• Keine Ergebnisse gefunden

Wir müssen reden

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Wir müssen reden"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Bayerisches Ärzteblatt 5/2015

239 Meinungsseite

Politiker und Ärzte sind sich seit Jahren einig: Die „sprechende Medizin“ muss ge- stärkt werden. Passiert ist bisher aber kaum etwas. Das liegt nicht nur an der mangelhaften Bezahlung.

Acht Minuten. So wenig Zeit hat ein deutscher Arzt im Durchschnitt für ein Gespräch mit einem Patienten. In einfachen Fällen, bei einer schnell diagnostizierten Erkältung oder Grip- pe mag das reichen – in anderen kann es fatal sein. Weil es nicht nur eine schlechte Erfahrung für den Kranken bedeutet, sondern auch des- sen Heilung gefährdet.

Ein Patient, der zum Beispiel Schmerzen hat, aber nicht weiß wieso, ist erst einmal verun- sichert. Er googelt „Magenkrämpfe“ und stößt auf Webseiten und in Internetforen auf aller- hand mögliche Ursachen – von einer Gastritis bis hin zum Tumor. Mit seinem gesammelten Halbwissen kommt er in die Praxis und hofft auf Aufklärung. Wenn der Mediziner ihn dann nach wenigen Minuten in seiner Erzählung unterbricht – Studien haben gezeigt, dass das durchaus vorkommt – und ihm womöglich gleich noch ein Rezept in die Hand drückt, steht er hinterher immer noch ziemlich ratlos da. Solche Situationen können einer der Grün- de dafür sein, dass Vertrauen verloren geht oder gar nicht erst entsteht. Dabei ist lange be- kannt, dass gerade dieses Vertrauen wichtig für den Heilungserfolg ist.

Allein deswegen ist es erstaunlich, was für ein vergleichsweise kümmerliches Dasein die „spre- chende Medizin“ in Deutschland immer noch fris- tet. In anderen Ländern haben Mediziner deut- lich mehr Zeit dafür. Wenn man sich allerdings die Zahlen anschaut, muss man sich fragen, wo- her diese Zeit hierzulande eigentlich kommen soll: Jeder Arzt versorgt im Schnitt 224 Pati- enten in der Woche, wie eine Erhebung der Bar- mer GEK gezeigt hat. Das sind rund 45 am Tag.

Leider haben also nur die Wenigsten die Chance,

sich 20 oder 30 Minuten für jeden Einzelnen zu nehmen – und seien sie noch so engagiert.

Jeder Politiker, der sich ein wenig mit der Bran- che beschäftigt, kennt dieses Dilemma. Und trotzdem haben die Volksvertreter ebenso wie die Krankenkassen die „sprechende Medizin“

viel zu lange vernachlässigt. Das mag auch an der Technikverliebtheit liegen, für die Deutsch- land bekannt ist: Immer neue Laborleistungen und modernere Geräte sind in den Vordergrund gerückt – und es ist ja auch unbestritten, dass sie vielen Patienten das Leben erleichtern oder sogar retten können. Wer solche Diagnose- und Therapieverfahren anbietet, kann meist mit einer ansehnlichen Vergütung rechnen.

Übersehen wurde leider, dass durch den me- dizinischen Fortschritt das Gespräch mit dem Arzt nicht weniger wichtig, sondern im Gegen- teil noch wichtiger wird – und deswegen auch anständig bezahlt werden sollte.

Das ist bis heute leider nicht der Fall. Die ver- gleichsweise mickrige Vergütung macht es für Ärzte auch finanziell schwierig, ihre Patienten länger zu beraten. Kurz: Wer sich immer so viel Zeit nehmen würde, wie er gern wollte, wäre wohl irgendwann pleite – und müsste auch Pa- tienten ablehnen. Geld wird an anderer Front verdient, oft mit Privatpatienten und IGe- Leistungen. Es ist also gewissermaßen auch ein Fehlanreiz der Krankenkassen, dass eine IGe-Leistung sich finanziell mehr lohnt als eine halbe Stunde Beratung.

Das zu ändern, könnte unserem Gesundheits- system als Ganzes guttun. Bisher geben wir mehr dafür aus als die meisten anderen europäischen Länder – laut OECD investiert Deutschland derzeit jährlich etwa 4.000 Euro pro Einwoh- ner. Und die Kosten steigen seit Jahrzehnten;

irgendwann werden sie so hoch sein, dass die Kassen immer weniger Leistungen bezahlen können. Deswegen gilt es, frühzeitig umzuden- ken und Prioritäten zu setzen. Natürlich wird eine bessere und besser bezahlte Patientenbe-

ratung allein unser Gesundheitssystem nicht retten. Aber sie könnte zum Beispiel dazu bei- tragen, unnötige Behandlungen zu vermeiden – und damit auch unnötige, viel höhere Kosten für die Solidargemeinschaft. Und: Würden die Deutschen vielleicht weniger häufig im War- tezimmer sitzen, wenn sie das erste Mal aus- führlicher aufgeklärt werden? Möglicherweise.

Dann hätte der Mediziner auch mehr Zeit für seine übrigen Patienten.

Ein wenig hat sich immerhin inzwischen getan:

Hausärzte dürfen zum Beispiel wieder eine Ge- sprächsziffer abrechnen – und zwar neuerdings nicht nur, wie seit 2013, bei „lebensverän- dernden“, sondern auch bei „schweren“ Krank- heiten. Diese Ziffer gilt als eigene Leis-tung, kann also eine zusätzliche Einkommensquelle sein. Das ist gut so. Nun liegt es an den Medi- zinern, sie auch wirklich zu nutzen. Ausreichen, um der „sprechenden Medizin“ dauerhaft mehr Platz einzuräumen, werden solche einzelnen Verbesserungen nicht. Aber sie zeigen immer- hin, dass ein Umdenken begonnen hat: Acht Minuten sind nicht mehr genug.“

Autorin

Sarah Benecke, Politikredakteurin der „Nürnberger Nachrichten“

Wir müssen reden

Anmerkung der Redaktion: Gastkommentare geben die Meinung des Autors und nicht grundsätzlich die Meinung der Redaktion/

der Bayerischen Landesärztekammer wieder.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Wir haben zwei repräsentative Umfragen in der Altersgruppe der 16- bis 35-Jährigen 4 durchführen lassen und die Ergebnisse belegen: Trotz Corona ist das Interesse

Die vielen Veranstaltungen hinterließen auf der einen Seite den Eindruck, dass die Bran- che riesigen Gesprächsbedarf hat; anderer- seits aber auch, dass die Frankfurter Buch-

Wenn der Patient ein Spray anwenden muss, kann dieses Medikament die natürlichen Abwehrkräfte im Mund derart schwächen, dass es zu einer Pilzbildung kommt, der dann Mundgeruch

Immer noch dürfen und können wir leider keine Gruppenstunden mit euch gemeinsam machen. Deswegen haben wir uns etwas für euch überlegt. Es ist eine Art

Da schwingt zweitens die Bedeutung dieser Wahl für viele unse- rer Nachbarn und engen Partner mit – und auch für Kontrahenten: der Kurs deutscher Außen-, Europa-

Es ist nicht nur eine Zeit, in der viele Menschen liebgewonnene Gewohnheiten überdenken und auf wichtige persönliche Kontakte verzichten müssen – gerade auch die LSBTI-

Auch das Jahr 2020 ging leider nicht vorbei, ohne dass wir liebgewonnene Menschen für immer loslassen müssen.. Wir verabschieden

Könnten Sie mich bitte wenn möglich noch heute kurz zurückrufen.. Ich bin bis XX Uhr im Büro unter der Nummer