Lokale Friedensförderung in Afghanistan:
Vorschlag für eine nationale Strategie
Zusammenfassung der englischsprachigen Originalstudie
„Community Peacebuilding in Afghanistan – The Case for a National Strategy“
(Oxfam International, Februar 2008, Autor: Matt Waldman)
Bisherige Anstrengungen zur Friedensförderung in Afghanistan haben nur wenig Erfolg. Dies liegt nicht nur am Wiedererstarken der Taliban, vielmehr haben die Verantwortlichen zu wenig unternommen, um für ein friedliches Miteinander der tragenden gesellschaftlichen Gruppen zu sorgen – Familien, lokale Gemeinschaften und Stammesgruppen. Der langjährige Krieg hat das soziale Gefüge des Landes weitgehend zerrüttet, große Teile der Bevölkerung leiden unter großer Armut. So können selbst kleinere lokale Streitigkeiten leicht in Gewalt umschlagen und zur Verschärfung der landesweiten Krise beitragen. Es gibt bislang keine geeigneten Strategien für friedliche Konfliktlösungen in Afghanistan. Oxfam skizziert in der vorliegenden Studie mögliche Gründzüge dafür.
Wesen, Ursachen und Auswirkungen von Instabilität und Unsicherheit in Afghanistan sind sehr unterschiedlich. Entsprechend unterschiedlich müssen die Instrumente beschaffen sein, um diesem Problem zu begegnen. Häufig handelt es sich um ein ganzes Bündel von Maßnahmen – etwa die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, der Aufbau gut ausgebildeter Sicherheitskräfte, die Armutsbekämpfung oder die Verbesserung der Regierungsführung.
Friedensförderung ist unverzichtbar, um die in weiten Teilen des Landes herrschende Unsicherheit zu beseitigen, doch werden ihre Potenziale in Afghanistan bisher kaum ausgeschöpft. Bestehende Initiativen bewegen sich zu sehr auf oberster politischer Ebene und haben nur geringe Auswirkungen auf den Alltag der Bevölkerung.
Begrüßenswerte Initiativen wie der Nationale Aktionsplan für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung (Action Plan on Peace, Justice and Reconciliation) oder die Unabhängige Friedenskommission (Independent Commission on Strengthening Peace) werden nur unzureichend in die Praxis umgesetzt. Die meiste Aufmerksamkeit gilt in der Regel einzelnen herausragenden Problemen, wie Warlords, Korruption oder Kriminalität; auf Projektebene werden lediglich Teilaspekte wie die Entwaffnung ehemaliger Kämpfer bearbeitet.
Ausreichende Mittel und politische Unterstützung vorausgesetzt, könnten die auf oberster Ebene angesiedelten Maßnahmen die Sicherheit im Land durchaus verbessern. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass Friedensförderung auf lokaler Ebene verankert und flächendeckend betrieben werden muss, um erfolgreich zu sein. Die jüngste Verschlechterung der Sicherheitslage, besonders in den südlichen und
südöstlichen Landesteilen, ist ein Indiz dafür, dass der bisherige, von oben nach unten gerichtete Ansatz, gescheitert ist.
Oxfam beobachtet seit fast zwanzig Jahren bei seiner Projektarbeit in Afghanistan, wie sich Krieg und Armut gegenseitig bedingen. Eine Umfrage, die Oxfam Mitte 2007 in sechs Provinzen des Landes unter 500 Personen durchgeführt hat, belegt, dass gewaltsame Konflikte überwiegend lokale Ursachen haben. Die meisten Streitigkeiten werden über natürliche Existenzgrundlagen wie Land und Wasser geführt.
Zu einem kleineren Teil geht es um familiäre, ethnische, stammesbedingte oder innergemeinschaftliche Auseinandersetzungen. Derartige Konflikte werden nicht unbedingt gewaltsam ausgetragen, können jedoch im Gefolge von Naturkatastrophen, Flüchtlingsproblemen, verfehlter Entwicklungshilfe, Korruption, Machtmissbrauch oder Opiumhandel leicht eskalieren. So entsteht ein Klima von Gewalt und Unsicherheit, das nicht nur die örtliche Lebensqualität und die Entwicklung beeinträchtigt, sondern häufig auch von bewaffneten Gruppen ausgenutzt wird, um ihre Machtpositionen zu festigen.
Den Befragten zufolge empfindet die Zivilbevölkerung neben den Taliban auch andere Gewaltakteure als ernste Bedrohung – vor allem Warlords, kriminelle Banden, inter- nationale Truppen und afghanische Sicherheitskräfte.
Die Umfrage zeigt, dass die meisten Afghanen sich zur Lösung lokaler Konflikte bevorzugt an traditionelle Autoritäten und Gremien und nur deutlich seltener an Polizei oder Gerichte wenden. Welche Lösungsinstrumente in Anspruch genommen werden, hängt von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Konfliktursachen ab. Im Allge- meinen vertrauen die Menschen besonders in ländlichen Gebieten am meisten den Ältestenräten ihrer Gemeinschaft oder ihres Stammes – den „Jirgas“ oder „Shuras“.
Es besteht also eindeutig Bedarf für lokale Friedensförderung – ein Ansatz, der sich in anderen Krisenregionen bewährt hat. Ein Beispiel ist Oxfams Friedensarbeit in
Nordkenia, die dort über Jahre hinweg zum Erhalt des Frieden beigetragen hat. Es besteht guter Grund zur Annahme, dass dieses Engagement auch geholfen hat, die Gewalt bei den jüngsten Unruhen nach den Präsidentschaftswahlen in Kenia
einzudämmen.
Friedensförderung ist nur dann erfolgreich, wenn sie auf dem Prinzip der Teilhabe basiert – die einbezogenen Menschen selbst sind der wichtigste Baustein für dauerhaften Frieden. Dazu ist es nötig,
• die in den jeweiligen Gemeinschaften angelegten Fähigkeiten zur friedlichen Konfliktlösung zu stärken,
• Sicherheit, Vertrauen und sozialen Zusammenhalt innerhalb und zwischen verschiedenen Gemeinschaften zu fördern und
• den Dialog zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen herzustellen.
Im Fall von Afghanistan lässt sich dies am besten durch die Stärkung von traditionellen Schlichtungsmechanismen erreichen, die in vielen lokalen Gemeinschaften fest
verankert sind – in erster Linie Jirgas und Shuras. Entscheidend ist ferner die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in friedens- und entwicklungsrelevante
Angelegenheiten sowie die Förderung von Friedenserziehung. Dafür gibt es keine vorgefertigten Lösungen, sie müssen vielmehr stets in Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten entwickelt werden. Zudem müssen die entsprechenden Werte, Kenntnisse und Techniken in die übrige Entwicklungsarbeit und in das gesamte Regierungshandeln integriert werden.
Landesweit gibt es bislang erst vereinzelte, aber durchaus erfolgversprechende Ansätze zur Friedensförderung auf lokaler Ebene. Gute Beispiele sind die beiden afghanischen Nichtregierungsorganisationen „Cooperation for Peace and Unity“
(CPAU) und „Sanayee Development Organization“ (SDO). Unabhängige Experten bescheinigen beiden Organisationen sehr gute Arbeit; sie entspräche in hohem Maß den Wünschen und Bedürfnissen ihrer lokalen Partner. Trotz ihrer geringen Anzahl konnten die bisherigen Projekte zur lokalen Friedensförderung beachtliche Erfolge
auf lokaler Ebene erzielen: Streitschlichtungen haben zugenommen, Gewalt (einschließlich häuslicher Gewalt) ist zurückgegangen, der gemeinschaftliche
Zusammenhalt wurde gestärkt, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Bedrohungen von Außen vergrößert, Entwicklungsarbeit ausgeweitet und die Wiedereingliederung von Flüchtlingen verbessert.
Trotz dieser Erfolge kommen derzeit Vorhaben zur lokalen Friedensförderung nur einem Bruchteil der Menschen in Afghanistan zugute. Geberstaaten sollten deshalb dringend ihre Unterstützung für auf diesem Gebiet tätigen Nichtregierungsorgani- sationen erheblich verstärken und gemeinsam mit der afghanischen Regierung eine nationale Strategie zur Friedensförderung (im Folgenden: „Nationale Strategie“) entwickeln.
Oxfam schlägt als Ausgangspunkt eine nationale Konferenz vor, zu der afghanische und internationale Nichtregierungsorganisationen und Experten, afghanische
Regierungsvertreter, Abgeordnete und Religionsführer, sowie Vertreter der Vereinten Nationen und weitere relevante Akteure eingeladen werden müssten. Am Ende eines solchen Treffens sollte ein Rahmenkonzept für die Entwicklung einer Strategie und eine nationale Steuerungsgruppe stehen. Anschließend könnten in allen afghanischen Provinzen Regionalkonferenzen zur Ausarbeitung lokaler Strategien zur Friedens- förderung durchgeführt werden.
Die Kernelemente einer Nationalen Strategie müssten von der afghanischen Regierung und dem Parlament beschlossen und von einem Zusammenschluss aus Nichtregie- rungsorganisationen und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft unterstützt werden, die künftige Projekte der Friedensarbeit durchführen würden. Nur ein basisorientierter Ansatz hätte gute Aussichten, von der Bevölkerung angenommen zu werden und an jeweilige lokale Bedingungen angepasst werden zu können. Mögliche Bestandteile einer Nationalen Strategie wären:
• schrittweiser Kapazitätsaufbau in allen Landesteilen – dabei ist auf möglichst große Teilhabe und Flexibilität zu achten;
• Friedenserziehung in allen Schulen des Landes; die Lehrerausbildung muss entsprechend ausgerichtet werden;
• Initiativen zur Sensibilisierung für Belange der Friedensförderung auf nationaler und lokaler Ebene;
• Verankerung von Friedensförderung auf allen maßgeblichen Regierungsebenen und in nationalen Programmen;
• Herstellung von Verfahren, um die Übereinstimmung der Entscheidungen von traditionellen Gremien bzw. Ältestenräten mit der afghanischen Verfassung und den Menschenrechten sicherzustellen; außerdem muss gewährleistet sein, dass alle Maßnahmen zur Friedensförderung überwacht, erfasst und ausgewertet werden;
• klare Regelung des Verhältnisses zwischen lokaler Friedensarbeit und Regierungsstellen, besonders zwischen traditioneller und rechtsstaatlicher Justiz.
Bei der Umsetzung einer so verstandenen Nationalen Strategie müssen viele Hinder- nisse überwunden werden. So ist zum Beispiel die Wirksamkeit von Friedensarbeit nur sehr schwer messbar. Ein anderes Problem besteht darin, dass die Regierung zwar unbedingt in die Strategie eingebunden sein muss, sie jedoch nicht dominieren darf –
umfassende Berücksichtigung von Frauenbelangen, die Auseinandersetzung mit möglichen Gegnern des Vorhabens, zu erwartende Personalengpässe und die Herstellung der nötigen Flexibilität. Ermutigende Ansätze zur Überwindung der genannten Schwierigkeiten lassen sich aus den bewährten lokalen Projekten zur Friedensförderung in Afghanistan gewinnen. So laufen derzeit einige Programme mit Erfolg in unsicheren Landesteilen und könnten als Vorbild für die Durchführung ähnlicher Projekte im besonders umkämpften Süden und Südwesten Afghanistans dienen.
Die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft sollten die Defizite der bestehenden nationalen Programme zur Friedensförderung zur Kenntnis nehmen und daraus geeignete Konsequenzen ziehen. Die große Mehrheit der Afghanen führt lokale Streitigkeiten auf lokale Ursachen zurück, und sie wenden sich zu ihrer Schlichtung in der Regel an lokale Autoritäten. Dennoch wurde bislang viel zu wenig getan, um Shuras, Jirgas und andere lokale traditionelle Einrichtungen zur friedlichen Konflikt- lösung und Gewaltprävention zu stärken. Lokal verankerte Friedensförderung benötigt nur wenig Mittel und ist effektiv: Sie beugt Gewalt vor, stärkt den Zusammenhalt von Gemeinschaften und erhöht deren Widerstandskraft gegen Extremisten. Sie ist unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden Strategie für dauerhaften Frieden in Afghanistan; umfassend in dem Sinn, dass eine derartige Strategie auch Maßnahmen zur Förderung von guter Regierungsführung, der ländlichen Entwicklung und der Qualifizierung der afghanischen Polizei und der Streitkräfte beinhalten muss. Selbst wenn die hier vorgeschlagene Nationale Strategie sofort beschlossen würde, käme sie bereits fünf Jahre zu spät – angesichts der immer weiter zunehmenden Gewalt, darf keine weitere Zeit mehr verloren werden.
Die vollständige Studie (englische Originalfassung) kann heruntergeladen werden unter:
www.oxfam.de/download/AFG_Peacebuilding_E.pdf
Oxfam-Umfrage: Größte Bedrohungen der lokalen Sicherheit in Afghanistan
81 72
67
54 45
31 26
14
9 8 8
6 0
10 20 30 40 50 60 70 80 90
Taliban Warlords
Krimminelle
Internationale Truppen Drogenschmuggler
Afghanische Polizei
Afghanische Regierungsstellen
Afghanische Armee Familienmitglieder
Arbeitsumgebung Anderer Stamm
Andere
Anzahl der befragten Personen in Prozent
Anteil der Befragten, die sich von den genannten Gruppierungen, Personen oder Bedingungen stark bedroht fühlt (Mehrfachnennungen möglich).
Oxfam-Umfrage: Wichtigste lokale Ursachen von Konflikten in Afghanistan
251 217
170
57 49
35 31 25 24
14 11
0 50 100 150 200 250 300
Land Wasser
Familie
Stammesauseinandersetzung
Frauen Andere
Streit zwischen Gemeinschaften Anführer bewaffneter Gruppen
Ethnische Streitigkeiten
Taliban oder andere Extremisten Entwicklungshilfe
Anzahl der befragten Personen
Anteil der Befragten, die den genannten Konfliktursachen in ihren Gemeinschaften große Bedeutung beimessen (Mehrfachnennungen möglich).
Oxfam-Umfrage: Wichtigste Instanzen zur Konfliktlösung in Afghanistan
178 173
104 101
59
39 39
30
12 6
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200
Polizei
Ältestenrat der lokalen Gemeinschaft
triktgouverneur / andere Regierungsstellen
Ältestenrat des Stammes
Gerichte
Religiöse Autoritäten / Räte
Lokale Entwicklungsräte
Anführer bewaffneter Gruppen
Zivilgesellschaften / NRO
Vertreter politischer Institutionen
Anzahl der befragten Personen
Anteil der Befragten, die die genannten Institutionen oder Personen als wichtigste Instanzen zur Konfliktlösung ansehen (Mehrfachnennungen möglich).