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Denn es ist die Folge der auf den Jüngsten Tag zustrebenden Weltgeschichte, daß gute Taten für immer vermerkt werden, Verfehlungen niemals getilgt oder korrigiert werden kön¬ nen

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Von Tilman Nagel, Göttingen

Das kosmische Gesetz des Werdens und Vergehens enthielt, so lautet eine

des öfteren vorgetragene und wohlbegründete Ansicht, für die von griechi¬

schem Denken geprägte Antike zugleich die letzte dem Menschen erreichbare

Deutung seiner Geschichte; die Geschichte verlief also zyklisch. Dem setzte

das Judentum seit den Propheten den Glauben an einen zielgerichteten, un¬

umkehrbaren und einmaligen Verlauf entgegen, der im Endgericht —

Schrecknis und Verheißung zugleich — seinen sinnerfüUten Endpunkt fin¬

det.' Das Christentum übernahm diese jüdische Deutung. Christliche Denker

nahmen es auf sich, die gesamte ihnen bekannte Weltgeschichte nach diesem

Muster umzudeuten. Orosius, ein Schüler des Augustinus, schrieb um 418

seine historiarum adversum paganos libri septem, in denen alle Ereignisse

seit der Schöpfung der Welt den einen Zweck erkennen lassen, ,,den Men¬

schen zu seinem Schöpfer zurückzuführen".^

Auch für den arabischen Propheten ist die Einsicht, daß alles irdische Ge¬

schehen allein unter dem Blickwinkel des unabwendbaren Endgerichts be¬

trachtet werden dürfe, die ihn tief erschütternde Erfahrung der ersten Jahre

nach seiner Berufung. Diese Erfahrung schlägt sich nieder in den bewegen¬

den Worten, mit denen immer aufs neue die erschreckende Umwälzung, ja

Zerstörung aller gewohnten Ordnung des Diesseits beschworen wird, die dem

Anbruch des Gerichts vorausgehen soll: Die Berge werden eingeebnet, die

Meere fließen ab, die Erde öffnet sich und gibt die Gebeine der Toten frei.

Die Menschen werden neu geschaffen, damit der Herr mit ihnen abrechne,

,,und wer nur das Gewicht eines Stäubchens an Gutem getan hat, wird es se¬

hen "3.

Im Angesicht dieses Gerichts erhält alles Tun und Lassen des Menschen

eine einmalige und unabänderliche Bedeutung. Denn es ist die Folge der auf

den Jüngsten Tag zustrebenden Weltgeschichte, daß gute Taten für immer

vermerkt werden, Verfehlungen niemals getilgt oder korrigiert werden kön¬

nen. Gegen diese beunruhigende Imphkation der prophetischen Verkündi¬

gung haben, so können wir aus Bemerkungen im Koran schließen, die heid¬

nischen Mekkaner schon früh Einspruch erhoben. So muß bereits in Sure 80,

Vers 23 mit Nachdruck den Zuhörern in Erinnerung gerufen werden: ,,Nein!

' LöwiTH , Karl : Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen

Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. In: Sämtliche Werke. 2.

Stuttgart 1983, S. 15 f.

2 Ebd., S. 189.

3 Sure 99.

(2)

Der Mensch hat (bei seinem Tod) noch nicht vollendet, was (Gott) ihn gehei¬

ßen hat!" Er muß sich nämlich noch dem Gericht stellen. Und in Sure

23,99 f. wird den Ungläubigen vorgehaUen: ,, Sobald zu einem der Tod

kommt, ruft er: ,Mein Herr! Bring mich zurück! Vielleicht werde ich dann

gut verfahren mit den Dingen, die ich jetzt zurücklassen muß!' Nein! Es ist

ein Wort, das Gott sagt, und hinter ihnen ist eine Schranke errichtet, bis zu

jenem Tag, da sie erweckt werden." Und wenn die Menschen erst dem Höl¬

lenfeuer überantwortet seien, dann werde alles Flehen um einen Neuanfang

vergebens sein (Sure 23,107)."

Die unerbittliche Linearität des Geschichtsverlaufs ist für den gewöhnli¬

chen Menschen unerträglich; denn er hat nicht die Möglichkeit, wie die weni¬

gen der frommen Elite, sein ganzes Trachten auf die Erfüllung der göttlichen

Normen zu richten — und auch das ist, so werden ihm die Frommen versi¬

chern, noch nicht mit letzter Gewißheit als hinreichend zu werten. Die Un-

wiederholbarkeit und Unkorrigierbarkeit des Handelns kann letzten Endes,

wenn überhaupt, nur das Leben einer schmalen Schicht religiös gestimmter

Individuen prägen, nicht das der breiten, sich notgedrungen den Alltagsge¬

schäften hingebenden, gleichwohl heilsbedürftigen Masse. Den drei prophe¬

tischen Universalreligionen wohnt mithin ein Spannungsverhältnis zwischen

Elite und Masse inne, das sich aus den tiefreichenden Konsequenzen ihres

Geschichtsverständnisses ergibt. Judentum und Christentum, aber auch, wie

wir sehen werden, der Islam, haben diese Spannungen abzumildern gesucht,

denn sie zu mißachten, hätte letzten Endes den Verzicht auf Breitenwirkung

bedeutet. So feiern die Juden alljährlich das Versöhnungsfest, das sicher aus

vorprophetischer Zeit stammt und nun die Aufgabe erfüllt, zumindest vor¬

läufig — was immer dies im Rahmen einer linearen Heilsgeschichte heißen

mag — den Menschen die Last ihrer Sünden zu erleichtern.' Es ist nicht zu¬

fällig, daß das Versöhnungsfest das Ende der zehn Bußtage bildet, die mit

dem Neujahrsfest (rös ha-sanah) beginnen. Die im Laufe des vergangenen

Jahres durch Missetaten der Menschen besudelte, vielleicht sogar zerstörte

Ordnung wird durch die Bußübungen wiederhergestellt, ein Vorgang, der

durch die Hinaustreibung des Sündenbockes in die Wüste am Yöm kippür

abgeschlossen ist. Rituell wird die Ordnung erneuert, werden die Sünden

dem Gebiet überantwortet, dem sie ihrem Wesen nach zugehören, dem Ge¬

biet des Chaos.*

Im Christentum wurde die Befriedigung der Heilsbedürftigkeit des sündi¬

gen Menschen durch die Lehre vom durch die Kirche zu verwaltenden Gna¬

denschatz und durch die Beichte gewissermaßen institutionalisert. Doch leb-

" Sure 6,27 f.; 7,53; 14,44; vgl. Sure 32,12,35,37; 63,10.

' Vgl. The Universa/ Jewish Encyclopedia. New York 1948. 1. s. v. Azazel.

Eliade, Mircea: Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Düsseldorf 1953

S. 86 ff.

(3)

ten unterhalb der offiziellen Ebene in vielen Regionen jene Bräuche fort, die alljährlich — nicht selten drastisch — das durch die Fehhritte der Menschen

erzeugte Chaos in Szene setzen und auch dessen ritueUe Besiegung feiern. In

seinem Aufsatz The Semitic New Year and the Origin of Eschatology zeigt

Wensinck, daß bereits in babylonischen Quellen dem Karneval vergleichba¬

re Bräuche bezeugt sind. Sie symbolisierten die Zerstörung und Wiederher¬

stellung der wahren Ordnung durch die vorübergehende Absetzung und Er¬

niedrigung des Herrschers, dem man Krone und Szepter entriß und den man

schlug. Er mußte Bußgebete sprechen. Unterdessen wurde ein falscher Kö¬

nig, meist ein Verbrecher, mit allen Ehrenbezeugungen inthronisiert. Für we¬

nige Tage führte er ein ausschweifendes Regiment, das mit der Rückgewin¬

nung des Thrones durch den rechtmäßigen Inhaber endete. Der Karnevals¬

herrscher wurde danach hingerichtet, und die Ordnung war erneuert.''

Wie der Titel von Wensincks Aufsatz schon erahnen läßt, sind derartige

Riten unter der Voraussetzung einer geradlinig verlaufenden Heilsgeschichte

eigentlich nicht hakbar. Aber einige der in ihnen auftauchenden Motive fin¬

den doch Eingang in die lineare Geschichtsvorstellung, nämlich in die End¬

zeitszenerien, deren ein solches Geschichtsbild bedarf. Sie gewinnen dort eine

zweideutige Funktion. Denn einerseits können sie veranschaulichen, daß eine

Erneuerung hier und jetzt nicht mehr möglich ist. Andererseits aber enthal¬

ten sie die Verlockung, gerade dies eben doch zu versuchen — freilich unter

dem Vorbehalt, daß es sich um den unwiderruflich letzten Versuch handele.

Im Koran stoßen wir im Zusammenhang mit Endzeitschilderungen nicht

auf karnevalistische Motive, es sei denn, man wolle schon die bloße Schilde¬

rung der Zerstörung der Erde als ein solches betrachten. Anders verhält es

sich im Hadit: ,,Wann wird die letzte Stunde anbrechen?", fragt Abü Hurai¬

ra den Propheten, nachdem dieser ihn über die Grundlagen des islamischen

Glaubens belehrt hat. Muhammad antwortet: ,,Der Gefragte weiß das auch

nicht besser als der Frager. Doch will ich dir von ihren Vorzeichen (asrät) er¬

zählen. Wenn die Magd ihren Herrn gebiert, dann ist das ein Vorzeichen.

Wenn die Nackten und Barfüßigen die Anführer sein werden, dann ist das

ein Vorzeichen. Wenn die Viehhirten Prunkbauten errichten, dann ist das ein

Vorzeichen .. ."* Die letzte Stunde kündigt sich durch eine völlige Sittenver¬

derbnis an: ,,Zu ihren Vorzeichen gehört es, daß Wissen entfernt wird und

die Unwissenheit fortbesteht, daß Wein gesoffen und die Hurerei offen ge¬

trieben wird." Und noch etwas Schreckliches wird eintreten: ,,Die Männer

werden dahinschwinden, es bleiben allein die Weiber übrig, so daß auf fünf¬

zig Frauen nur noch ein Vormund (qaiyim) kommen wird!"' Wir sehen, daß

' Wensinck in: Acta Orientalia 1 (1923), S. 185.

* Muslim b. al-Haggäg: Sahih Muslim. al-Tmän, Bäb I, hadlt 5 und 7.

9 Ebd., al-'ilm, Bäb 5, hadlt 8 und 9.

(4)

sich nach islamischer Vorstellung die Verhältnisse wenigstens nicht zu einer wirklichen Weiberherrschaft zuspitzen werden.

Immerhin aber ist nunmehr die Bühne für den Auftritt des islamischen

Prinzen Karneval vorbereitet. „Es wird in Ägypten ein Mann ... mit einer

Stülpnase eine Herrschaft errichten. Dann wird man seine Herrschaft über-

wäkigen und sie ihm wegnehmen. Darauf wird er zu den Byzantinern flie¬

hen. Dann wird er zusammen mit den Byzantinern gegen die Muslime heran¬

gezogen kommen .. Dieser Prinz Karneval ist also ein Verräter; er ver¬

bündet sich mit den Feinden gegen die Där al-isläm, die Weltgegend, in der

die gottgewollte Ordnung gilt. Und zum Zeichen seiner Verruchtheit, seiner

Parteinahme für das Chaos, sind seine Gesichtszüge grotesk entstellt. Denn

sein Leib, der Mikrokosmos, symbolisiert die Verkehrung der Ordnung des

Makrokosmos, die er herbeiführen wiU." Das Motiv der Häßhchkeit spielt

auch sonst in diesem Zusammenhang eine Rolle. Jener falsche Herrscher

wird einäugig sein; und dieses Auge wird tief eingefallen sein. Seine Hautfar¬

be wird weiß sein, sein Haar kraus.Das Kraushaar ist, seit Ham verflucht

wurde, das Merkmal der Neger, und die sind zum Sklaventum bestimmt,

nicht zum Herrschen.Die weiße Hautfarbe steigert hier das Groteske der

Erscheinung. In einem anderen Hadit wird dieser Prinz Karneval wie folgt

beschrieben: ,,Ein Mann mit einem dicken Kopf, mit Pockennarben im Ge¬

sicht und mit einem weißen Fleck im Auge."'''

Wer nun ist dieser verkehrte islamische König? Es ist niemand anders als

der Sufyäni ,, "Abdallah b. Yazid; er ist al-Azhar b. al-Kalbiya oder az-Zuhri b. al-Kalbiya, der EntsteUte, der Sufyäni."" Er trägt also den Namen jenes

Zweiges der Omaijaden-Dynastie, der der ganze Haß der Schiiten gilt. Sein

Gegenbild ist der Mahdi, dessen Name und Vatersname diejenigen des Pro¬

pheten sein werden. Auch im Charakter wird dieser dem Propheten entspre¬

chen, und er wird auch nicht ein durch eine Stülpnase entstelltes Gesicht ha¬

ben, nein, seine Nase wird edel gekrümmt, seine Stirn wird hoch (aglä) sein.'*

Zitiert bei Agu ade, Jorge: Messianismus zur Zeit der frühen Abbasi¬

den. Das Kitäb al-fitan des Nu'aim b. Hammäd. Phil. Diss. Tübingen 1979, S. 147.

" Bachtin, M. M.: Die groteske Gestalt des Leibes. In: Literatur und Kar¬

neval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969.

12 Aguade, a. a. O., S. 158.

'3 Rotter, Gernot: Die Stellung des Negers in der islamisch-arabischen Gesellschaft bis ins XVL Jahrhundert. Phil. Diss. Bonn 1967, S. 147 und 156.

Aguade, a. a. O., S. 158.

15 Ebd., S. 156.

Abü Dä'üd: Sunan Abi Dä'üd. Kitäb al-mahdi, Bäb 1, Nrn. 4282, 4285

und 4290.

(5)

Nach einem in al-Kindls Buch über die Verwaltungsgeschichte Ägyptens überlieferten Hadlt hat die dortige Bevölkerung sogar drei Karnevalsprinzen

zu gewärtigen, den Hinkenden, den Gelben und den Bartlosen, ehe ,,ein

Mann von den Nachfahren Husains kommt, welcher weder abgewehrt noch

gehindert wird. Seine Standarten werden bis zum Indischen Ozean gelangen,

und er wird Ägypten mit Gerechtigkeit füllen"'''.

Als verkehrter Herrscher wird der Sufyäni Elend über die islamische Welt

bringen. Er wird , .schlimmer als ein König" sein — gedacht ist an die in

schwärzesten Farben dargestellten Omaijaden-Kalifen. Er wird die Gelehrten

und Vornehmen umbringen. Wenn er in Damaskus auftritt, soUten sich die

Bewohner schleunigst nach Mekka flüchten. Der Kampf gegen den Sufyäni

ist verlustreich, aber natürlich wird die richtige Seite siegen. ,,Es wird eine

schwarze Standarte aus Chorasan kommen. Die Qalansuwas (der um sie ge-

scharten Kämpfer) werden schwarz sein, ihre Kleider aber weiß. An ihrer

Spitze wird ein Mann stehen, Sähh b. Su'aib oder Su'aib b. Sälih geheißen,

von den Banü Tamin. Sie werden die Anhänger des Sufyäni besiegen, und

schließlich wird Su'aib in Jerusalem hakmachen. Er wird dem Mahdi die

Herrschaft vorbereiten und ihm dreihundert Männer aus Syrien zuführen.

Zwischen seinem Auftreten und der Übergabe der Macht an den Mahdi wer¬

den zweiundsiebzig Monate vergehen." Es gibt von diesem Hadit eine Rei¬

he von Varianten, die in der Dissertation von Aguade über Nu'aim b.

Hammäds Kitäb al-fitan dargestellt werden. Dort ist auch der politische

Zusammenhang erörtert, in welchem zu Lebzeiten Nu'aims derartige Über¬

lieferungen erzähh wurden.'*

Diese Problematik soü uns hier nicht beschäftigen. Vielmehr möchte ich

zum Abschluß eine Frage aufwerfen, die sich aus der Tatsache ergibt, daß

die Endzeitszenen des Korans wirklich einen Endpunkt der Wekgeschichte

veranschaulichen, während in das Hadit Themen und Motive eindrangen,

die dem Vorstellungskreis einer zyklischen Erneuerung der Zeit und Ge¬

schichte entstammen und folglich im islamischen Zusammenhang eine zwei¬

deutige Wirkung entfahen. Sie werden, wie schon gesagt, zwar für ein End¬

geschehen in Anspruch genommen, aber dieses läuft eben doch — nach dem

Sturz des Sufyäni — auf eine Erneuerung noch vor dem Gericht hinaus. Un¬

sere Frage muß angesichts dieses SachverhaUs lauten: Ist es zulässig, die Sun¬

na als die Quelle für Einzelprobleme der islamischen Glaubensordnung her¬

anzuziehen, die in der Offenbarung nicht angesprochen werden? Wir wissen,

daß dies in der islamischen Welt seit dem 8. Jahrhundert die gängige Praxis

auf den Gebieten des fiqh ist, aber auch in theologischen Disputationen usw.

Auch islamwissenschaftliche Arbeiten neigen dazu, einen bestimmten Ge-

'■^ Zhiert bei AcUADfi, a. a. O., S. 132.

'8 Ebd., S. 165 ff.

(6)

genstand zunächst nach Maßgabe des Korans, sodann unter Heranziehung

thematischer Ergänzungen aus dem Hadit darzustellen. Stillschweigend wird

vorausgesetzt, daß Koran und Sunna in ihrer religiösen Grundintention

gleichgestimmte Quellen seien. In dieser Ansicht wirkt sicher die seit dem 9.

Jahrhundert vorgetragene sunnitische Lehre nach, das normsetzende Han¬

deln, Reden und schweigende Billigen des Propheten entströme derselben

göttlichen Inspiration, der sich auch der Koran verdanke. Schon bevor diese

Lehre formuliert wurde, hat die aufblühende Hadit-Wissenschaft diese Fik¬

tion propagiert. Es seien nur Gewährsmänner, nicht aber Inhalte einer einge¬

henden Prüfung unterzogen worden; inhaltlich fügten sich Koran und Hadit

bruchlos ineinander. Die Orientforschung ist dieser Theorie zum Teil ge¬

folgt. Im übrigen überwog das Interesse festzustellen, in welchem geschichtli¬

chen Zusammenhang bestimmte Aussagen des Hadit zum ersten Mal auftau¬

chen. Der anachronistische Charakter zahlreicher mit dem Propheten oder

seinen Gefährten verbundener Hadite trat hierbei klar zutage. Auf diesem

Wege wurde natürlich auch inhaltliche Kritik geübt, aber eben nur in Einzel¬

fällen und ohne eine den Komplex Hadit als Ganzheit ins Auge fassende Hy¬

pothese.

Hiermit nun kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu¬

rück. Wir wiesen darauf hin, daß sowohl im Judentum als auch im Christen¬

tum die letzten Endes in ihrer Reinheit unerträgliche Botschaft von der Li¬

nearität des Geschichtsverlaufs durch weitgehend anerkannte und gebilligte,

gleichwohl systemwidrige Mittel gemildert wurde. Die Funktion eines sol¬

chen Mittels könnte, so meine ich, im Islam das Konzept der Sunna erfüllen.

Denn was leistet sie anderes als eben eine, wenn auch nicht zyklisch, sondern

kontinuierlich wirkende Verringerung der Verantwortung des gläubigen In¬

dividuums für seine Taten" in Form einer Ritualisierung der Alltagshand¬

lung, einer ständigen Wiedervergegenwärtigung des — ich möchte fast sagen

— mythischen Anfangs, in welchem das Heil uneingeschränkt wirksam ge¬

wesen war. Während der Koran die unerbittlich fortschreitende Zeit verkün¬

det, erscheint demgegenüber im Hadit die Zeit ,, aufgehoben; und derjenige,

der die exemplarische Handlung ausführt, findet sich in die mythische Epo¬

che versetzt, in der eben diese vorbildhafte Handlung offenbart worden

Es wäre somit kein Zufall, daß im Hadlt die personale Verantwortlich¬

keit des Individuums für seine Taten in den Hintergrund tritt und die Idee der Vorherbestimmtheit überwiegt. Im übrigen deutet sich diese Verschiebung schon in den späteren Suren des Korans an, in denen der Gedanke der kollektiven Heilssicherung und auch der Vorherbestim¬

mung immer deutlicher ausgesprochen wird (vgl. Nagel, Tilman: Der

Koran. München 1983, S. 271 ff. und ders.: Vom ,, Qur'än" zur Schrift.

In: Der Islam 60 (1983), S. 143 f.)

(7)

ist"^°. So wären denn der im Hadit beschworene Kampf gegen den falschen

Herrscher und dessen schließlicher Sturz noch in dieser Welt abrollende Er¬

eignisse, die zur Wiederherstellung jenes Anfangs führen, entweder an einem

unbestimmten zukünftigen Zeitpunkt, oder eben hier und jetzt, wie chiliasti-

sche Bewegungen es immer wieder gefordert haben, und jene Hadite wären

zugleich ein Indiz für die Funktion, die der Sunna in einer religionsphänome¬

nologischen Gesamtschau des Islams zugesprochen werden müßte.

20 Eliade, op. cit., S. 57; vgl. Nagel, Tilman: Die Festung des Glaubens.

Triumph und Scheitern des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhun¬

dert. München 1988, dritter Einschub.

(8)

DIE HEILIGEN DES ATLAS

Von Peter Heine, Münster

Bei der Dame, um die es in dem Titelzitat geht, handelt es sich um die Kul¬

tur und gestellt hat die Frage der britische Sozial-Anthropologe und Philo¬

soph Ernest Gellner in seinem Buch Muslim Society (Gellner 1981,

S. 209). Die Kuhur, deren Existenz Gellner in Frage stellt, ist die des Na¬

hen und Mittleren Ostens. Und wenn ich mich hier im folgenden mit Formen

der Betrachtung oder der wissenschafthchen Beschäftigung mit dieser Kultur

auseinandersetze, dann stelle ich damit zugleich die Frage nach dem Verhält¬

nis zweier Wissenschaften zueinander, die Frage nach der Beziehung zwi¬

schen Ethnologie und Islamwissenschaft.

Lange Zeit war dieses Verhältnis recht negativ, es war praktisch nicht exi¬

stent.' Wiederum Ernest Gellner hat es auf die Formel gebracht: ,, Orien¬

talists are at home with texts. Anthropologists are at home in villages."

(Gellner 1981, S. 99). Dieses Bonmot weist auf Ursachen für das Un-

Verhäknis der beiden Wissenschaften hin, nämlich auf die verschiedenarti¬

gen Quellen und unterschiedlichen Methoden, mit denen die beiden Diszipli¬

nen ihre jeweihgen Daten erschheßen. HauptqueUe der Orientalisten sind

Texte, denen sie sich mit philologischen und historisch-kritischen Methoden nähern. Es ist hier auf die Schriftlichkeit dieser Quelle besonders hinzuwei¬

sen, weil inhaltlich vergleichbare Arten von Informationen auch von Ethno¬

logen verwendet werden. D. Eickelman hat zum Beispiel darauf aufmerk¬

sam gemacht, daß Biographien ein wichtiger Ausgangspunkt für die Be¬

schreibung einer Gesellschaft und ihrer politischen, religiösen, auch ihrer

wirtschaftlichen Entwicklung sein können (Eickelman 1985, S. 14 ff.). Man

denke auf der einen Seite an Massignons //a//äg-Biographie (Massignon

1922), auf der anderen Seite an die ,, social biography" (Eickelman 1985,

S. 15), wie sie in den Arbeiten von Waterbury 1972, Crapanzano 1980

und DwYER 1982 verwendet worden ist. Bei der ,, social biography" handelt

es sich um eine Zusammenstellung von Daten, die vornehmlich auf mündli¬

chen Informationen beruhen. Der Unterschied zwischen den beiden Fächern

in der Benutzung von Biographien als QueUen zeigt sich weiter darin, daß der

Ethnologe dabei häufig auf einer Mikro-Ebene bleibt (z. B. DwYER 1982),

während der Islamwissenschaftler oft zu generalisierenden Feststellungen

kommt (z. B. Heine 1987).

Ausnahmen wie Robertson-Smith oder Westermarck bestätigen diese Re¬

gel. Beide sind in der ethnologischen Diskussion im übrigen weitgehend in Vergessenheit geraten.

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