umschlägen, künstlicher Ernährung, Kreislaufstabilisierung, Rhythmuskontrolle und Beatmung empfohlen [122].
Antipyretika können verabreicht werden, jedoch gelten sie als wenig effektiv, da die Hyperthermie wahrscheinlich auf die anticholinerge und antidopaminerge Wirkung der Antipsychotika zurückzuführen ist und nicht auf Prostaglandine [5]. Die Durchführung von Thromboseprophylaxe wird aufgrund des erhöhten Risikos als sinnvoll erachtet [69, 133].
Generell sollten Patienten mit MNS streng überwacht werden, um die vielfältigen und
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potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen rechtzeitig zu erkennen und behandeln zu können, weshalb in der Regel intensivmedizinische Betreuung notwendig ist [133].
Spezifische MNS-Therapie
Dopaminagonisten werden in der Therapie des Morbus Parkinson eingesetzt und wirken beim MNS vermutlich über die direkte Stimulation zentraler Dopaminrezeptoren der Antipsychotika-induzierten Rezeptorblockade entgegen.
Bromocriptin, ein Ergotderivat, ist der am häufigsten empfohlene Dopaminagonist in der Therapie des MNS. Es liegt positive Evidenz aus mehreren Fallserien vor, in denen Bromocriptin sowohl mit einer verkürzten Erkrankungsdauer, als auch mit einer signifikanten Senkung der Mortalitätsrate assoziiert wird [102, 104].
Ein weiterer Dopaminagonist, dem eine Wirksamkeit in der MNS-Behandlung zugeschrieben wird, ist Amantadin [72, 104]. In einzelnen Fallberichten werden ebenfalls Therapieerfolge durch die Gabe von Levodopa/Carbidopa [49] oder Apomorphin [135]
beschrieben.
Dantrolen ist ein Muskelrelaxans mit direkter Wirkung auf die Skelettmuskulatur, welches erfolgreich in der Therapie der Malignen Hyperthermie eingesetzt wird [129]. Beim MNS zeigen Analysen aus Fallserien eine Minderung von Krankheitsdauer und Mortalität durch Dantrolen [102, 104], Reulbach et al. wiesen in ihrer Studie jedoch eine Verschlechterung durch diese Therapie nach [99].
Die Empfehlungen zu Benzodiazepinen in der MNS-Therapie sind in der Fachliteratur heterogen [69]. Der Wirkmechanismus dieser Substanzklasse beim MNS wird in einer indirekten, GABA-vermittelten Erhöhung der Dopaminausschüttung in bestimmten Bereichen des Gehirns vermutet [122]. Es liegen sowohl Berichte vor, bei denen Benzodiazepine verbessernd auf die MNS-Symptomatik wirkten [42], in anderen Fällen verschlimmerte sich das Krankheitsbild unter der Therapie [133]. Der Benzodiazepin- Einsatz wird zur symptomatischen Therapie bei Agitation in geringerer Dosierung empfohlen [27], bei milder MNS-Symptomatik oder im Falle von diagnostischer Unsicherheit („Katatones Dilemma“) [27, 138].
Anticholinergika werden zur Behandlung extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen (EPS) unter neuroleptischer Therapie eingesetzt [85]. Ihr Nutzen beim MNS wurde in einigen Fällen als sinnvoll erachtet [36], in einer Fallserie mit 115 Patienten konnte dagegen
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kein Nutzen nachgewiesen werden [1]. Es wird nicht empfohlen, bestehende anticholinerge Medikation bei Auftreten eines MNS abrupt zu beenden, da dies die Symptomatik verschlimmern kann [116].
Während der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) wird mittels elektrischer Stimulation und unter Anästhesie und Muskelrelaxation ein generalisierter Krampfanfall provoziert. Die Methode wird erfolgreich zur Behandlung therapieresistenter, schwerer psychiatrischer Krankheitsbilder wie z.B. der therapieresistenten Depression oder der Malignen Katatonie eingesetzt [44, 70]. Beim MNS wird sie in der Regel als Zweitlinientherapie empfohlen [118]. Es liegen Evidenzen aus Fallserien vor, die ihre Effektivität in der Behandlung des Syndroms belegen [34, 83].
Wiederaufnahme antipsychotischer Therapie nach dem MNS
Nach Remission des MNS kann aufgrund der zugrundeliegenden psychischen Erkrankung erneut die Indikation für neuroleptische Therapie bestehen. Das Rezidivrisiko eines MNS bei der Wiederaufnahme antipsychotischer Medikation wird mit 30 – 50% angegeben [25, 113]. Aus diesem Grund wird in der Fachliteratur und in den aktuellen MNS- Therapieleitlinien empfohlen, mindestens 14 Tage bis zur Wiedereinführung antipsychotischer Medikation zu warten und ggf. auf ein Atypikum (z.B. Clozapin) umzustellen [24, 39].
1.10. MNS-Therapieleitlinien
In Deutschland nimmt die Deutsche Gesellschlaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie (DGPPN) in ihrer 2019 aktualisierten S3- Behandlungsleitlinie „Schizophrenie“ Stellung zur Therapie des MNS [39]. Die Behandlungsempfehlungen sind schweregradabhängig und basieren auf den Vorschlägen von Strawn et al. [118], wie in Tab. 3 dargestellt.
Dantrolen wird hier nur bei Hyperthermie und nachgewiesenem Hypermetabolismus empfohlen; die Evidenz für die Wirksamkeit von EKT beim MNS wird als „niedrig“
bezeichnet, ebenso sei die Studienlage zur Pharmakotherapie des betreffenden Syndroms schwach. Die 2019 von der DPGGN publizierte S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“ nimmt als zweite deutsche Leitlinie Stellung zum MNS. Es werden hier das sofortige Absetzen Antipsychotischer Medikation, die Durchführung von symptomatischer Therapie, fakultative Pharmakotherapie mit Lorazepam, Dantrolen, Bromocriptin oder Amantadin und
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EKT als Zweitlinientherapie empfohlen. Dantrolen wird nur in „schwersten“ Fällen empfohlen [38].
Tabelle 3: Aktuelle MNS-Behandlungsempfehlungen (Spalten) nach MNS-Schweregrad (Zeilen) aus der S3-Leitlinie Schizophrenie der DGPPN [39, S. 3]
MNS-
Stadium* Klinisches Bild Maßnahmen Zusätzliche
Intervention
Stadium III Frühes (mildes)
MNS
Milder Rigor, Katatonie oder Verwirrtheit, Temperatur ≤38°C, Herzfrequenz ≤100
Absetzen des
Antipsychotikums, Verlauf engmaschig überwachen, Risikofaktoren korrigieren
Lorazepam (bis 8mg/Tag)
Stadium IV Moderates MNS
Moderater Rigor, Katatonie oder Verwirrtheit, Temperatur 38-40°C, Herzfrequenz 100 bis 120
Absetzen des Antipsychotikums, Flüssigkeitshaushalt optimieren, Risikofaktoren optimieren, Temperatur reduzieren,
Intensivbehandlung
Lorazepam (bis 8mg/Tag), Bromocriptin (bis 15mg/Tag) oder Amantadin (bis 300mg/Tag) EKT (second line)
Stadium V Schweres MNS
Schwerer Rigor, Katatonie oder Verwirrtheit, Temperatur ≥40°C, Herzfrequenz ≥120
Absetzen des Antipsychotikums, Flüssigkeitshaushalt optimieren, Risikofaktoren optimieren, Temperatur reduzieren,
Intensivbehandlung
Dantrolen (bis 10mg/Tag), Bromocriptin (bis 15mg/Tag) oder Amantadin (bis 300mg/tag) EKT (second line)
*MNS-Stadium nach Woodbury und Woodbury [138]; MNS = malignes neuroleptisches Syndrom; DGPPN = Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
Im Vorfeld der Arbeit wurde, auf einer Analyse der international vorliegenden Behandlungsleitlinien der Schizophrenie basierend, der aktuelle Stand der Therapie des MNS herausgearbeitet. Unsere Vergleichsanalyse ergab, dass die Leitlinien weltweit heterogene MNS-Behandlungsempfehlungen enthalten und über sehr geringe Evidenzstärken verfügen, was bedeutet, dass die optimale Therapie des MNS nicht gesichert ist [110].
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1.11. Aktuelle Evidenzlage der MNS-Therapie
Die Therapieempfehlungen des MNS sind uneinheitlich und beruhen auf Konsensus von Expertenkomitees, einzelnen Fallberichten und Fallserien. Große, qualitativ hochwertige Studien, wie z.B. RCTs (randomized controlled trials) fehlen. Den größten Anteil innerhalb der veröffentlichen Daten haben Berichte von einzelnen MNS-Fällen. Nach dem SIGN (Scottish Intercollegiate Guidelines Network) Graduierungssystem für Leitlinien und dem Leitlinien-Regelwerk der AWMF liegen für die Therapie des MNS maximal Klasse III-IV Evidenzen vor, welches einer schwachen bis sehr schwachen Evidenzstärke entspricht und aufgrund dessen maximal eine Empfehlungsstärke D bzw. 0 („Kann erwogen werden/kann verzichtet werden“) ausgesprochen werden kann (siehe Tab. 4) [13, 111]. Höhere Empfehlungsstärken („Soll“ oder „sollte“ Empfehlungen) sind nicht auffindbar.
Tabelle 4: Evidenzgrade nach dem SIGN Regelwerk für Leitlinien [111]
Evidenzgrad
I Systematische Reviews, Metaanalysen, RCTs oder systematische Reviews von RCTs II Fall-Kontroll- oder Kohortenstudien, systematische Reviews von Fall-Kontroll- oder
Kohortenstudien
III Nicht-analytische Studien, z.B. Fallberichte und Fallserien
IV Expertenmeinung
SIGN =Scottish Intercollegiate Guidelines Network; RCT = randomized controlled trial
Die schwache Evidenzlage ist in der Seltenheit des Auftretens, sowie in dem akuten und potenziell lebensbedrohlichen Verlauf der Erkrankung begründet, welche aus organisatorischen und finanziellen Gründen die Durchführung einer randomisierten, kontrollierten Studie erschweren.
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1.12. Zielsetzung
Die Datenlage bezüglich der Therapie des MNS ist gering, uneinheitlich und von schwacher Evidenz. Aufgrund dessen soll in dieser Doktorarbeit mit einer systematischen Fallsuche nach weltweit veröffentlichen Fällen, sowie Fällen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III der Universitätsklinik Ulm, höchstmögliche Evidenz für die verschiedenen Therapieoptionen des MNS gesammelt werden. Im Besonderen wird auf die Pharmakotherapie mit Bromocriptin und Dantrolen sowie die EKT („Spezifische MNS- Therapie“) eingegangen. Die Zielsetzung dieser Arbeit ist die Beantwortung folgender zwei Fragestellungen:
1) Ist die spezifische MNS-Therapie effektiver als rein symptomatische Therapie in der Behandlung des MNS?
2) Unterscheidet sich die Effektivität der spezifischen MNS-Therapien im Vergleich zur rein symptomatischen Therapie bei verschiedenen MNS- Schweregraden?
Um die Frage nach der Effektivität der Therapien beantworten zu können, wurde der Einfluss auf das Überleben und die Behandlungsdauer betrachtet.
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2. Methoden
2.1. Studiendesign
Es handelt sich um eine systematische Übersichtsarbeit mit retrospektiver Datenanalyse aus international publizierten MNS-Fällen sowie Fällen, die an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Universitätsklinikums Ulm behandelt wurden. Der Fokus der Analyse lag auf der durchgeführten Therapie des MNS und dem Outcome des Patienten.
Ein positives Votum der Ethikkommission liegt unter dem Aktenzeichen 72/18 – FSt/bal.
vor.
2.2. Suchstrategie
Literaturdatenbanken
Die online Suche nach den entsprechenden Veröffentlichungen erfolgte in der medizinischen Datenbank MEDLINE (PubMed Central (PMC) NCBI), ein kostenloses Volltextarchiv für Fachliteratur aus den Bereichen Biomedizin und Biowissenschaften der National Library of Medicine (NIH / NLM) des US-amerikanischen National Institutes of Health. Diese erfolgte mit dem Suchwerkzeug „tree“ nach dem Mesh-Term „neuroleptic malignant syndrome“ und über eine erweiterte Suche nach dem Schlüsselwort „(neuroleptic adj3 malignant adj3 syndrome).ti,ab,kf.“. Beide Suchen wurden mit dem Befehl „OR“ kombiniert. Über eine weitere Datenbank (EMBASE) wurde mit dem Suchwerkzeug Thesaurus nach dem Begriff
„neuroleptic malignant syndrome“ gesucht und über eine erweiterte Suche nach dem Schlüsselwort „(neuroleptic adj3 malignant adj3 syndrome).tw,kw.“. Beide Suchen wurden mit „OR“ kombiniert. Es wurde ebenfalls in beiden Datenbanken nach ausschließlich online verfügbaren Veröffentlichungen („Epubs ahead of print“) gesucht. Anschließend wurden alle Ergebnisse aus MEDLINE und EMBASE zusammengeführt und Duplikate ausgeschlossen. Letztes Datum der Suche war der 25. Mai 2019.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III Universitätsklinikum Ulm
Es wurde innerhalb der digitalisierten Arztbriefe an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III der Universitätsklinik Ulm nach den Begriffen „Malignes Neuroleptisches Syndrom“ und „Malignes Neuroleptika-Syndrom“ in allen orthografischen und grammatikalischen Abwandlungen gesucht. Zusätzlich wurde im Krankenhausinformationssystem nach der ICD-10 Codierung G.21 gesucht. Anschließend
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wurden die betreffenden Patientenakten nach denselben Ein- und Ausschlusskriterien wie die Ergebnisse der Datenbankensuche gescreent (siehe nächster Absatz), und die Daten anonymisiert extrahiert. Letztes Datum der Suche war der 27. Mai 2019.
Screeningprozess der Literaturdatenbankrecherche
Im nächsten Schritt wurden die Ergebnisse der Datenbankrecherche in Covidence, einem Datenextraktions- und Screening-Instrument für systematische Reviews der Cochrane Collaboration® (www.covidence.org), überführt. Hier wurden zunächst Titel und Abstracts mit den in Tab. 5 genannten Kriterien gefiltert, übrig gebliebene Publikationen wurden ins Volltextscreening übernommen. Im Falle von Unsicherheit oder Mangel an Informationen wurden Publikationen ins Volltextscreening übernommen. In diesem letzten Schritt wurden die Publikationen gelesen, geprüft und ggf. die Daten extrahiert.
Tabelle 5: Ein- und Ausschlusskriterien für Publikationen der MNS-Fallberichtrecherche
Einschlusskriterien
- Artikel mit Fallbericht
o Patientenalter ≥ 14 Jahre
o MNS-Kriterien mindestens nach DSM-IV erfüllt, im Besonderen:
▪ Erwähnung von Rigor, erhöhter lokalisierter oder generalisierter Muskeltonus, „Zahnradphänomen“, oder Katatonie
▪ Erwähnung von „Hyperthermie“, „Fieber“ oder T ≥ 37,0°C
▪ Bestehende Antipsychotika-Exposition vor dem MNS - Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch
Ausschlusskriterien
- Artikel ohne Fallbericht - Patientenalter < 14 Jahre
- MNS-Diagnose nach DSM-IV nicht erfüllt insbesondere bei zeitgleichem Vorliegen folgender Erkrankungen: Serotonin-Syndrom, Anticholinerges Syndrom, Maligne Katatonie, Morbus Parkinson, Enzephalitis,
hyperglykämisches Koma, Tetanus, Lithium-Intoxikation.
- Keine gesicherte Antipsychotika-Exposition vor MNS-Beginn
- Fehlende Informationen zu MNS, Therapie und Outcome im Fallbericht - Selber Patient bereits mit früherem MNS-Bericht eingeschlossen
(Rückfallbericht) - Anonymer Autor
- Sprachen: Andere als Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom; DSM = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; T = Temperatur
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Die Ergebnisse der Literaturrecherche wurden parallel nach großen MNS-Fallserien (Gesamtfallzahl ≥ 15) durchsucht, welche folgende Kriterien erfüllen: 1) Durchführung einer MNS-Therapie mit Dantrolen, Bromocriptin oder EKT und 2) ‚Überleben‘ oder
‚Erkrankungsdauer‘ als Outcome Variable.
Datenextraktion
Aus jedem Fallbericht wurden die allgemeinen Angaben Land und Jahr der Veröffentlichung, Alter und Geschlecht des Patienten extrahiert. Des Weiteren wurden folgende patientenbezogene Daten erhoben:
• Psychische Vorerkrankung: Die Erfassung psychischer Vorerkrankungen orientierte sich an der ICD-10 Klassifikation für psychische und Verhaltensstörungen [140]. Es wurden folgende Gruppen unterteilt:
1 - Organisch bedingte psychische Störung (F0)
2 - Psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen (F1) 3 - Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2)
4 - Affektive Störungen (F3) 5 - Intelligenzminderung (F7)
6 - Andere psychische Störungen (F4-6; F8-9) 7 - Keine diagnostizierte psychische Störung.
Lagen mehr als eine psychische Erkrankung vor, wurde jene gewertet, welche im Schichtenmodell nach Jaspers der tiefsten bzw. organischsten Schicht zuzuordnen war [55].
• Somatische Komorbidität: Zu den somatischen Begleiterkrankungen wurden sämtliche nicht psychische, den Leib betreffende Erkrankungen und Verletzungen (ggf. mit operativem Eingriff) gezählt.
• Hirnschädigung: Hierzu zählte jede hypoxisch, traumatisch, entzündlich, toxisch oder tumorös bedingte Hirnschädigung.
• MNS in der Vorgeschichte: Es zählte die Erwähnung oder die Beschreibung eines manifesten MNS in der Patientenvorgeschichte.
• Antipsychotika-Exposition vor dem MNS: Extrahiert wurde Information über die Anzahl der zeitgleich verabreichten Antipsychotika, die Antipsychotika-Generation (Typikum oder Atypikum), die Applikationsform (enteral oder parenteral) und das Vorhandensein einer Prophylaxe motorischer Störungen mit einem der folgenden Anticholinergika:
Trihexyphenidyl, Benztropin, Biperiden, Metixen oder Procyclidin hydrochlorid. Sofern
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angegeben wurde überprüft, dass die Tageshöchstdosis des jeweiligen Anticholinergikums nicht überschritten wurde, um die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines Anticholinergen Syndroms zu minimieren (Tab. mit Tageshöchstdosen siehe Anhang).
• Lithium: Es wurden Angaben zu einer Lithium-Komedikation zum Zeitpunkt des MNS erhoben. Sofern angegeben wurde geprüft, dass der Serum-Spiegel sich nicht oberhalb des therapeutischen Bereichs von 1,3mmol/L [128] befand um das Risiko einer vorliegenden Lithium-Intoxikation zu minimieren.
• Auslöser: Es wurde die Latenz zwischen Auslöser und MNS-Beginn in Tagen erhoben.
Als Auslöser wurden Neubeginn, die Dosissteigerung oder Wechsel der Applikationsform des Antipsychotikums gewertet. Alle Latenzen ≥365 Tage wurden als
„mehr als ein Jahr“ zusammengefasst.
• Symptome: Es wurden alle im Fallbericht beschriebenen MNS-Symptome erhoben. Des Weiteren wurden die Vitalparameter Herzfrequenz, Blutdruck und Atemfrequenz sowie die Laborparameter Kreatinkinase und Leukozyten extrahiert.
• Schweregrad: Der Schweregrad des MNS wurde anhand der Einteilung von Woodbury und Woodbury erhoben [138] (Tab. 2 Abschnitt 1.5).
• Therapie: Im ersten Schritt wurde erhoben, ob und zu welchem Zeitpunkt die MNS- auslösenden Antipsychotika abgesetzt wurden. Hierbei wurde unterschieden, ob die betreffenden Medikamente innerhalb von 24 Stunden nach MNS-Beginn abgesetzt wurden, nach 24 Stunden nach, aber noch vor Therapiebeginn, oder nach Therapiebeginn bzw. gar nicht. Im zweiten Schritt wurde erhoben, ob symptomatische Therapie (englisch: „supportive care“) durchgeführt wurde. Zur symptomatischen Therapie wurden Substanzen gezählt, die nicht zur spezifischen MNS-Therapie gezählt werden: Flüssigkeitsgabe, Kühlung, i.v. Ernährung oder Sondenkost, Antipyretika, Analgetika, Antihypertensiva, Intensivtherapie inklusive kreislaufunterstützender Medikamente (z.B. Katecholamine) und Beatmung, Antikoagulantien und Hämodialyse.
Toleriert wurde die parallele Gabe von Antibiose, Anticholinergika, Antihistaminika, Glukokortikosteroiden, niedrigdosierten Benzodiazepinen (Dosisgrenzen siehe Anhang) und Antikonvulsiva, da hier nicht davon ausgegangen wurde, dass diese einen kausalen Effekt auf das MNS haben. Zur spezifischen MNS-Therapie wurden alle Therapien gezählt, die in den aktuellen deutschen Therapieleitlinien [38, 39, S. 3] über die symptomatische Therapie hinaus empfohlen werden sowie Antiparkinsonmittel, da diese
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am Ehesten einen kausalen Effekt auf das MNS haben könnten. Es wurden 6 Kategorien gebildet:
1 - Symptomatische Therapie 2 - Dantrolen
3 - Bromocriptin
4 - Dantrolen + Bromocriptin 5 - EKT
6 - Andere
In die Kategorien „Dantrolen“, „Bromocriptin“ und „Dantrolen + Bromocriptin“ wurden Fälle eingeschlossen, in denen neben den eben genannten Wirkstoffen nur symptomatische Therapie durchgeführt wurde. Zu der Kategorie „EKT“ wurden alle Fälle, bei denen EKT angewendet wurde, unabhängig der Begleitmedikation, gezählt. In die Kategorie „Andere“ fiel die Behandlung mit anderen Medikamenten, die in ihrer Wirkung über die symptomatische Therapie hinausgehen und potenziell einen kausalen Wirkungsansatz haben könnten, sowie sämtliche Kombinationen dieser Wirkstoffe mit Dantrolen und/oder Bromocriptin. Hierzu zählten u.a. Amantadin, Levodopa/Carbidopa, Apomorphin, und hochdosierte Benzodiazepine (Dosisgrenzen siehe Anhang).
• Komplikationen: Es wurde das Auftreten von Komplikationen aller Art während des MNS erhoben.
• Outcome: Das Outcome wurde in Form von Vollremission (kein Residuum beschrieben oder Erreichen des Ausgangszustandes vor Auftreten des MNS), Teilremission (bleibender somatischer oder psychisch-kognitiver Schaden bei der letzten Nachuntersuchung, welcher nicht schon vor dem MNS bestand und nicht auf die ursprüngliche psychische Erkrankung oder eine Medikamentennebenwirkung zurückzuführen war) und Tod erfasst. Für die Analyse wurden die Kategorien Voll- und Teilremission in Überleben zusammengefasst, da dieser Kategorie eine höhere Priorität beigemessen wurde.
• Krankheitsdauer: Es wurde die komplette Dauer der Erkrankung sowie die Dauer ab Therapiebeginn in Tagen erhoben.
• Antipsychotika-Wiedereinführung: Es wurden folgende Daten extrahiert: Die Inzidenz psychischer Symptome nach dem MNS, die Häufigkeit der Wiedereinführung eines Antipsychotikums oder anderer psychotroper Wirkstoffe (Antidepressiva, Antikonvulsiva oder Benzodiazepine), die Latenz zwischen MNS-Ende und
17
Antipsychotika-Wiedereinführung sowie die Häufigkeit und der Zeitpunkt von Rückfällen.
2.3. Statistik
Sämtliche statistischen Auswertungen wurden mit Microsoft® Office Excel (2007) und IBM© SPSS© Statistics 25.0 durchgeführt. Tabellen und Grafiken wurden mit den eben genannten Programmen und Microsoft® PowerPoint® (2007) erstellt.
Deskriptive Analyse
Deskriptive Daten wurden mittels absoluter und relativer Häufigkeit sowie Minimum, Maximum, arithmetischem Mittelwert, Standardabweichung und Median dargestellt. Für alle statistischen Tests wurde das Signifikanzniveau vorab auf α = 0,05 definiert, sodass alle p-Werte ≤ 0,05 als statistisch signifikant angesehen werden.
Univariate Analyse T-Test
Für stetige normalverteilte Variablen wurde mit dem t-Test für unverbundene Stichproben getestet, ob die Mittelwerte zweier Subgruppen verschieden sind.
Einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA)
Für stetige Variablen in mehr als zwei unabhängigen Untergruppen wurde mit einer einfaktoriellen Varianzanalyse auf signifikante Unterschiede zwischen den Mittelwerten getestet. Bei Inhomogenität der Varianzen wurde die Welch-ANOVA als robustes Testverfahren zur Gleichheit der Mittelwerte angewendet. Der post-hoc Vergleich der Untergruppen erfolgte mit dem Games-Howell-Test.
Pearson-Chi-Quadrat-Test und Exakter Test nach Fisher
Um auf Stärke der Abhängigkeit kategorialer Variablen in unverbundenen Stichproben zu testen wurden Kreuztabellen erstellt und der Pearson-Chi-Quadrat-Test angewendet. Lag beim Chi-Quadrat-Test die erwartete Häufigkeit in mindestens einem Feld unter fünf oder die absolute Häufigkeit unter null wurde der p-Wert des Exakten Tests nach Fisher verwendet.
18 Multivariate Analyse
Logistische Regression
Um mehrere Einflussfaktoren gleichzeitig zu betrachten, wurde eine binär logistische Regression mit Outcome ‚Tod‘ als abhängige Variable und den Einflussfaktoren ‚Alter‘,
‚Geschlecht‘, ‚MNS-Schweregrad‘ und ‚Therapie‘ durchgeführt mit Berechnung von p- Wert, Odds-Ratio (OR) und 95%-Konfidenzintervall (95%-KI). Die Reihenfolge der Prädiktoren wurde mit der Methode „Einschluss“ bestimmt, einer Prozedur für die Variablenauswahl, bei der alle Variablen eines Blocks in einem einzigen Schritt in das Modell aufgenommen werden.
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3. Ergebnisse
3.1. Ergebnisse der Fallrecherche
Es wurden mit der Suchstrategie insgesamt 404 MNS-Fälle (aus 357 Publikationen, siehe Anhang 5) aus den Literaturdatenbanken MEDLINE und EMBASE eingeschlossen. Das Organigramm des Screening Prozesses ist in Abb. 1 dargestellt. Die Recherche an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Universitätsklinikums Ulm ergab insgesamt acht Treffer, von denen einer ein Duplikat war und sechs nicht die erforderlichen MNS- Diagnosekriterien erfüllten, sodass ein Fall eingeschlossen wurde. Die Auswertung erfolgte mit einem Kollektiv von 405 MNS-Fällen.
Abbildung 1: Organigramm des Screening Prozesses der Ergebnisse aus der Datenbankrecherche; modifiziert nach [66], lizenziert nach CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.
*Jede andere Sprache als Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch; MNS = malignes neuroleptisches Syndrom
3.2. Ergebnisse der statistischen Auswertung
Nicht alle Fallberichte enthielten alle für diese Arbeit relevanten Daten, die meisten Berichte waren in dieser Hinsicht unvollständig. Daher variieren die Gesamtzahlen je nach untersuchter Variablen und weichen in unterschiedlichem Maße von der Gesamtfallzahl der Arbeit ab.
20 Land und Jahr der Publikation
Die Fälle stammten aus 30 verschiedenen Ländern weltweit. Die drei häufigsten Ursprungsstaaten waren die USA (44,4%), England (18,5%) und Deutschland (7,7%). Das Jahr der Veröffentlichung der Fallberichte reichte von 1982 bis Mai 2019.
Alter und Geschlecht
248 (61,2%) der 405 Patienten waren männlich, 157 (38,8%) weiblich.
Das Alter der Patienten bei MNS-Beginn reichte von 14 bis 95 Jahre (Mittelwert 39,0 +- 17,6 Jahre, Median 36,0 Jahre). Männer waren im Durchschnitt knapp vier Jahre jünger als Frauen (37,4 +- 17,8 Jahre vs. 41,6 +- 17,1 Jahre; p = 0,018).
Vorerkrankungen
Psychische Vorerkrankung nach der ICD-10. Die Häufigkeiten der zum Zeitpunkt des MNS dominierenden psychischen Erkrankung zeigten folgende Verteilung (angeordnet entsprechend dem Schichtenmodell nach Jaspers):
- Intelligenzminderung (F7): 39 (9,6%)
- Organisch bedingte psychische Störung (F0): 19 (4,7%)
- Psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen (F1): 16 (4,0%) - Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung (F2): 213 (52,6 %)
- Affektive Störung (F3): 85 (21,0 %) - Andere psychische Störung: 13 (3,2 %)
- Keine diagnostizierte psychische Störung: 18 (4,4 %) - Nicht angegeben: 2 (0,5%)
Lag bei den Patienten keine diagnostizierte psychische Erkrankung vor, lautete die Indikation zur Antipsychotika-Gabe entweder Agitation oder Nausea.
Die Überlebensraten abhängig der psychischen Vorerkrankung sind in Tab. 5 dargestellt.
Bei Patienten mit den Vorerkrankungen ‚Intelligenzminderung‘, ‚Organisch bedingte Störung‘ und ‚Störung durch psychotrope Substanzen‘ lagen mit 78,9 – 84,6% niedrigere Überlebensraten vor, als bei Patienten mit den Vorerkrankungen ‚Schizophreniforme Störung‘, ‚Affektive Störung‘ und ‚Andere psychische Erkrankung‘, wo die Raten 92,3 – 94,4% betrugen. Der Unterschied war statistisch signifikant (p = 0,046).
21
Tabelle 6: Psychischen Vorerkrankung nach ICD-10 der untersuchten MNS-Fälle (Spalten) und Überlebensrate (Zeilen)
ICD-10 F7 F0 F1 F2 F3
Andere psych.
Erkr.
Keine psych.
Diagnose
Gesamt
Überleben, N = (%)
33 (84,6%)
15 (78,9%)
13 (81,3%)
201 (94,4%)
79 (92,9%)
12 (92,3%)
16 (88,9%)
369 (91,6%) Verstorben, N =
(%)
6 (15,4%)
4 (21,1%)
3 (18,8%)
12 (5,6%)
6 (7,1%)
1 (7,7%)
2 (11,1%)
34 (8,4%) Gesamt, N =
(%)
39 (100%)
19 (100%)
16 (100%)
213 (100%)
85 (100%)
13 (100%)
18 (100%)
403 (100%) MNS = malignes neuroleptisches Syndrom; ICD = International Statistical Classification of Diseases and related Heath Problems; F7 = Intelligenzminderung; F0 = Organisch bedingte psychische Störung; F1 = Psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen; F2 = Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung; F3 = Affektive Störung; psych. = psychisch; Erkr. = Erkrankung.
Somatische Komorbidität. Bei 78 (19,3%) der Patienten lag eine somatische Komorbidität oder ein Trauma vor. Patienten mit somatischer Komorbidität hatten mit 13/78 (16,7%) eine signifikant höhere Sterberate als Patienten ohne somatische Begleiterkrankung (21/326 (6,4%); p = 0,003).
Hirnschädigung. Bei 25 (6,2 %) der Patienten lag eine Hirnschädigung vor. Das Vorliegen einer Hirnschädigung hatte keinen statistisch signifikanten Einfluss auf den Outcome: Von Patienten ohne Hirnschädigung überlebten 345/378 (91,3%); mit Hirnschädigung 24/ 25 (96,0%; p = 0,71).
MNS in der Vorgeschichte. Ein MNS in der Vorgeschichte war bei 14 (2,6 %) der 405 Patienten angegeben.
Medikamente vor dem MNS
Anzahl der auslösenden Antipsychotika. 269 Patienten (66,4 %) erhielten genau ein Antipsychotikum; 107 (26,4 %) erhielten zwei; 21 (5,2 %) drei und 7 (1,7 %) vier Antipsychotika gleichzeitig. Die Anzahl der Antipsychotika, die dem Patienten gleichzeitig verabreicht wurden, hatte keinen bedeutsamen Unterschied auf das Überleben: Die Überlebensrate bei einem Antipsychotikum betrug 246/269 (91,4%); bei zwei 98/107 (91,6%); bei drei 19/21 (90,5%) und bei vier 7/7 (100%; p = 0,974).
Antipsychotika-Generation. 216 Patienten (53,3 %) bekamen ein Antipsychotikum der ersten Generation (Typikum), 137 (33,8 %) ein Antipsychotikum der zweiten Generation (Atypikum), und 51 (12,6 %) erhielten Medikamente aus beiden Klassen. Patienten, bei denen ein Typikum in der Medikation enthalten war, hatten eine signifikant höhere
22
Sterberate als Patienten, die ausschließlich mit Atypika behandelt wurden (Tab. 6; p = 0,002).
Tabelle 7: Generationszugehörigkeiten der MNS-auslösenden Antipsychotika (Spalten) und Überlebensrate (Zeilen)
Atypikum Typikum
Atypikum plus Typikum
Gesamt
Überleben, N = (%)
134 (97,8%)
190 (88,0%)
46 (90,2%)
370 (91,6%) Verstorben, N =
(%)
3 (2,2%)
26 (12,0%)
5 (9,8%)
34 (8,4%) Gesamt, N =
(%)
137 (100%)
216 (100%)
51 (100%)
404 (100%)
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom; Typikum: Antipsychotikum der 1. Generation; Atypikum: Antipsychotikum der 2. Generation
Antipsychotika-Applikationsform. Die Applikationsform war in 368 Fällen angegeben. Bei 224 (60,9%) der Patienten erfolgte die Anwendung enteral, bei 70 (19%) parenteral und bei 74 (20,1%) gleichzeitig enteral und parenteral. In der Gruppe „enterale Applikation“
überlebten 208/224 (92,9%), in der Gruppe „parenterale Applikation“ waren es 66/70 (94,3%) und bei gemischter Applikation 67/74 (90,5%). Die Differenz war nicht statistisch signifikant (p=0,100).
Lithium. Bei 41 (10,1 %) der Patienten lag vor Auftreten des MNS eine Komedikation mit Lithium vor. Von diesen Patienten litten 21 (51,2 %) an einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis und 18 (43,9 %) an einer affektiven Störung. Umgekehrt bestand bei 21/213 (9,9%) der Patienten mit F2-Diagnose und bei 18/85 (21,2%) der Patienten mit F3-Diagnose eine Begleitmedikation mit Lithium. Patienten mit Lithium-Komedikation hatten eine leicht höhere Überlebensrate (40/41 (97,6%)), als Patienten ohne diese Komedikation (329/362 (90,9%)). Die Differenz war nicht statistisch signifikant (p=0,232).
Anticholinergika. Es standen insgesamt 68/403 Patienten (16,8 %) unter Anticholinergika- Prophylaxe. Diese Patienten hatten mit 65/68 (95,6%) eine leicht höhere Überlebensrate als Patienten ohne Prophylaxe, von denen 304/335 (90,7%) überlebten (p = 0,237).
Manifestation und Symptome des MNS
Auftreten. Die Latenz zwischen Antipsychotika-Einnahme und Auftreten des MNS reichte von weniger als 24 Stunden bis über ein Jahr (Mittelwert 18,8 +- 52,7 Tage, Median 4,0 Tage).
23
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom Tabelle 8: Häufigkeit der MNS-Symptome
Dauer. Die Dauer von Symptombeginn bis -ende reichte von weniger als 24 Stunden bis 150 Tage (Mittelwert 13,5 +- 15,3 Tage, Median 9,0 Tage).
Symptome. Die Symptome des MNS sind in Tab.
7 nach Häufigkeiten sortiert aufgeführt. Da das Fehlen von Rigor und Fieber ein Ausschlusskriterium der Suchstrategie darstellte, lagen diese Symptome bei 100 % der Patienten vor. Neben Rigor waren regelhaft weitere extrapyramidalmotorische Symptome, wie z.B.
Dyskinesien, Akinesie, Akathisie, Dysarthrie, Parkinsonismus oder Ophistotonus beschrieben.
Folgende weitere Symptome wurden in Einzelfällen berichtet: Mundtrockenheit, Mydriasis, Hyper- oder Hyporeflexie, positives Babinski-Zeichen, vertikale Blickparese, Nystagmus, Hemiparese, Spasmen, Nausea, Emesis und Anorexie.
Vitalparameter. Die statistischen Angaben der einzelnen Vitalparameter sind in Tab. 9 gelistet.
Tabelle 9: Statistische Werte (Spalten) für Temperatur, Herzfrequenz, Blutdruck und Atemfrequenz (Zeilen) der n = 405 untersuchten MNS-Fälle
Vital-
parameter Minimum Maximum Mittelwert
(Standardabweichung) Median
Temperatur 37,0 °C 42,6 °C 39,2 (+- 1,1) °C 39,0 °C
Herzfrequenz 80 min-1 250 min-1 126,6 (+- 23,2) min-1 120 min-1 Blutdruck
o Systolisch o Diastolisch
o 50 mmHg o 30 mmHg
o 240 mmHg o 144 mmHg
o 143,6 (+- 35,7) mmHg o 88,2 (+- 20,7) mmHg
o 150 mmHg o 90 mmHg Atemfrequenz 8 min-1 60 min-1 29,3 (+- 10,7) min-1 26 min-1 MNS = malignes neuroleptisches Syndrom
Laborparameter. Die Verteilung der Werte von Kreatinkinase und Leukozyten sind in Tab.
10 abgebildet. Die Höhe der Kreatinkinase betrug bei überlebenden Fällen im Median 2.460
Symptom Häufigkeit
(n = 405)
Rigor 405 (100 %)
Fieber 405 (100%)
Tachykardie 286 (70,6%) Bewusstseinsstörung 283 (69,9 %) Diaphorese 204 (50,4 %) Blutdruck:
o Hypertonie o Hypotonie o fluktuierend
o 143 (35,3 %) o 29 (7,2%) o 31 (7,7 %)
Tremor 131 (32,3 %)
Tachypnoe 124 (30,6%)
Mutismus 102 (25,2 %)
Harninkontinenz 60 (14,8 %) Hypersalivation 48 (11,9 %) Agitation 43 (10,6 %)
Dysphagie 37 (9,1 %)
Dyspnoe 21 (5,2 %)
Harnretention 12 (3,0 %)
24
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom
IU/L, bei Todesfällen 3.300 IU/L. Der Median der Leukozytenzahl lag bei Überlebenden bei 14,3x10³/mL und bei Todesfällen bei 13,8 x10³/mL.
Tabelle 10: Statistische Werte (Zeilen) für Kreatinkinase (linke Spalten) und Leukozyten (rechte Spalten) der n = 405 untersuchten MNS-Fälle
Kreatinkinase Leukozyten
Über 300 IU/L 332 Fälle (81,9%) Über 10 x10³/mL 217 Fälle (53,6 %) Unter 300 IU/L 24 Fälle (5,9%) Unter 10 x10³/mL 36 Fälle (8,9 %) Nicht angegeben 49 Fälle (12,1%) Nicht angegeben 152 Fälle (37,5 %)
Minimum 40 IU/L Minimum 4,4 x10³/mL
Maximum 773.330 IU/L Maximum 47,5 x10³/mL
Mittelwert 12.165 (+- 51.434) IU/L Mittelwert 15,2 (+- 5,9) x10³/mL
Median 2.464 IU/L Median 14,3 x10³/mL
MNS = malignes neuroleptisches Syndrom. Eine Kreatinkinase >300 IU/L und Leukozyten von >10 x103/mL sind als erhöht zu werten.
Schweregrad des MNS
Tabelle 11: Häufigkeiten der MNS-Schweregrade
Die Verteilung der verschiedenen MNS- Schweregrade nach Woodbury und Woodbury ist in Tab. 11 dargestellt.
Der Schweregrad der Erkrankung beeinflusste die Überlebensrate folgendermaßen:
o Leichte Fälle: 43 von den 45 Fällen überlebten (95,6%) o Moderate Fälle: 216 von den 228 Fällen überlebten (94,7%) o Schwere Fälle: 112 von den 132 Fällen überlebten (84,8%)
Der Einfluss des MNS-Schweregrades auf die Überlebensrate war statistisch signifikant (p=0,004).
Komplikationen
Insgesamt traten bei 118 Patienten (29,1 %) eine oder mehrere Komplikationen auf. Zu diesen zählten: Pneumonie, pulmonale Atelektase, respiratorische Insuffizienz, Pneumomediastinum, Bronchospasmus, thromboembolisches Ereignis (akute Lungenembolie oder tiefe Venenthrombose), Thrombophlebitis, Myokardinfarkt, Herzrhythmusstörungen, kardialer Arrest, Hirnödem, Krampfanfall, zerebellare
MNS Schweregrad Häufigkeit
Leicht 45 (11,1 %) Moderat 228 (56,3 %)
Schwer 132 (32,6 %)
25
Dysfunktion, Schlaganfall, akutes Nierenversagen, Leberversagen, Multiorganversagen, disseminierte intravasale Gerinnung, hämorrhagische Diathese, untere gastrointestinale Blutung, Ulcus duodeni, Diarrhoe, pseudomembranöse Kolitis, Ileus, Fibromblutung, Zellulitis, Zystitis, Kompartmentsyndrom, Dekubitus und Sepsis. Die drei häufigsten Komplikationen von n = 405 Fällen waren:
o Pneumonie: 46 (11,4 %)
o Akutes Nierenversagen: 37 (9,1 %)
o Thromboembolisches Ereignis: 14 (3,5 %)
Das Auftreten von Komplikationen beeinflusste den Ausgang der Erkrankung deutlich:
o Überleben ohne Komplikation: 282 von 287 (98,3%) o Überleben mit Komplikation: 89 von 118 (75,4%)
Beim Auftreten von Komplikationen erhöhte sich die Sterberate um 22,9% (p = 0,0001).
Hierbei hatten auch die zwei häufigsten Komplikationen Pneumonie (p=0,0001) und akutes Nierenversagen (p=0,0001) einzeln genommen eine signifikante Auswirkung auf die Überlebensrate, das thromboembolische Ereignis nicht (p=0,073).
Outcome
Von den 405 identifizierten Fällen überlebten 371 (91,6%). Es erreichten 325 (80,2%) eine Vollremission und 46 (11,4%) eine Teilremission. Zu den bleibenden Schäden des MNS, welche zur Klassifizierung als „Teilremission“ führten, zählten: Myopathie, Myasthenie, Dystonie, Ataxie, Dysarthrie, Dysphagie, Parese, Parästhesie, sensorische Störungen, Gelenkbeschwerden, Kontrakturen, gestörte renale Funktion und kognitive Störungen, wie z.B. Amnesie. Die Mortalitätsrate innerhalb des gesamten Patientenkollektivs lag bei 8,4%
(34 Fälle). Frauen hatten eine leicht höhere Überlebensrate als Männer (93,0% versus 90,7%;
p = 0,423). Es zeigte sich ein Unterschied des Durchschnittsalters in den verschiedenen Outcome Gruppen. Die Patienten mit Überleben waren im Mittel 10 Jahre jünger als Todesfälle (p = 0,002).
o Überleben: Mittelwert 38,2 +- 17,0 Jahre o Todesfälle: Mittelwert 48,2 +- 21,8 Jahre Therapie
Intensivtherapie. 138 der 278 Fälle (49,6%), bei welchen der Aufenthaltsort im Fallbericht präzisiert wurde, wurden intensivmedizinisch behandelt, die anderen 140 Fälle (50,4%)
26
nicht. Von den Patienten, welche auf einer Intensivstation waren, litten 68 (49,3%) an einem schweren, 62 (44,9%) an einem moderaten und acht (5,8%) an einem leichten MNS. Von den nicht intensivmedizinisch behandelten Fällen waren 30 (21,4%) schwer, 88 (62,9%) moderat und 22 (15,7%) leicht erkrankt (p=0,0001).
Absetzung der Antipsychotika. Die auslösenden Antipsychotika wurden in 323 Fällen (79,8
%) innerhalb von 24 Stunden nach MNS-Beginn abgesetzt. In 31 Fällen (7,7 %) wurden sie verspätet, aber vor MNS-Therapiebeginn abgesetzt, in 21 Fällen (5,2 %) erst nach Therapiebeginn oder gar nicht. Wurde das Antipsychotikum vor Beginn der MNS-Therapie abgesetzt, war die Überlebensrate um 6,4% höher als bei verspäteter oder nicht erfolgter Absetzung (Tab. 12; p=0,539).
Tabelle 12: Zeitpunkt des Absetzens der auslösenden Antipsychotika (Spalten) und Überlebensrate (Zeilen)
Zeitpunkt der Antipsychotikum- Absetzung
Gesamt Vor MNS-
Therapie- beginn
Nach MNS-Therapiebeginn oder gar nicht
Überleben, N = (%) 326 (92,1%) 18 (85,7%) 344 (91,7%) Verstorben, N = (%) 28 (7,9%) 3 (14,3%) 31 (8,3%)
Gesamt, N = (%) 354 (100%) 21 (100%) 375 (100%) MNS = malignes neuroleptisches Syndrom
MNS-Therapien. In Tab. 13 sind die verschiedenen Therapiegruppen, ihre Häufigkeiten und die Eigenschaften der unterschiedlichen Gruppen dargestellt. 62 weitere, nicht abgebildete Fälle fielen in die Kategorie „Andere“. Dazu zählten folgende Wirkstoffe (als Monotherapie oder in Kombination mit Bromocriptin und/oder Dantrolen): Amantadin, Levodopa/Carbidopa, hochdosierte Benzodiazepine (Dosisgrenzen siehe Anhang), Apomorphin, Pridinol (Muskelrelaxans), Lisurid, Baclofen und Vitamin E und B6. Die Gruppen wurden in Bezug auf Geschlecht, Alter, Schwere der Erkrankung, Komorbidität, Höhe der CK und der Leukozyten verglichen. Statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen ergaben sich für die Variablen „Geschlecht“ (p=0,019), „Alter“ (p=0,001), und
„Komplikationen“ (p=0,008). Keine statistisch signifikanten Differenzen lagen für die Variablen „MNS-Schweregrad“ (p=0,076), „somatische Begleiterkrankung“ (p=0,18),
„Hirnschädigung“ (p=0,49), „Kreatinkinase“ (p=0,16) und „Leukozyten (p=0,23)“ vor.
27
Tabelle 13: Vergleich der verschiedenen MNS-Therapiegruppen (Spalten) in Bezug auf Geschlecht, Alter, MNS-Schwere, das Vorliegen einer somatischen Komorbidität oder Hirnschädigung, die Höhe der Kreatinkinase und Leukozyten und das Auftreten von MNS-Komplikationen (Zeilen); modifiziert nach [66], lizenziert nach CC BY 4.0,
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.
Sympto- matische Therapie (n = 108)
Dantrolen (n = 59)
Bromo- criptin (n = 75)
Dantrolen + Bromo-
criptin (n =42)
EKT (n = 41)
Geschlecht
• Männer
• Frauen
• 70 (64,8%)
• 38 (35,2%)
• 19 (67,8%)
• 40 (32,2%)
• 38 (50,7%)
• 37 (49,3%)
• 31 (73,8%)
• 11 (26,2%)
• 19 (46,3%)
• 22 (53,7%) Alter
(Mittelwert) 43,7 Jahre 41,0 Jahre 37,3 Jahre 35,4 Jahre 32,3 Jahre MNS
Schweregrad
• Leicht
• Moderat
• Schwer
• 12 (11,1%)
• 66 (61,1%)
• 30 (27,8%)
• 4 (6,8%)
• 25 (42,4%)
• 30 (50,8%)
• 10 (13,3%)
• 42 (56,0%)
• 23 (30,7%)
• 2 (4,8%)
• 23 (54,8%)
• 17 (40,5%)
• 7 (17,1%)
• 23 (56,1%)
• 11 (26,8%) Somatische
Ko- morbidität
17 (15,7%) 16 (27,1%) 13 (17,3%) 11 (26,2%) 5 (12,2%)
Hirn-
schädigung 7 (6,5%) 3 (5,1%) 4 (5,3%) 5 (11,9%) 1 (2,4%)
Kreatin-
kinase 7.229,5 U/L 15.007,4 U/L 13.120,9 U/L 10.238,6 U/L 4.395,8 U/L Leukozyten 14,7 x10³/mL 17,0 x10³/mL 15,8 x10³/mL 15,8 x10³/mL 15,5 x10³/mL Kompli-
kationen 29 (26,9%) 25 (42,4%) 21 (28,0%) 19 (45,2%) 6 (14,6%) MNS = malignes neuroleptisches Syndrom; EKT = Elektrokonvulsionstherapie
Tab. 14 illustriert der Ausgang der Erkrankung abhängig von der MNS-Therapie. Die Mortalitätsrate bei symptomatischer Therapie und Dantrolen war identisch (10,2%); die der restlichen spezifischen Pharmakotherapien hatten mit 7,1 und 8,0% niedrigere Mortalitätsraten. Unter EKT waren keine Todesfälle zu verzeichnen, gleichzeitig lag in dieser Gruppe der höchste Anteil an Teilremissionen. Der Einfluss der verschiedenen Therapien auf das Überleben war nicht statistisch signifikant (p = 0,688).