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Zur Textkritik des Kudatku Bilik.
Von
Dr. med. Otto Alberts (Berlin).
Durch die im Auftrage der Kaiserlichen Akademie der Wissen¬
schaften zu St. Petersburg bewirkte Herausgabe eines Pacsimile
der uigurischen Handschrift des Kudatku Bilik (St. Petersburg 1890)
hat Herr Prof. Dr. W. Radlofi' sich ein grosses Verdienst um die
Sprachwissenschaft erworben. Die von demselben bekannten Ethno¬
logen und Linguisten redigierte und 1891 erschienene kritische
Textausgabe , die mit einer sehr wertvollen Einleitung ausgestattet
ist, führt den Titel: Das Kudatku Bilik des Jusuf Cbass-Hadschib
aus Bälasagun.
Es ist der Zweck dieser Zeilen, nachzuweisen, dass die beiden
letzten Worte „aus Bälasagun« fortfallen müssen, weil sie auf un¬
richtiger Lesung des Originaltextes beruhen.
Da nirgends sonst im Texte die Stadt Bälasagun erwähnt wird,
so handelt es sich lediglich um die Lesung des Originaltextes
S. 3, Zeile 11 bis 13 v. o.
Radloff hat diese Stelle folgendermassen transskribiert*):
,pu hidäpni äm qoSuqny (ajmys) Palazagun mawlutluq
pargys (?) idizi är turur", und folgendermassen übersetzt^):
„Dieses Buch, diese Verse (hat verfasst) ein Mann, der aus
Belassagun gebürtig und der Besitzer ist«.
Vergleicht man die Radloff'sche Transskription mit dem Original¬
text, so ist zunächst zu konstatieren, dass, um die Stelle verständ¬
lich zu machen , Radloff geglaubt hat , die beiden Worte äm und
1) Fol. XCU b, Zeile 6—4 v. u. des transskribierten Textes. St. Peters¬
burg 1891.
2) Fol. nib, Zeile 10—18 v. o. des Facsimile - Textes. St. Peters¬
burg 1890.
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716 Alberts, Zur Textkritik des Kudatku Bilik.
ajmyä einschieben , bezw. ergänzen zu müssen : geben die Worte
des Originaltextes ohne die Radloff'schen Zusätze , also die Worte :
„pM kidäpni qoiiuqny Palazaifun mawlutluq pargys (?) idizi dr
turur", für sich betrachtet, keinen verständlichen Sinn? Ich glaube
wohl , vorausgesetzt , dass man die beiden zwischen qosuqny und
mawlutluq stehenden, getrennt geschriebenen Worte nicht, wie
R. gethan, als ein Wort und Palazagun, sondern als zwei Worte
und pilä sanaqat liest und vorausgesetzt, dass man in pargys das
pers. perhiz = Diät, Enthaltsamkeit wiedererkennt, in ärturur das
osman. erdirir = lässt gelangen. Das pilä in qosuqny pilä der
streitigen Stelle ist ebenso geschrieben, wie das pilä in aiqarlary-
pilä auf Seite 2, Zeile 10 v. o. ; es liegt kein zwingender Grund
vor, hier pilä, dort pala zu lesen. Da ferner das finale un von
dem finalen t in der uigurischen Schrift nur dann zu unterscheiden
ist, wenn, was hier nicht geschehen, durch einen diakritischen
Punkt über dem finalen n angedeutet ist, dass nicht t, sondern
un zu lesen ist , so liegt ebensowenig ein zwingender Grund vor,
hier un zu lesen und , wie R. will , sagun. Zweifellos ftingt das
Wort mit s an und hat an drittletzter Stelle den Konsonanten
eain oder gain , der vor dem finalen t (welches ich an Stelle des
un lese) dem Worte subskribiert ist. Erwägt man nun , da.ss
zwischen dem Anfangs-« und Schluss-^ sechs Erhebungen des kalem
mit der Lupe zu unterscheiden sind, so zwar, dass erst den beiden
letzten, dem Wortende näheren beiden Erhebungen das eain sub¬
skribiert ist, so muss man sanaqat lesen: auf die 3a je eine, auf
n eine , auf q = eain zwei Erhebungen , zusammen sechs. Noch
mehr springt das in die Augen , wenn man das saqantin = sa-
qatin^) = sacatin Seite 103, Z. 1 v. o. zur Vergleichung heran¬
zieht , auch bezüglich der Stelle des subskribierten eain ; ebenso
die drei verschiedenen Schreibweisen von qanaqat Seite 4, Z. 1 v. o.
und Z. 6 V. 0. und Seite 5, Z. 2 v. o.
Die Porm erdirdi = liess gelangen, findet sich z. B. Seite 16,
Z. 18 V. 0. Dass statt synacat = Kunst sanacat geschrieben ist,
beweist nichts gegen meine Lesung ; man hört z. B. osm. statt
mysqab (Bohrer) matqab , statt myihare (Lederflasche) matara ;
kom. statt insan (Mensch) asan u. a. m., das Wort ist also ge¬
schrieben, wie es gesprochen wurde.
Endlich korrespondiert meine Lesart mit der Einleitung in
Versen Seite 7, Zeile 4 v. o. ff., wo hüner liq er dem sanacat
idizi entspricht, kisiler baäy dem mawlutluq idizi und fezail
oquslar bile araste dem perMz idizi. Es ist also zu übersetzen:
Dieses Buch und diese Verse lässt (zu uns) gelangen d. h.
1) Cfr. S. 8, Z. 18 V. 0. dewiet syfanty statt syfaty ist dialektische euphonische Epenthesis eines n vor t, wie z. B. im cag. tilmanc (Dolmetscher), im koman. alpant = dem ar. elbette, natürlich. Im osm. fyrsant statt fyrsat (Gelegenheit).
Alberts, Zur Texthritik des Kudatku Bilik. 717
verdanken wir einem künstlerisch hochbegabten,
hochgeborenen und sehr tugendhaften Manne.
Schliesslich will ich es nicht unterlassen, noch hervorzuheben,
dass auch Vämbery (Uigurische Sprachmonumente und das Kudatku
bilik. Innsbruck 1870. S. 45) schon die fragliche Stelle zwar
nicht übersetzt, aber doch, so weit er sie entziifern zu können
glaubte , folgendermassen transskribiert hat : Bu kitabm koSultm
bile saat mewlucUik idisi er turur. Man braucht also
nur sana'at statt saat zu lesen und zwischen mewludlik und
idisi das Wort perhiz einzuschalten, um den unverstümmelten Text
zu erhalten.
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Aufruf.
Nachdem Seine Majestät der Kaiser darch Allerhöchsten
Erlass vom 10. Mai 1897 die Mittel zur Herausgabe eines Wörter¬
buches der ägyptischen Sprache Allergnädigst bewilligt haben,
haben die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, die Königl.
Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig und die Königl.
Akademie der Wissenschaften'zu München eine Kommission
zur Leitung dieser Arbeit eingesetzt, die aus den Unter¬
zeichneten besteht.
Das „Wörterbuch der ägyptischen Sprache" soll den ge¬
samten Sprachschatz umfassen, den die in hieroglyphischer (bez.
hieratischer) Schrift geschriebenen Texte uns bewahrt haben;
die demotischen und koptischen Texte sollen dagegen nur so
weit herangezogen werden, als es die Erklärung hieroglyphisch
geschriebener Worte verlangt.
Die Sammlung des Materiales erfolgt vermittelst des be¬
sonderen bei dem „Thesaurus linguae latinae" ausgebildeten
"Verfahrens, das es erlaubt, flir jedes Wort sämtliche Belegstellen
mit verhältnismässig geringer Mühe zu vereinigen. Bei der
schliesslichen Verarbeitung dieses Materials werden dann natür¬
lich nur die wesentlichsten dieser Belegstellen angeführt. —
Die Dauer der Arbeit bis zum Beginn des Druckes ist auf etwa
elf Jahre berechnet.
Die Durchführung dieses grossen Unternehmens hat aber
zur "Voraussetzung, dass den Bearbeitern die erhaltenen Texte
in möglichster Vollständigkeit und Genauigkeit vorliegen; es
müssen auch solche Inschriften und Papyrus verarbeitet werden
können, die noch unveröffentlicht sind, und es muss freistehen,
die schon veröffentlichten Texte, wo es nötig erscheint, nach¬
zuprüfen.
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