„Wolfszeit
Die Weimarer
Republik
imSpiegel
vonHans Falladas Roman„Bauern,
Bonzenund Bomben"
(1931)
I.
Wirklichkeit und Kunstcharakter
-
wie verhalten sie sich im Roman von Hans Fallada?
Diese
Frage drängt
sich bei einem Autorauf,
der wie nurwenige
auf schnörkellose Er-zählung
desalltäglichen
Lebens setzte und dazu als Stilmittel den aus dereigenen
Er-fahrungswelt
gewonnenen natürlichenDialog
nutzte. Für seinen 1931 veröffentlichten Provinzroman„Bauern,
Bonzen und Bomben" beantworteteerdieFrage
in seinerVorbe-merkung
selbst:EinRoman sei ein Werk der Phantasie.„Wohl
hat derVerfasserEreignisse,
die sich in einer bestimmten
Gegend
Deutschlandsabspielten, benutzt,
abererhatsie,
wieesder
Gang
derHandlung
zufordernschien,
willkürlich verändert. Wieman ausden Stei-neneines
abgebrochenen
Hauseseinneuesbauenkann,
das dem alten in nichtsgleicht,
außer dem
Material,
soist beim Baudieses Werkes verfahren. Die Gestalten des Romans sind keinePhotographien,
sie sindVersuche, Menschengesichter
unterVerzicht aufbillige Ähnlichkeit
sichtbarzu machen. Bei derWiedergabe
derAtmosphäre,
desParteihaders,
desKampfes
aller gegen alle ist höchsteNaturtreue erstrebt. Meine kleine Stadt steht für tausend andere und fürjede große
auch."Dies ist ein hoher
Anspruch,
erstrebt der Autor doch nichtsGeringeres
alsRepräsenta-
tivität. Und darin sah einer seinerersten
Rezensenten,
KurtTucholsky,
deneigentlichen
Wert des Buches: Dieses
„politisch
hochinteressante" Werk habe er„in
zwei Nächten ge-fressen,
weiles unspolitisch angeht,
nurdeswegen,
beinahnurdeswegen"1.
Hans Fallada hat immer wiederseinen Romanen
vergleichbare Bemerkungen
voraus-geschickt,
die die ParadoxievonPhantasie und Wirklichkeitin seinenWerken kennzeich-nensollten. So hießesin dem
postum
1955 veröffentlichten„Ein
Mannwill hinauf:„In
diesem Buch ist alleserfunden;
esist einRoman,
also ein Werk der Phantasie.[...]
Trotz-dem hofft der
Verfasser,
eingetreues
Bild verschiedenerZeitepochen
seit 1910 in derHauptstadt
Berlingegeben
zuhaben." Sein 1946 veröffentlichtes BuchJeder
stirbt fürsich allein" stützte er, anders als bei ihm
üblich,
auf schriftliche Dokumente:„Die
Ge- schehnisse dieses Buchesfolgen
ingroßen Zügen
Akten derGestapo
über dieillegale Tätigkeit
eines BerlinerArbeiterehepaares
während derJahre
1940 bis 1942. Nur ingroßen Zügen
-
ein Romanhat
eigene
Gesetze und kann nichtinallem der Wirklichkeitfolgen.
Darum hates der Verfasser auchvermieden,
Authentisches über das Privatleben dieser beiden Menschen zu erfahren: er mußte sie soschildern,
wie sie ihm vorAugen
standen.Sie sind also zwei Gestalten der
Phantasie,
wie auch alle anderenFiguren
diesesRomans frei erfunden sind. Trotzdem
glaubt
der Verfasser an die innere Wahrheit desErzählten,
wenn auch manche Einzelheit den Verhältnissen nicht ganzentspricht." (Vor- wort)
Wenngleich Erschließung
der Fakten und Erzählweise indiesem Buch anders sind als in„Bauern,
Bonzen undBomben",
in dem stärker dieeigene Anschauung
als die Phan-1 „Bauern,Bonzen undBomben"von
Ignaz
Wrobel(Pseud.v.KurtTucholsky),
in: DieWeltbühne 27 (1931),S.4971'.tasie
waltet,
so zieht sich doch durch das ganzeumfangreiche
Werk Falladas der Wille„zurinneren Wahrheit des
Erzählten",
auf die sich der Historiker nicht berufenkann,
gehört
es doch zu seinen schon von Goethegenannten Pflichten, „das
Wahre vomFalschen,
das Gewisse vomUngewissen,
das Zweifelhafte vom Verwerflichen zu unter-scheiden"2.
Doch kann der Historiker denn wirklich auf die„innere
Wahrheit des Er- zählten"verzichten,
selbstwenn erdie Freiheit des Romanciers nicht hat? Wie aber ist sie verifizierbar?In seiner unnachahmlich
beiläufig präsentierten
Treffsicherheit wird Fallada nochkonkreter,
wenn er das als historischeQuelle unverzichtbare,
aber auchproblematische
Genre der
Autobiographie
unterdergleichen Frage
betrachtet:InderVorbemerkung
zuseinen
Jugenderinnerungen „Damals
bei uns daheim"(1941)
nimmt erErkenntnispro-
blematik des Autors und
Perzeptionsspezifik
des Lesersgleichermaßen
in den Blick:„Meinen
andern Leserninder weiten Welt machtesnicht vielaus,ob aufdenfolgenden
Blättern die vollkommene
Genauigkeit
vom Verfassergewahrt
ist. Ihnen ist Tante Gust-chen Hekuba. Wie aber bestehe ichvor
dir,
sehr liebe Verwandtschaft?![..,]
wennich im Kleinensündigte,
so bin ich doch im Großengetreu
gewesen. Wenn ich bei den Tatenerfand,
so habe ich doch denGeist,
sogut
ich esvermochte, geschildert. Ja,
ichglaube
sogar, daß meine Freiheitenim Kleinen mirerstdie Treue im Großen
möglich gemacht
haben. So habe ich die Eltern
gesehen,
sodieGeschwister,
sodiegesamte
Verwandt- und Bekanntschaft! Ihr seht sie anders?Geschwind,
schreibeteuer Buch! Meines bleibtmir darum doch lieb."Ohne Zweifel darf ein Schriftstellerso
argumentieren,
aber darfesder Historiker nicht auch? Muss nicht„der
Herreneigener
Geist"dazukommen,
umdieQuellen,
die vergange-ne
Gegenwart
zumSprechen
zubringen?
Was also sind dieQuellen Falladas,
waskönnenseine
Romane,
wasgeschichtswissenschaftliche
Werke nicht leisten-
oder
jedenfalls
fürdie meisten Themen nicht?
Dieerste
Frage
ist leichtzubeantworten und ist für die Mehrzahl seinerRomane-
mit der
genannten
Ausnahme-
gleich:
Hans FalladasDarstellungskunst speist
sich aus denpersönlichen Erfahrungen
einesAutors,
dessen Leben so abenteuerlichverlief,
dass es selbst einphantasievoller
Romancier nicht besser hätte erfinden können. DieseQuelle
steht dem Historiker nicht oder höchstens indirektzur
Verfügung,
stellt erdoch in derRegel
nicht Themen seinereigenen Zeit,
sondern frühererEpochen
dar. Die oft undzuRecht
gerühmte
AuthentizitätvonFalladasRomanfiguren gewinnt
ihrepralle
Lebensfülleaus
eigener Anschauung.
Tatsächlich ist sieaber,
davon wird nochzuredensein,
wie beim Historiker Auswahl: DasPanoramaeiner kleinenpommerschen Stadt,
im Roman„Bauern,
Bonzenund Bomben" Altholm
genannt,
bietet ebenso einGesellschaftsbild,
wieesinsei-nenGroßstadtromanen der Fall
ist,
indenen Berlin denWurzelgrund
bildet.Fallada verdichtet wie
jeder
Erzähler dieHandlung,
indem erseineCharakterisierung
auf eine
-
wennauch
große
-
ZahlvonPersonenkonzentriert. Inihren
Dialogen
fassterAktion und Reaktion. Durch solche oft
hastigen,
oftimpressionistisch
mitwenigen
Stri-chen
hingeworfenen Diskussionen,
im StakkatovonRede undGegenrede,
charakterisiert Fallada nichtnurdie dramatispersonal,
sondern erklärtzugleich
ebenso lakonisch wiean-schaulich Ursache und
Wirkung.
Goethe,MaximenundReflexionen 189,in: GoethesWerke.
Hamburger Ausgabe,
Bd.12,Hamburg
1967,S.390.Reduziert auf die
„anthropologische
Dimension" derGeschichte3,
bedarferkeinerquel- lengestützten
Rekonstruktion undabwägenden Analyse
und hat dieser diesuggestive
An-schaulichkeitvoraus. Insofern bilden Romanedieses
Typs
für den Historiker selbstzeitge-
nössische
Quellen, keineswegs
aberErsatzwissenschaftlicher Arbeit. Sie vermitteln die Aura desZeitzeugen.
Romane müssen nicht im Detailstimmen,
aberim Ganzenstimmig
sein.Die
„willkürliche" Zusammensetzung
der aus der Realität gewonnenen Bausteine ist dem Historiker nichterlaubt,
ermussFragestellung
undPerspektive offenlegen,
mussseineAus-wahl
argumentativ
ausihnenbegründen,
während der Romancier seineUberzeugungskraft
aus der
Stringenz
derHandlung
und der Wirklichkeitsnähe seinerFiguren gewinnt.
Diesgelingt
Hans Fallada nichtnurin„Bauern,
Bonzenund Bomben"hervorragend,
auch sei-neanderen
großen Gesellschaftsromane,
seinWelterfolg „Kleiner
Mann-wasnun?"
(1932),
„Wer
einmal aus demBlechnapf
frißt"(1934), „Wolf
unter Wölfen"(1937)
oderJeder
stirbt für sich allein"
(1947) zeigen
bereits in ihrensuggestiven
Titeln(deren
Machartspä-
ter
Johann
Mario Simmelübernahm),
wiezupackend
esin ihnenzugeht.
All seine Romane bilden
Zeugnisse
einerAlltagsgeschichte
derWeimarerRepublik,
desElends des kleinenManneswährend der
Inflationsjahre.
Immer aber istesdas Berliner oder nord- bzw. ostdeutsche Milieu. DasBayern
dieserJahre
zumBeispiel
findetmanbei Falladanicht,
dafür müsste man zueinem literarischanspruchsvolleren, allerdings
ebenfalls auto-biographisch
schreibenden Autor wie Oskar Maria Grafgreifen.
Und ebensowenig
bietetFallada über
Fragmentarisches hinausgehende Schilderungen
desGroßbürgertums,
etwades wohlhabenden
jüdischen
BerlinerBildungsbürgertums,
wie esLionFeuchtwanger
inseinem Roman
„Die
GeschwisterOppermann" (1933)
darstellt. Auch ein Gesellschafts-roman nach ArtvonLion
Feuchtwangers „Erfolg" (1930),
in dem das MünchnerBürgertum
der 1920er
Jahre
imMittelpunkt steht,
warFalladas Sachenicht,
obwohlermit Feuchtwan- ger denSpannung erzeugenden,
zuweilenkriminalpsychologischen Zugriff
und dieätzendeGesellschaftskritik
gemein
hatte. Dass Hans Fallada dasgehobene Bildungsbürgertum
nuram Rande
thematisierte,
ist insofernüberraschend,
als erselbst aus diesem stammte und seineigenes,
imSinnebürgerlicher
Wertmaßstäbeverpfuschtes
Leben sich auch alstrotzige Opposition
gegen dieses verstehenließe,
obwohlerin einerglücklichen
Familie aufwuchs.Auch diese
Beispiele zeigen jedenfalls:
Sowenig
wie der Historikerliefertder Romanci-er eine
„Totalgeschichte",
dievonderPerspektive
des Autorsunabhängig wäre;
stetshan-deltessichumeinen Ausschnittausder Wirklichkeit und insofernimmerauchum
„Kunst-
charakter". Gemeinsam istdengenannten
Autoren derdurchgehende
roteFaden,
näm-lich die
Krisenhaftigkeit
der 1920er und frühen 1930erJahre.
Damit thematisieren sie eine wesentliche Ursache für denErfolg
despolitischen Extremismus,
insbesondere den Auf-stieg
des Nationalsozialismus. Unterschiedlich ist diesprachliche
und stilistische Gestal-tung
dergenannten Schriftsteller,
die sich bei Fallada denkbar weitvon historischen aber auchpoetisierend-metaphorischen Darstellungsformen
entfernt.II.
WerwarHansFallada?Diese
Frage
ist für ihnschwieriger
zubeantworten als für die meis-ten
Schriftsteller,
ist doch sein Lebenslaufschillernder,
unsteter, kaum aufeinen Nenner3
Vgl.
ThomasNipperdey,
Dieanthropologische
DimensionderGeschichtswissenschaft,in:Ders.,Ge-sellschaft,Kultur,Theorie. Gesammelte Aufsätzezur neuerenGeschichte,
Göttingen 1976,
S.33-58.zu
bringen.
VieleIdentitätsstränge
verbinden sich inihm,
zeitlebenswar er ein„Pechvo-
gel",
wieersich selbst in seinenJugenderinnerungen
charakterisierte.VonJugend
anwarer
kränkelnd, lange
bevor dieeigene
Lebensweise nahezuzwangsläufig
zu schweren Er-krankungen
führte.Erblieb ein„Zerrissener".
KeinZufall,
dasserkaumpolitisch
zuzuord-nen
ist,
obwohl erein dezidiertpolitischer
Autorwar. Während der WeimarerRepublik
konnte manihn keiner
politischen Richtung,
schon gar keiner Parteizuordnen,
obwohler1928 in die SPD eintrat. Uber
etwaige parteipolitische
Aktivitäten ist nichts bekannt.Während des
NS-Regimes
zählte Falladazeitweisezudenjenigen,
die der offiziellen Kul-turpolitik verdächtig
waren;zweimal wurdeer zum„unerwünschten
Autor"erklärt,
einmal sogarfestgenommen4. Joseph
Goebbels beurteilte Falladapositiv
und kamspäter
sogarauf dieIdee,
ihnzu instrumentalisieren.Am14.Januar
1938 notierte Goebbels in seinTage-
buch:
„Gelesen
Fallada,Wolf
unterWölfen',
ein tollesspannendes Buch."5 Wenig später fügt
erhinzu:„der Junge
kannwas"6.
Doch deckte sich dieseEinschätzung
desReichspro- pagandaministers
nicht mitderjenigen
seinerLiteraturideologen,
wie dieEintragung
vom3. Februar 1938
zeigt: „Unsere Schrifttumsabteilung spricht
sich in einem Gutachten scharf gegen Fallada aus. Ich hatte von der Seite auch nichts anderes erwartet."' Während erspäter
einvonFallada auf der Basis seinesRomans„Der
eiserne Gustav"(1937)
verfasstesDrehbuchfür einenFilmvon
Emiljannings
als „ganzgroßartig" bezeichnete,
fanderbald darauf denJanningsfilm [...]
zu niederziehend und demoralisierend.[...]
Hier haben Fallada undJannings gemeinsam
ihrerNeigung entsprechend
zu schwarzgesehen.
Ichwerde das noch mit
Jannings
zusammenausbügeln."8
Der Film wurde dann zwar doch nichtrealisiert,
doch machte Fallada auf Druck sowieaus finanziellen Gründen durch Er-gänzung
desManuskripts
über dasJahr
1928 hinaussoweitreichende KonzessionenandasNS-Regime,
dassersichvorsich selbstekelte9.
1943 wollte Goebbels die
„Buchproduktion
aktivieren" und eine Reihe antisemitischer Romane schreibenlassen, „und
zwar vonmaßgebenden Schriftstellern,
wenn sie auch nicht sovorbehaltlos zum Nationalsozialismusstehen,
wie etwa unsereFeld-,
Wald- undWiesendichter,
diezwarin ihrerGesinnung
sehrtüchtig sind,
aber nicht viel können. Ich denke hieranFallada[...]
und andereSchriftsteller,
die in derSystemzeit
einegroße
Rol-le
gespielt haben."10
Nach 1945 förderte aufVorschlag
des Schriftstellers undspäteren
Kultusministers der
DDR, Johannes
R.Becher,
dieSowjetische
Militäradministration Hans Fallada. In seinem Bericht für den amerikanischen Geheimdienst über deutsche Schrift- steller urteilte CarlZuckmayer
im Exil über Fallada:„Er
versuchte ehrlich in seiner Artweiterzuschreiben,
ohne sich inirgendwelche Nazipropaganda
einzulassen oder.mitzu-
machen'. Bis 1939 hateresauch niegetan,
wasseitdemgeworden ist,
weiß ichnicht,
neh-4
Vgl. Jenny
Williams,Mehr Leben als eins. HansFallada,Berlin22004,
S. 185ff. (zuerstengl.
1998),someHans Fallada, In meinem fremden Land.
Gefängnistagebuch
1944,hrsg.
vonJenny
Williamsund Sabine
Lange,
Berlin2009,S.273ff.(Nachwort).
5 Die
Tagebücher
vonJoseph
Goebbels,hrsg.
imAuftrag
des Instituts fürZeitgeschichte
von Elke Fröhlich,TeilI,Bd.5,München2000,S.98.6 Ebenda,S.126.
7 Ebenda, S.132.
K Ebenda,S.378
(13.7.1938)
undS.381(15.7.1938).
9
Vgl.
GünterCaspar,
Fallada-Studien, Berlin/Weimar 1988, sowie den Briefwechsel mit Ernst Ro- wohlt: HansFallada,Ewig
aufderRutschbahn. Briefwechsel mitdem RowohltVerlag, hrsg.
von Mi-chael
Töteberg
und SabineBuck,Reinbek beiHamburg
2008,S. 256ff.10 Die
Tagebücher
vonJoseph
Goebbels,TeilII, Bd.8,München 1993,S.386 (29.5.1943).me aber auch hier keine entscheidende
Standortänderung an."11 Zuckmayer
lobtesogarausgesprochen mutige Passagen
im Werk Falladas. Esbleibtschwierig,
die in diesen Ein-schätzungen
deutlich werdendenWidersprüche aufzulösen,
einunpolitischer
Autor-
wie manche seiner
Biographen
meinen -war er dennoch
nicht,
wie nichtzuletzt„Bauern,
Bonzen und Bomben" demonstrieren.Einige
Hinweise auf denLebensweg
einesAutors,
dessen Werk ohne seineBiographie völlig
unfassbarwäre,
sindnotwendig, tragen
sie doch entscheidend zurInterpretation
bei.HansFallada ist ein
Pseudonym
für RudolfDitzen,
der 1893 in Greifswaldals Sohn desLandgerichtsrats
Wilhelm Ditzen und seinerFrauElisabeth,
einerPfarrerstochter, gebo-
renwurde. Seit der
Versetzung
des Vaters lebteervon 1899 bis 1909 inBerlin,
wo er inbürgerlichen
Wohnvierteln wieSchöneberg
undWilmersdorfGymnasien besuchte,
bevorder
Vater,
zumReichsgerichtsrat befördert,
nachLeipzig
zog. 1910 machte der siebzehn-jährige
Rudolf mit dem„Wandervogel"
zumerstenMal eine weiteReise,
die ihnvomwohl- behütetenbürgerlichen
Elternhaus entfernte.Eine
Typhuserkrankung
brachte eine erste schwereKrise,
und seit1911 verliefim Le- ben Rudolf Ditzens nichts mehr„normal".
Erhegte Selbstmordabsichten,
wurde zunächst bei Verwandten in der Nähe Hannoversuntergebracht,
dann nacheinanderin verschiede-nenSanatorien in Bad Berka und
Jena,
bevorerimthüringischen
Rudolfstadt den Besuch desGymnasiums
wieder aufnahm. In einem Duell erschoss erim Oktober 1911 seinen FreundvonNeckeraufgrund
einerWette,
die sich auf die literarischenVersuche der bei- denJungen bezog.
Er wurde wegen Mordesangeklagt,
dochwegenmangelnder
Zurech-nungsfähigkeit (§52 Strafgesetzbuch)
imJanuar
1912 in einegeschlossene
Anstalt in der Nähe vonJena eingewiesen.
Im Oktober wurde er entlassen und nahm eine Lehre als Gutseleve in der Nähe des sächsischen Nöbdenitz auf. ImAugust
1914 meldete er sichfreiwillig
zumKriegsdienst,
wurde aberaufgrund
verminderterZurechnungsfähigkeit
be-reits nach 11
Tagen
entlassen und kehrteindas Gut Posterstein bei Nöbdenitz zurück. Esfolgte
eine weitereAnstellung
auf einemhinterpommerschen Gut,
bevorer1916 Assistent bei der Landwirtschaftskammer in Stettin wurde. Die hier gewonnenenAnschauungen
der ländlichen
Bevölkerung
und derpommerschen
Landschaftgingen später
in„Bauern,
Bonzen und Bomben" ein. Noch 1916 wechselteerals wissenschaftlicher HilfsarbeiterzurKartoffelanbaugesellschaft
nach Berlin.Charakterisierte
häufiger
Orts- und Stellenwechselschon dieseJahre,
sosteigerte
sichderunstete
Berufsweg noch, wenngleich
sich zwei Konstanten erhielten: Schon 1912 be- gann Falladazuschreiben,
und seit 1917 musste der immer wiederrauschgift-,
alkohol-und
nikotinabhängige Agrarökonom
und AutorinBehandlung,
zunächst in einer Heilan- staltfürSuchtgefährdete
in Carolsfeld bei Halle. 1918 stellteerseinenersten, heutever- gessenen, imexpressionistischen
Stil verfassten Roman„Der junge
Goedeschal"fertig,
musste aber 1919 erneutin eine Heilanstalt. Nach der
Entlassung
wurde erGutsrendanterstauf
Rügen,
dann inPommern,
schließlichunterbrochenvonweiteren Aufenthalten in KlinikeninMecklenburg, Westpreußen
undSchlesien.Fürden AutorHansFallada schicksalhaft wurde 1920 die
Begegnung
mitdemVerleger
Ernst
Rowohlt12,
der ihn immerwieder ermunterte, materiellsicherte,
ihm einFreundwar11 Carl
Zuckmayer, Geheimreport, hrsg.
von Gunther Nickel undJohanna
Schön, München22004,
S.106.
12
Vgl.
dazuWaltherKiaulehn,Mein Freund derVerleger.
ErnstRowohlt und seineZeit,Reinbek beiHamburg 1967,
S.124ff.u.ö.und
medizinisch-psychiatrische Betreuung verschaffte, allerdings
durch ähnlicheNeigun-
genzuAlkohol undNikotin seinem Autor und Freund nicht
gerade
einVorbildzurAbsti-nenzwar.
Jedenfalls
verbandFallada mit seinemVerleger
einetiefe, angesichts
seinerdras-tisch-negativen
Weltsicht undPersonenbeurteilung,
die für„Bauern,
Bonzen und Bom-ben" socharakteristisch
ist,
besonders bemerkenswerteZuneigung.
Doch bedurfte diesepersönliche
NäheeinerzweitenBegegnung.
Zunächst
folgten
weitereAnstellungen Falladas,
doch wechselte er sie immer wieder bzw. brach sieausunterschiedlichen Gründen ab. So wurdeerimJuli
1923 wegenUnter-schlagung
zudrei MonatenGefängnis
verurteilt.Ging
es mit dieser Haft nochhalbwegs glimpflich ab,
fandersogar wieder Stellen als Rendant oder Buchhalter-
was
angesichts
seiner
Verurteilung
überraschend genugwar-, sobrachteerneutes kriminellesVerhalten 1925wieder einenRückschlag,
dieses Malaufgrund
einer zweitenUnterschlagung
bei ei-nem
Arbeitgeber
inHolstein. Immer wieder brauchteFallada,
derstetsin Geldnötenwar, Mittel fürRauschgift.
Erstellte sich in Berlin
selbst,
wurde nunaberzueinerempfindlicheren,
weilzweiein-halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt,
dieerinNeumünster verbüßen musste.„Wer
ein- malaus demBlechnapf
frißt"schöpfte
ausdieserErfahrung,
die umeine weitereergänzt
wurde: Fallada erlebtenun,wie schwer ein
ehemaliger Strafgefangener
indie Gesellschaftintegrierbar
war. So schrieb er am 8.August
1928 an Ernst Rowohlt:„Seit
4 Monatenbin ichausder Haft entlassen. Ich habe in dieser Zeit aufjede
erdenkliche Weiseversucht,
mir Arbeitzuverschaffen:sogut
wieerfolglos.
ZurTagesschriftstellerei tauge
ichnichts,
meineManuskripte
kommen mit einer ermüdendenRegelmäßigkeit
an mich zurück.[...]
IchbinsoziemlichamEnde und weißnichtmehrausnoch
ein."13
Der
ehemalige Gymnasiast, Gutsrendant, Buchhalter,
Autorausgutbürgerlicher
Familieeines
hochrangigen Juristen
fristete sein Dasein nach derHaftentlassung
inHamburg
schließlich durchAdressenschreiben. Mit70bis 80 Mark imMonatkonnteer
leben,
doch nicht inHamburg,
wo allein die Heizkosten schon hochwaren. Deshalb kehrte ernach Neumünsterzurück-
mit seiner
großen Liebe,
AnnaMargarete Issel,
seiner„Suse",
dieer noch inHamburg
kennengelernt
hatte undimJuni
1929 heiratete.Und auch daskennzeichnet Falladas Leben: Ohne Zweifel durch seine
ständigen
Ver-fehlungen
und seineMorphiumabhängigkeit
ein Außenseiter undBohémien,
überkam ihnimmer wieder die Sehnsucht nach einembürgerlich geordneten
Dasein. Manspürt
das in seinen oft anrührenden
autobiographischen
Schriften„Damals
bei uns daheim"(1941)
und„Heute
bei uns zuHaus"(1943),
dieerals„Gruß
andie versunkenen Gärten der Kinderzeit" ansah. Selbst in seinen oftversöhnlichen,
zuweilenkitschigen
Roman-schlüssen,
die schockierend naturalistischenSchilderungen
der Gesellschaftfolgen, spürt
mandiese Sehnsucht nach der heilen Welt.
Seine durch alle Wirrnisse doch wieder durchbrechende
Neigung
zurbürgerlichen
Existenz konnteer
verwirklichen,
als sich seine wirtschaftlicheLage
verbesserte. Nachdemererstals Annoncenwerber mehrschlecht als recht über die Runden
kam,
wurdeerLokal-Reporter
beim„General-Anzeiger
für Neumünster". Tatsächlich fiel Fallada aus seinenständigen Krisen, Rauschgiftabhängigkeiten, Gefängnisaufenthalten
immer wieder auf die Füße und traf auf der FerieninselSylt
ein zweites Mal ErnstRowohlt,
der ihn abJanuar
1930 in seinem
Verlag
anstellte. Dort schrieb er an„Bauern,
Bonzen undBomben". Für13 HansFallada,
Ewig
auf derRutschbahn,S. 49f.diesen Roman hatteer1929inNeumünster unmittelbaren
Anschauungsunterricht
gewon- nen,stellt derRomandoch dieBauernunruhenund denanschließendenLandvolkprozess
in Neumünster im
Spätsommer
und Herbst 1929dar,
auchwenn erdenSchauplatz
vomrealen holsteinischen Neumünster ins fiktive
pommersche
Altholmverlegte.
„Fallada
war tiefgestürzt,
und Rowohlt hatte ihn ausder Tiefe wiederansLichtgeholt
und ihm
Startmöglichkeiten
für ein neuesLebengegeben
und damit für denAufstieg
inden
Weltruhm."14
Dieserbegann
mit„Bauern,
Bonzen und Bomben"-
der Titelstammt
von
Rowohlt,
der mit Recht Falladaseigenen
Titel„Ein
kleiner ZirkusnamensMonte",
derder
Rahmenhandlung
desRomansentlehntwar,nichtssagend
fand.Inzwischen durch sein einstweilen
geregeltes
Einkommen materiellgesichert
und Vatereines
Sohnes,
kaufte Fallada nach Publikation desRomans,
der sein erstergroßer
Ver-kaufserfolg wurde,
inNeuenhagen
bei Berlin 1931 ein Haus und arbeitete an„Kleiner
Mann
-
wasnun?". DieserRomanerschien schonein
Jahr später
und wurdeein inzwanzig Sprachen
übersetzterWelterfolg.
DasBuch wurde mehrfachverfilmt,
zuerstin Deutsch- land1933,
dann 1934 in den USA und 1970in der DDR. Falladaschildert, angeregt
durcheigene Erfahrungen,
aber auch durchSiegfried
Kracauerszuerst1929 in der„Frankfurter
Zeitung"
veröffentlichteReportagen „Die Angestellten",
die Lebenswelt derkleinbürger-
lichen
Angestellten
in den Wirtschaftskrisen nach dem ErstenWeltkrieg,
dieständig
vonder
Arbeitslosigkeit
bedrohtwaren.Sie wurden nach Falladaseindringlichen
Schilderun- gensozialbuchstäblichals„Untermenschen" betrachtet,
wennsieausder Arbeitswelt und derGesellschaftfielen.Jürgen Kuczynski
beurteilte Falladas Buch„als
diegroßartigste
Dar-stellung
dieser Seite des Lebens desArbeitslosen,
die dieWeltliteraturkennt"15.
Der Roman
„Kleiner
Mann-
was
nun?",
vondem bis März 1933ungefähr
42000 Exem-plare
verkauft wurden und dessenErfolg
sich immer mehrsteigerte
-
von der seit 1950
publizierten Taschenbuchauflage
wurden indenerstengut zwanzig Jahren
450000Exem-plare abgesetzt
-, bedeutete für Fallada einen erheblichen finanziellenGewinn,
so dasser sich nach anderen
missglückten
Kaufabsichten schließlich eingrößeres
Anwesen bei Carwitz inMecklenburg kaufte,
aufdem er von1933 bis 1944 sesshaft blieb. Dochwurdeer
aufgrund
der Insolvenz des RowohltVerlages
wiedieanderen Mitarbeiter alsLeiterdes Rezensionswesens zum 30.September
1931gekündigt.
Der äußere Anlass kam ihm indesentgegen, hegte
er doch schonlange
denWunsch,
als freier Schriftsteller zu arbeiten.Nach demdurch
„Bauern,
BonzenundBomben"(1931)
sowie„Kleiner
Mann-
wasnun?"
(1932)
erreichten Ansehen und materiellen Ressourcenbestandendafürnunendlich dieVoraussetzungen.
Seinespäter fünfköpfige
Familie konnte sichgroßzügig
einrichten.Trotzdem bliebenneue
Schwierigkeiten
nichtaus:Seine durch Rowohlt väterlichgerüg-
te
Verschwendungssucht (Junge,
haltdiePiepen zusammen!"),
Rückfälle in die Alkohol-abhängigkeit,
Nikotin- undMorphiumsucht,
seineHerzprobleme, gehörten
dazu.Uber-
raschendwar,dass Falladatrotzsolcher Lebensweise ein
disziplinierter
Arbeiter blieb und ein Buch nach demanderen,
einen Artikel nach dem anderen schrieb. So veröffentlichteer 1936 einen fast
tausendseitigen
Roman über die Berliner Gesellschaft der Inflations-jahre
-übrigens
mit einerHauptfigur,
die ebenfalls ausder„Bürgerlichkeit" gefallen
war-,doch handelteessich nichtumden Sohn eines
Richters,
sonderneinesDiplomaten: „Wolf
unterWölfen".
14 Kiaulehn,Mein Freund der
Verleger,
S. 124.15
Jürgen Kuczynski,
Geschichte desAlltags
des deutschen Volkes, Bd.5: 1918-1945, Köln 1982, S.107.1943 verbrachte Fallada als Sonderführer des Reichsarbeitsdienstes mehrere Monate in
Frankreich;
ersollte über dessen„Erfolge" gleichsam
einen offiziösen Berichtveröffent- lichen. Seine drei letztenLebensjahre
brachten eineVerwicklung
nach der anderen: Im Sommer 1944 verfielereiner sehr attraktivenWitwe,
diewegen derBombenangriffe
aufBerlin in ihr ebenfalls in Carwitz
gelegenes
Landhaus kam: Ursula Losch. Die mondäne Berlinerin war ebenfallsMorphinistin
und Alkoholikerin und schwächte durcheigene Haltlosigkeit
Falladaeher,
als ihn zustützen,
wieesingewissen
Grenzen immerhin seine Frau Suse vermocht hatte. Fallada ließ sichscheiden,
obwohlerverschiedentlich Versuchezueinem
Neuanfang
mit Suse machte. Sie wohnten noch immer imgleichen
Haus in Car-witz;
während eines Streitsgab
ereinen Schussab,
umsiezuerschrecken,
undwurdean-schließend wegen Mordversuchs an seiner
geschiedenen
Frauangeklagt
-obwohl beide diesen Verdacht bestritten. Wieder einmal landete er für dreieinhalb Monate in einer Heilanstalt
-
wo erin nurzwei Wochen das
schonungslos-aufrichtige
Buch„Der
Trinker"schrieb
-
nicht wie
Joseph
Roth der„heilige"
Trinker..Alles
in meinem Leben endetin einemBuch",
schriebereinmal. Als Roman ehermisslungen,
handeltessich um ein er-schütterndes
Zeugnis
desAnstaltslebens,
vorallem aber der nüchtern sezierten Selbstzer-störung16.
Weitereeinschlägige
Berichte über Anstalts- undGefängnisaufenthalte
sowieautobiographische Erzählungen
wurden ebenfallspostum veröffentlicht,
u. a.„Sachlicher
Bericht über das
Glück,
einMorphinist
zusein"17
sowie„In
meinem fremden Land. Ge-fängnistagebuch 1944"18.
Kurzvor
Kriegsende,
am 1.Februar1945,
heiratete der Schriftsteller Ursula Losch und wurde nach derdeutschenKapitulation
vomJuni
biszumOktober 1945in demzursowje-
tischen
Besatzungszone gehörenden mecklenburgischen Feldberg
alsBürgermeister
ein-gesetzt,
nachdem erzunächsteinige
Wochen als Kuhhirte hatte arbeiten müssen.Völlig
überfordert, deprimiert
über die Niedertracht auch seinerUmgebung,
weiterhindrogen- abhängig
und vonseiner zweiten Frauständig
mitMorphium versorgt,
brach Falladazu- sammen.Danachmussteererneutineine Heilanstalt undübersiedelte anschließendnach Berlin.ImOsten der Stadt arbeiteteerdurchVermittlung
vonJohannes
R.BechernunalsRedakteur der
sowjetischen Besatzungszeitung,
der„Täglichen
Rundschau". Becher hatte dafürgesorgt,
dass Fallada finanziellgesichert wurde,
weiler vonihm einengroßen
Gesell-schaftsroman über das nationalsozialistische Deutschland erhoffte. Auch das
Jahr
1946er-zwang
aufgrund
seinerMorphiumabhängigkeit
und zunehmenden Herzschwäche eine Reihe vonKlinikaufenthalten. Schließlich zog sich Falladavon seiner zweiten Fraunoch eine Geschlechtskrankheitzu-
der Preis für ihre
Fähigkeit,
bei denBesatzungssoldaten Morphium,
Alkohol undZigaretten
zubeschaffen.Währendder letzten Monate im Krankenhaus verfiel Fallada
geradezu
einem Schreib-rausch.Im Oktober 1946 vollendeteerin nurdreieinhalb Wochen die
Erstfassung
seinesletzten,
etwa550 Druckseiten umfassenden RomansJeder
stirbt für sich allein": Danachbegann
ersogleich
mit der redaktionellenÜberarbeitung
und starbam5. Februar1947imKrankenhausBerlin-Pankow.
Wenige
Monate zuvorhatte erseinen Roman„Der Alpdruck"
veröffentlicht. Der Held seinesRomansmit Namen Doliträgt Züge Falladas;
über ihn heißtes:„Doli
nannte dies rascheAusgelöschtwerden
durch Medikamente seinen Kleinen Tod. Er liebte ihn. In derAusdein schwer lesbaren
Manuskript
rekonstruiert,erschien der Romanzuerstpostum1950.Hrsg.
vonGünterCaspar,
Berlin2005,zuerst1997.Hrsg.
vonJenny
Williamsund SabineLange,
Berlin 2009.letzten Zeit hatte er soviel anseinen
Bruder,
den Großen Todgedacht,
erhatte in ihmgelebt, gewissermaßen
HautanHaut;
erhattesichdarangewöhnt,
ihn als dieeinzige,
ihmnochverbliebene
Hoffnung anzusehen,
die ihngewiß
nicht enttäuschenwürde."19
III.
Die
Handlung
von„Bauern,
Bonzen und Bomben" ist schnell erzählt.Aufgrund
derschwierigen
materiellenLage
in der Landwirtschaft kam es seit 1928 in derdamaligen preußischen
ProvinzSchleswig-Holstein
immerwiederzuBauernprotesten
und anschlie- ßendenProzessen20.
Eine dieser Demonstrationen hatte Fallada in Neumünster als Anzei-genwerber
im„General-Anzeiger" miterlebt;
im anschließendenzwölftägigen
Prozess imNovember 1929war er Berichterstatter für das Lokalblatt.In seinem Roman übernimmt diese Rolle eine der
Hauptfiguren, Tredup genannt,
aber außer dieserfaktischenUberein-stimmung
kannmandieRomanfigur
nursehrbegrenzt
alsautobiographische
Charakteri-sierung
ansehen.Die Bauern in den
umliegenden
Dörfern der kleinen Industriestadt Altholmempfin-
den die Steuern als weit überhöht und wollen sie nicht bezahlen. Bei der
Pfändung
einerKuh kommteszuZwischenfällen
protestierender
Bauern undsogarzueinem Bombenan-schlag (ohne Verletzte),
der aber nicht auf das Konto derüberwiegend
friedlichagieren-
den Bauern
geht,
sondern einesRechtsextremisten,
dermitanderenGleichgesinnten
denUnmut derBauern für
eigene
Ziele instrumentalisieren will. DieEntwicklung
verschärftsich,
als einer derBauernführer,
im Roman Reimersgenannt,
verhaftet wird. Etwa 3000 Bauern ziehen nachAltholm,
umdort friedlich zudemonstrieren. Diese kleine Industrie- stadt mitetwa40000Einwohnernist eine Domäne der Arbeiter und hatfolglich
eine klaresozialdemokratischeMehrheitim Stadtrat.
Im Vorfeld wird
klar,
dass es unterschiedlicheAuffassungen
imRegierungspräsidium
sowie beim
Bürgermeister
Gareis über dasVorgehen
der Polizeigibt:
Während er über-zeugt ist,
die Bauern würden sich friedlichverhalten,
under,um sichdieseEinschätzung bestätigen
zulassen,
Kontakt mit ihnenaufnimmt, verlangt
derAbgesandte
desRegie- rungspräsidenten
Temborius den Einsatz derSchupo,
um Staatsautoritätzu demonstrie-ren.Die
Schupo (200 Mann)
wirdan einem Ortvorden Toren der Stadtstationiert,
umgegebenenfalls eingreifen
zukönnen,
zumal die städtische Polizei nur20Mann einsetzen kann: 20 Polizisten gegen 3000 demonstrierende Bauern! Welche Chance hätten die Poli- zistengehabt,
wenn dieBauern tatsächlichgewalttätig
gewesenwären?Natürlich keine!Diese realistische
Einschätzung
zieht sich durch den Romanund dientunteranderemals
Beweis,
dass die Bauern eben keineGewalttätigkeit
im Sinn hatten. Tatsächlich eska- liert die Situationaber,
weil derzuständige (sozialdemokratische) Polizeioberinspektor
Frerksen die Nerven verliert: Als die an der
Spitze
desZuges getragene
schwarz-weiß-rote Fahne nichtniedergelegt wird,
fordert er dies mitNachdruck,
weil erdie Farbkombina- tion alsprovokativ empfindet,
was ihrTräger,
der rechtsextremeHenning,
durchaus be-absichtigt
hatte. Derschon zuBeginn
der WeimarerRepublik
schwelendeFlaggenstreit
10 Zit.bei
Jürgen Manthey,
HansFallada,Reinbek beiHamburg
1989,S.160.20
Vgl.
dazu Michelle Le Bars,Le mouvementpaysan dans leSchleswig-Holstein
1928-1932, Bern/Frankfurta.M./NewYork1986;NilsWerner,Die Prozessegegendie
Landvolkbewegung
inSchleswig-
Holstein1929/32.EinBeilragzur
Justizkritik
inderspäten
WeimarerRepublik,
Frankfurta.M.2001.zwischen den demokratischen
Anhängern
vonSchwarz-Rot-Gold und den deutschnationa- lenRepublikgegnern,
die für Schwarz-Weiß-Rotwaren, bildet denHintergrund,
der aberimRoman nicht
eigens
erläutert wird-
einvonFallada
häufig
verwendetes Verfahren: Er nenntgravierende politische
Faktoren odersymbolische Akte,
derenBedeutung
sich fürdie
Zeitgenossen
von selbstversteht,
und verweistunter dieserVoraussetzung
aufpoliti-
sche Kontexte.
Ohne
Weisung
desBürgermeisters
setztFrerksen nach dem blamablen Verlust seineseigenen
Säbels städtische Polizeiein,
diemitSäbeln auf denFahnenträger
undeinige
an-dere Demonstranten sowie einen offensichtlich
völlig unbeteiligten
und hilflosen Dentis-teneindrischt. Mehrere Menschen werdenzumTeilschwer verletzt und
tragen
bleibende Schäden davon.Es
folgt
eine unübersichtliche Diskussion der Ursachen und derSchuldigen,
diezu ei-nem
Gegeneinander
verschiedener entweder materiell oderpolitisch
interessierter Pro- vinz- undStadtpolitiker führt,
dieKonkurrenten ausschalten oder ihnen zumindest scha- denwollen. DieBauernkommenzueinemgeheimen,
mittelalterlich anmutenden„Thing"
zusammen und beschließen einen
Boykott
der Stadt. Die kleinewirtschaftsbürgerliche,
zumTeil im Stadtratvertretene Schicht fürchtet oder erleidetnun erhebliche
Einbußen,
wasauch die Arbeiterzu
spüren
bekommen. Doch sindsievorallemauspolitischen
Grün-den gegen die
-
soweit erkennbar
-
antirepublikanischen
oder deutschnational orientier-ten Bauernund wünschen deren
Bestrafung.
ImGegensatz
zuden Arbeitern wollen die Gewerbetreibendenzueinem schnellenAusgleich
mit den Bauernkommen,
umden wirt- schaftlich schädlichenBoykott
der Stadt durch dasumliegende
Landzubeenden.Bürger-
meister Gareisstütztindessenaus
prinzipiellen
Gründen seinenPolizeioberinspektor
undParteifreund,
den in der Stadtunbeliebten,
durchs„rote"
Parteibuchaufgestiegenen
Frerksen. Der
Regierungspräsident verfügt
aber ohneRücksprache
mitdemBürgermeis-
ter, der dessen
Dienstvorgesetzter ist,
FrerksensAblösung,
umdie Situationzuberuhigen,
aber auch um
Gareis,
der sich beim Preußischen Innenminister in Berlinrückversichert,
eins auszuwischen. Dabei erwähnt Fallada diein diesemZusammenhang
durchaus erheb- liche Tatsachenicht,
dassinder Realität derRegierungspräsident
derDDPangehörte
undBruder des Staatssekretärs im Innenministerium Wilhelm
Abegg
war.Bis zum Prozess
spinnen
alleBeteiligten ständig Intrigen,
arbeiten mit Invektiven undDiffamierungen.
DerAusgang
des Prozesses schließlich scheinteinige Tage lang offen,
bisder
Bürgermeister
durch einevon ihm zwargesehene,
aber unterschätzteIntrige
in dieEnge getrieben
wird.DasGericht fällt salomonische Urteile: einenFreispruch
fürdentat-sächlich
unbeteiligten,
aber ebenfalls wegen Widerstands gegen dieStaatsgewalt angeklag-
ten
Dentisten,
dernunAnspruch
aufEntschädigung
durch die Stadthat,
sowieGefängnis-
strafenvonzwei bis drei
Wochen,
die allesamt durch die Haft verbüßtsind,
für diewenigen übrigen Angeklagten.
DasVorgehen
der Polizei wird als unangemessen, aber nachvollzieh- bar beurteilt.„Objektiv
ist die PolizeiimUnrecht,
abersubjektiv
istsieim Recht.Wasfang
ich mitsoeinem Urteil beimeinen Bauern
an?",
stöhnt der RedakteurStuff,
der für eineBauernzeitung
über den Prozessberichtet21.
Bürgermeister
Gareis wirdvon seinereigenen Partei,
derSPD, fallengelassen
-
nicht,
weilerim ProzessalsZeuge
in einelange
vondeneigenen
Leuten vorbereitete Falle ge-tappt
warund sichinWidersprüche
verwickelthatte,
sondern weilersich bei den Partei- freunden unbeliebtgemacht
hatte: Sie sehen ihn nicht mehr als Arbeitervertreteranund21 HansFallada,Bauern,Bonzen undBomben,Reinbekbei
Hamburg
1964,S.415.mäkeln anseiner dominanten
Selbständigkeit
herum. Mit demTrostpflaster
eines ande-ren
Bürgermeisteramtes, allerdings
einer halb sogroßen
Stadt imRuhrgebiet,
will diePartei ihn
abfinden,
um einen lautlosenAbgang
zusichern. Gareisakzeptiert,
nachdemereinsehenmuss,dass selbst seine
kampferprobte
Kraftnatur gegen dieParteiintrige
der Mit-telmäßigen
nichtmehrankommt. Er macht die ihn nicht überraschendeErfahrung,
dassfast
alle,
die vorhervor ihmkatzbuckelten,
ihn nun nicht einmal mehrgrüßen
-
außer seinem
getreuen
Assessor Stein und seinemalten,
eherrechtsgerichteten Gegner Stuff,
der ebenfalls seine feste Stelle verloren hat und den „roten Bonzen" Gareis zwar nicht ausstehen
kann,
ihminsgeheim
aberRespekt
zollt. Der Redakteurvergleicht
dengestürz-
ten
Bürgermeister
mit seinemvermutlichenNachfolger,
dem zur DDPgehörigen
Kauf-mannManzow:
„Der
GareiswareinSchwein,
aberertatwas.Der ManzowisteinSchwein,
aberertutnichts. Schlechter Tausch fürAltholm."22
Der souveräne Gareis bietet Stuffso- gar an, mit ihm in seine neueWirkungsstätte
Bredazugehen,
erbeklagt,
dass niemandum der Sache
willen,
sondern alle immernur „ausirgendwelchen mickrigen
Interessen"handeln. Under selbst habe auch
mitgemacht
in diesem„Zirkus Monte",
genauwie die anderen:„Nicht
genauso,Bürgermeister,
nichtgenauso",
kommentiert der AssessorStein,
doch Gareis beharrt.„Aber
in Breda wird alles anders?"„Ich
hoffestark",
schreitGareis schonausdem abfahrendenZug.
Das alles wird
flott, ausgesprochen spannend,
insalopper,
zuweilen drastischerAlltags- sprache erzählt,
und zwarüberwiegend
aus derPerspektive
der Redaktionen mehrererLokalzeitungen
bzw.ihrerRedakteure. Dies ist ein Blickvonaußen auf diePolitik,
auf die Gesellschaftder Stadt und dieBauern,
aberaucheinBlickvoninnen,
weil dieZeitungen,
ihre Redakteure und
Herausgeber
genauso illusionslos kritischgeschildert
werden wieihre
Umwelt,
deren Reflex sie sind.Welche Absicht
verfolgte
Fallada mit seinemRoman,
den er zu dieser Zeit noch„Ein
kleiner Zirkus namens Belli"(im
Romanspäter „Monte")
nannte? Nachdem er aufdie Bauerndemonstration und denBoykott
vonNeumünsterimSpätsommer
1929eingegan-
gen war, berichtete er am 14.
August
1929 an Ernst Rowohlt über denZusammenhang
seiner
eigenen
beruflichen Situation mit demRomanprqjekt: „Meine Stellung
ist dabeibesonders
verzwickt,
denn auf dereinen Seite bin ichfür eine ganz rechts stehende Zei-tung tätig,
auf der anderen Seite bin ich aber auchAngestellter
des Wirtschafts- und Ver-kehrsvereins,
dessen Vorsitzender derBürgermeister Lindemann,
der PolizeichefvonNeu- münster ist. Ich sitze tatsächlich zwischen zweiStühlen,
binvormittags
gegen die Polizei und fürBürgertum
undBauern undnachmittags umgekehrt.
Bisher habe ich noch ganz hübschlaviert,
und das Interessanteste istdabei,
dassmanauf diese Weise Einblicke in dasRegiment
so eines Nestesbekommt, Kämpfe
umMacht,
kleineEifersüchteleien,
Geld-sackangst, Parteidisziplin, Geschrei, Drohungen, Lavieren,
soviele bekehrteSaulusse,
dieumgehend
wieder sich neubekehren lassen-
esistschon wunderhübsch. Diesen Winter soll meinneuerRomannunTatsache werden. Meine Frau übt schon
eifrig
auf der Schreib-maschine,
der Titel istfertig, ,Ein
kleiner ZirkusnamensBelli' und die Geschichte einer verkrachendenKleinstadtzeitung wird's."23
Offenbarwardie
ursprüngliche
Intention desRomansviel enger,was auch denzuerst erwogenen Titel erklärt: In dem Romanverreißt der Redakteur eineVorstellung
des Zir-kus Monte nuraus dem einen
Grund,
weil dieser sichgeweigert hatte,
in der„Chronik"
22 Ebenda,S.420.
23 HansFallada,