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Diskriminierungsrisiken von muslimischen Frauen mit Kopftuch auf dem deutschen Arbeitsmarkt Inhalt

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Academic year: 2022

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Inhalt

Diskriminierungsrisiken von muslimischen Frauen mit

Kopftuch auf dem deutschen Arbeitsmarkt

Dokumentation des Fachgesprächs am 30.05.2016

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Inhalt

Einleitung ______________________________________________________________ 2 Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –

Status Quo und Auswirkungen in der Praxis _____________________________ 3

Gabriele Boos-Niazy, Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland e.V. ______ 3

Diskussion zum Vortrag _________________________________________________ 9 Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im

Arbeitsleben – Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe __ 14

Privatdozentin Dr. Sabine Berghahn, Rechtsanwältin und

Politikwissenschaftlerin, Freie Universität Berlin ____________________________________ 14 Dr. Sebastian Müller, Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR), Projekt

„Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ ________________________________ 16 Zeynep Cetin, Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan

e.V.) __________________________________________________________________________________ 17 Vera Egenberger, Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG) ____________ 18

Diskussion zur Arbeitsgruppe 1 _______________________________________ 20 Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des

Kopftuches am Arbeitsplatz ___________________________________________ 23

Nesreen Hajjaj, Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA) ______________________________________ 23 Dunya Adigüzel, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG) ___________________ 23 Romin Khan, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) _________________________ 24 Dr. Petra Rostock, Arbeiterwohlfahrt (AWO), Bundesverband ________________________ 24 Andreas Merx, IQ Fachstelle Interkulturelle Kompetenzentwicklung und

Antidiskriminierung ________________________________________________________________ 24

Diskussion zur Arbeitsgruppe 2 _______________________________________ 26

Diskriminierungsrisiken und Schlussfolgerungen _____________________ 28

Anhang _______________________________________________________________ 30

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Redetext Gabriele Boos-Niazy, gekürzt: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der Praxis __________________________ 30 Dr. Sabine Berghahn, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 1, dort komplett abgedruckt __________________________________________________________________________ 38 Dr. Sebastian Müller, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 1 ___________________ 38 Zeynep Cetin, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 1 __________________________ 38 Vera Egenberger, Arbeitsgruppe 1: Die Rolle konfessioneller Arbeitgeber ____________ 38 Nesreen Hajjaj, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 2 _________________________ 40 Dunya Adigüzel, Arbeitsgruppe 2: Maßnahmen und Gute Praxis gegen

Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch __________________________________________ 40 Romin Khan, Arbeitsgruppe 2: Die Perspektive von ver.di auf die Rolle von

Gewerkschaften und Betriebsräten __________________________________________________ 41 Dr. Petra Rostock, Arbeitsgruppe 2: Eine wohlfahrtsverbandliche Perspektive aus Sicht der AWO _______________________________________________________________________ 42 Andreas Merx, Arbeitsgruppe 2: Betriebliche Maßnahmen der interkulturellen

Kompetenzentwicklung und Antidiskriminierung zum Abbau von

Diskriminierung von Kopftuch tragenden Frauen ___________________________________ 44 Stellungnahmen zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am EuGH vom

31.05.2016 ____________________________________________________________________________ 47 Stellungnahme des Aktionsbündnis‘ muslimischer Frauen in Deutschland e.V.

zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am EuGH, Juliane Kokott, vom

31.05.2016 – Kurzfassung _______________________________________________________ 47 Stellungnahme zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am EuGH vom

31.05.2016, Dr. Sabine Berghahn – Rechtsanwältin und

Politikwissenschaftlerin ________________________________________________________ 49 Programm ___________________________________________________________________________ 57 Liste der Teilnehmenden ____________________________________________________________ 59

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Einleitung

Muslimische Frauen mit Kopftuch treffen auf verschiedene Diskriminierungsrisiken beim

gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt. Auch die Beratungsanfragen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) bestätigen dies. Private Arbeitgeber sind häufig im Unklaren über die Rechtslage: Trotz des im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verankerten Diskriminierungsverbots aufgrund der Religion gehen sie manchmal davon aus, ein Kopftuchverbot in ihrer Einstellungs- und Beschäftigungspraxis aussprechen zu dürfen. Dies kann auch auf bestehende Kopftuchverbote im öffentlichen Dienst der Bundesländer und aufgrund der Sonderregelungen für konfessionelle Arbeitgeber zurückzuführen sein.

Kopftuchverbote am Arbeitsplatz haben mehrfach die deutsche Rechtsprechung beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Jahr 2015 ein pauschales Kopftuchverbot für muslimische Lehrkräfte an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen für verfassungswidrig erklärt. Andererseits hat das Arbeitsgericht Berlin im April 2016 die Klage einer Kopftuch tragenden Lehrerin abgewiesen.

Ihre Bewerbung hatte die Senatsbildungsverwaltung mit Verweis auf das Berliner Neutralitätsgesetz abgelehnt. Die Frau klagte daraufhin nach dem AGG wegen Diskriminierung auf eine Entschädigung. Das Gericht wies die Klage ab, weil das Berliner Neutralitätsgesetz das Tragen religiöser Kleidung

gleichermaßen allen Religionen untersage.

Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) befasst sich aufgrund zweier sogenannter

Vorabentscheidungsersuchen seit 2015 mit dem Kopftuchverbot. Ein französisches Gericht will klären lassen, ob Kundenwünsche eine Ungleichbehandlung wegen der Religion rechtfertigen können. In einem Fall aus Belgien geht es um die Frage, ob das Kopftuchverbot am Arbeitsplatz keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, wenn allen Beschäftigten untersagt ist, äußere Zeichen politischer,

philosophischer oder religiöser Überzeugung zu tragen.

Das Fachgespräch fand einen Tag vor dem Bekanntwerden der Schlussanträge der Generalanwältin am EuGH im Vorabentscheidungsersuchen aus Belgien statt. Im Ergebnis schlägt die Generalanwältin dem EuGH vor, auf das Vorabentscheidungsersuchen dahingehend zu antworten, dass eine unmittelbare Diskriminierung zu verneinen ist, jedoch ein Verstoß gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung vorliegen könne. Dieses kann jedoch gerechtfertigt sein, um eine vom Arbeitgeber im jeweiligen Betrieb verfolgte Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität durchzusetzen, sofern dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Da die Schlussanträge unmittelbar auf

Fragestellungen aus dem Fachgespräch Bezug nehmen, sind von zwei Teilnehmerinnen Stellungnahmen dazu in dieser Dokumentation mit aufgenommen. Mit einer Entscheidung des EuGH, der an die

Schlussanträge der Generalanwältin nicht gebunden ist, dürfte noch im Laufe dieses Jahres zu rechnen sein.

Das Fachgespräch im Rahmen des Themenjahres „Freier Glaube. Freies Denken. Gleiches Recht.“ hat einen Überblick über die Rechtswirklichkeit und die Praxis mit der Kopftuchfrage ergeben und daraus Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen abgeleitet.

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Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen

in der Praxis 3

Vortrag: Gesetzliche

Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der Praxis

Gabriele Boos-Niazy, Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland e.V.

Gabriele Boos-Niazy bezog sich in ihrem Vortrag überwiegend auf das Grundgesetz (GG) und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Als Grundrechte, die bei der Diskussion um das Kopftuch regelmäßig eine Rolle spielten, nannte sie das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 GG), die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG Abs. 1) und den Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis (Art. 33 GG).

Neben den grundgesetzlichen Regelungen sei das Mitte August 2006 in Kraft getretene AGG relevant, das mehrere EU-Richtlinien mit dem Ziel umsetzt, Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder wegen der sexuellen Identität nicht entstehen zu lassen oder sie zu beseitigen. Das AGG verbiete in erster Linie die Benachteiligung durch Arbeitgebende. Es untersage darüber hinaus aber auch Diskriminierungen, die von Arbeitskolleg_innen, Kund_innen oder Lieferant_innen begangen würden. Allerdings ließen sich dadurch keine unmittelbaren Ansprüche gegen diese Personen ableiten. Das AGG offenbare durch die begrenzte Reichweite große Schutzlücken. In der Arbeit des Aktionsbündnisses sei das insbesondere im Bereich der Bildung zu bemerken, wenn es um die Diskriminierung von Schüler_innen oder

Student_innen gehe. Diesen Gruppen sei der Schutz durch das AGG verwehrt, weil die europarechtlichen Vorgaben noch nicht umgesetzt oder noch nicht in die Schul- und Hochschulgesetze der einzelnen Bundesländer aufgenommen worden seien.

Im Hinblick auf das Kopftuch beim Zugang zum Arbeitsmarkt ging Boos-Niazy auf zwei Paragrafen des AGG besonders ein: Paragraf 8 Abs. 1, der eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen unter bestimmten Umständen für zulässig erkläre und Paragraf 9, der den

Religionsgemeinschaften eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung erlaube.

In der Privatwirtschaft sei ein Verbot des Kopftuches nach Paragraf 8 AGG nur dann möglich, wenn der Verzicht auf ein Kopftuch eine wesentliche berufliche Anforderung darstelle, die als angemessen anzusehen und deren Zweck rechtmäßig sei. Das könne der Fall sein, wenn bestimmte Arbeitsabläufe das Tragen eines Kopftuches unmöglich machten, zum Beispiel aufgrund von Sicherheits- oder Hygieneanforderungen und keine Alternative möglich sei. „In der Praxis machen wir häufig die Erfahrung, dass solche Anforderungen vorgeschoben sind und Alternativvorschläge daher nicht angenommen werden“, so Boos-Niazy. Kein Rechtfertigungsgrund für eine Nichteinstellung oder Kündigung sei die Befürchtung finanzieller Verluste aufgrund islamfeindlicher Haltungen von

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Kund_innen, die möglicherweise einem Geschäft oder einer Praxis mit einer Kopftuch tragenden Mitarbeiterin fernblieben.

Immer wieder kontrovers diskutiert werde die zulässige unterschiedliche Behandlung von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften (Paragraf 9 AGG). Diese Sondersituation, das so genannte Kirchenprivileg, gründe sich auf die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kirchen. Diese garantiere ihnen, dass sie ihre Angelegenheiten ohne staatliche Einmischung selbst regeln könnten. Eine

unterschiedliche Behandlung nach dem AGG sei demnach zulässig, wenn die Religions- oder

Weltanschauungsgemeinschaft aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihres Selbstbestimmungsrechts die Zugehörigkeit eines Bewerbers zur eigenen Gruppe für eine berufliche Anforderung halte. „Im Bereich der Verkündigung ist die Einschätzung als gerechtfertigte berufliche Anforderung sicherlich nachvollziehbar, in den verkündigungsfernen Bereichen jedoch mittlerweile kaum zu vermitteln“, sagte Boos-Niazy. Da dies einen sehr großen Teil des Arbeitsmarktes umfasse, sei eine klarere Definition dessen, wo das AGG greifen solle, dringend notwendig. Außerdem werde durch eine sehr

unterschiedliche Handhabung deutlich: Das Prinzip werde oft nur dann eingehalten, wenn ausreichend Arbeitskräfte mit der „richtigen“ Zugehörigkeit zur Verfügung stehen würden.

Als ein Beispiel für den schwierigen Umgang mit dem AGG nannte Boos-Niazy eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 24. September 2014, in dem eine Kopftuch tragende Krankenschwester gegen ihren Arbeitgebenden, ein Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft, verlor. Das Gericht habe die Grundrechte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und das der Religionsfreiheit der Klägerin gegeneinander abgewogen. Es habe zwar einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot nach Paragraf 7 AGG festgestellt, ihn aber nach Paragraf 9 AGG wiederum als gerechtfertigt angesehen.

Als Lücken im AGG beziehungsweise durchgängig genannte Änderungswünsche würden daher immer wieder die Ausdehnung des Geltungsbereichs, die Einführung eines Verbandsklagerechts, die

Beschränkung des Paragrafen 9 AGG auf verkündigungsnahe Bereiche und die Erweiterung der Handlungskompetenzen der ADS genannt.

Kopftuchtragen im Schuldienst

Als Sonderfall erläuterte Boos-Niazy den Diskriminierungsschutz im Schuldienst. Dort lasse Paragraf 8 Abs. 1 AGG eine unterschiedliche Behandlung zu, wenn sie auf einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung basiere. Bei den beiden Klägerinnen, die den BVerfG-Beschluss von 2015 (das so genannte Kopftuchurteil) erwirkten, habe das Bundesarbeitsgericht sechs Jahre zuvor noch keinen Verstoß gegen das AGG gesehen. Das BVerfG hielt dagegen ein pauschales Kopftuchverbot als nicht mit der Verfassung vereinbar. Die Beschränkung religiöser Bekundungen durch das Schulgesetz von

Nordrhein-Westfalen in der damaligen Fassung habe laut Gericht eine unmittelbare, normativ vorgegebene Benachteiligung aus Gründen der Religion dargestellt. Trotzdem sehe auch der BVerfG- Beschluss die Möglichkeit vor, in einer bestimmten Konstellation eine Lehrerin vor die Wahl einer Versetzung oder eines Kopftuchverzichts zu stellen. Dies sei dann möglich, wenn es eine konkrete Störung des Schulfriedens gebe, nicht jedoch, wenn eine solche Störung lediglich befürchtet werde. Es müssten also besondere substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen. In solchen Fällen sei laut Gericht der Verzicht auf die religiöse Bekundung eine wesentliche und

entscheidende berufliche Anforderung wegen der Art der Tätigkeit, so Boos-Niazy.

Im Hinblick auf die Grundrechte der anderen am Schulbetrieb Beteiligten mache das BVerfG folgende Aussagen: Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder werde nicht beeinträchtigt. Allein aus dem Elterngrundrecht lasse sich nicht herleiten, Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte

fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgten. Die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schüler_innen dürfe hierbei aber nicht beeinträchtigt werden. Dies geschehe

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Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der Praxis

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nicht, solange die Lehrkräfte nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben oder die Schüler_innen zu beeinflussen versuchen würden. Das Recht der Eltern auf negative Glaubensfreiheit garantiere keine Verschonung vor der Konfrontation mit religiöser Kleidung.

Die religiöse und weltanschauliche Neutralitätspflicht des Staates werde gewahrt, indem er Bezüge zu allen mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Religionen und Weltanschauungen der öffentlichen Schule zulasse. Die Zulassung des Kopftuches bedeute keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben. Die Sorge von Eltern vor einer ungewollten Beeinflussung ihrer Kinder durch den Anblick einer Kopftuch tragenden Lehrerin stelle keine konkrete Gefahr dar, denn die Konfrontation der Schüler_innen mit einer glaubensgemäßen Bekleidung werde durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen. In der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule spiegele sich die religiös-pluralistische Gesellschaft wider, referierte Boos-Niazy die Begründung des BVerfG weiter.

Sie führte weiter aus, dass der Beschluss des BVerfG die Möglichkeit vorsehe, das Kopftuch im Schuldienst zu verbieten. Allerdings sei das für eine einzelne Kopftuch tragende Lehrerin nur dann zulässig, wenn diese ein missionarisches oder verbal werbendes Verhalten an den Tag lege und versuche, Schüler_innen zu beeinflussen. Ein allgemeines Verbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte Zeit sei möglich, wenn dort nachweislich besondere substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen würden. Das Gericht nenne als Beispiel eine Situation, in der Fragen des richtigen religiösen Verhaltens und sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und so in die Schule hineingetragen würden.

Eine Versetzung einer Lehrerin sei dann zumutbar, wenn die Schulleitung alle pädagogischen oder disziplinarischen Maßnahmen erfolglos ergriffen habe, die üblicherweise bei der Lösung von Schulkonflikten zum Einsatz kämen. Allerdings könne die Lehrerin sich auch dafür entscheiden, ihr Kopftuch abzulegen.

Umsetzung des BVerfG-Beschlusses in den einzelnen Bundesländern

Boos-Niazy erläuterte, dass der Beschluss des BVerfG nach dem Bundesverfassungsgerichts-Gesetz auch andere Landesgesetzgeber binde, obwohl die Klägerinnen aus Nordrhein-Westfalen stammten. In anderen Ländern müssten demnach die jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des BVerfG ausgelegt werden. Der Beschluss wirke damit auf Bundesländer, in denen es ein gesetzliches Kopftuchverbot gebe.

Er binde gleichermaßen auch die Gerichte, die im Streitfall das Landesgesetz nach den Maßgaben des BVerfG auslegen müssten.

Mit einer Gesetzesänderung sei der Beschluss in Nordrhein-Westfalen umgesetzt worden. In Bremen, Niedersachsen und Hessen sei dies ohne Änderung des Schulgesetzes erfolgt. Bisher keine offizielle Umsetzung des BVerfG-Beschlusses gebe es in Bayern und Baden-Württemberg. Das saarländische Schulgesetz sehe weiterhin neben dem Kopftuchverbot auch die Privilegierung christlicher Bildungs-

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und Kulturwerte vor. Auch die Berliner Innenverwaltung habe nach Veröffentlichung des BVerfG- Beschlusses keinen Änderungsbedarf am sogenannten Neutralitätsgesetz gesehen.

Boos-Niazy schilderte daraufhin einige aktuelle Beratungsfälle. Im Schuldienst in Hessen habe eine Lehramtsstudentin von ihrer Ausbildungsschule eine Rundmail mit folgendem Wortlaut erhalten:

„Von der Universität Gießen sind Sie unserer Schule als zukünftige Praktikantinnen und Praktikanten für die Schulpraktischen Studien [...] zugewiesen worden. [...] Ein wichtiger Hinweis vorab: Sollte sich unter Ihnen eine Kopftuchträgerin befinden, so müsste sie für das gesamte geplante Praktikum entweder auf ihre Kopfbedeckung verzichten, oder sich bereits heute nach einer anderen Praktikumsschule

umschauen. Wir vermitteln unseren Schülerinnen und Schülern ein demokratisches, an den Werten des Grundgesetzes orientiertes Weltbild, bei dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau ganz oben ansteht, und das Tragen eines Kopftuches durch Lehrkräfte oder Praktikanten würde hier in der Vorbildfunktion, die wir innehaben, falsche Signale aussenden.“

In den Leitsätzen des Schulprogramms dieser Schule werde dagegen auf die Entwicklung „zur Teilhabe und Teilnahme an der Kultur der offenen Gesellschaft“ sowie die Pflege eines respektvollen,

wertschätzenden Miteinanders aller Kulturen verwiesen.

In Frankfurt müssten Medizinstudentinnen für ein zweitägiges Praktikum in einem Krankenwagen einen Vertrag unterzeichnen, dessen Bestandteil das „Informationsblatt Studentenpraktika im

Rettungsdienst“ sei. Darin heiße es: „Wir erwarten, dass Sie sich neutral verhalten und bei Ihrem Praktikum auf alle Äußerungen zu Ihrer Weltanschauung, Religion etc. verzichten. Auch das Tragen entsprechender Symbole (z.B. Kopftuch) ist zu unterlassen.“ Als Alternative könne eine Mütze getragen werden. Mittlerweile sei das Kopftuchverbot auch auf zwei vorgelagerte Trainingstage ausgedehnt worden, die in der Klinik absolviert würden.

In einem weiteren Fall sei einer seit vier Jahren in einer Praxis angestellten Physiotherapeutin gekündigt worden, nachdem sie sich entschlossen habe, ein Kopftuch zu tragen. Ihr Arbeitgeber, der einen syrisch- kurdischen Migrationshintergrund habe, habe als Hauptargument die Befürchtung angeführt, dass das Image der Praxis leide: Es könne womöglich vermutet werden, dass er als Betreiber sich religiös radikalisiert habe, weil er eine Frau mit Kopftuch beschäftige.

Erosion des Rechtsempfindens

„Wir haben nach den politischen Diskussionen um die Kopftuchverbote erfahren müssen, dass sich die Schlagworte, insbesondere vom ‚negativen Symbolgehalt des Kopftuches‘ in den Argumentationen maßgeblicher gesellschaftlicher Akteure wiederfinden und deren Handeln bestimmen. Das verfestigt die Barrieren für Kopftuch tragende Frauen in jeglicher Hinsicht“, sagte Boos-Niazy. Sie illustrierte das mit weiteren Beispielen.

So würden immer wieder Frauen mit Kopftuch berichten, dass ihnen von Sachbearbeiter_innen der Bundesagentur für Arbeit mehr oder weniger deutlich geraten werde, das Kopftuch abzulegen, um bei der Stellensuche erfolgreich zu sein. Es werde von den Sachbearbeiter_innen argumentiert, dass damit lediglich der Wirklichkeit Rechnung getragen werde. Es werde gleichzeitig deutlich, dass potenzielle Arbeitgebende nicht damit rechnen müssten, „auch nur darauf hingewiesen zu werden, dass sie gegen das AGG verstoßen, wenn sie eine Bewerberin nur wegen ihres Kopftuches ablehnen“, so Boos-Niazy.

In einem von der „Deutschlandstiftung Integration“ 2012 herausgegebenen Bewerbungsratgeber sei muslimischen Frauen – unter anderem unter Berufung auf den Migrationsbeauftragten der

Bundesagentur für Arbeit, Hasan Altun, – ebenfalls geraten worden, das Kopftuch abzunehmen, wenn

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Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der Praxis

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sie auf Arbeits- oder Praktikumsplatzsuche seien: Für viele Arbeitgebende sei das Kopftuch demnach ein Zeichen der Unterdrückung, sie trauten den Frauen keine eigenen Entscheidungen zu, sähen sie unter der Fuchtel der Familie und fürchteten, dass Mädchen zwangsverheiratet würden und ihre Ausbildung nicht beendeten.

Es sei weiterhin zu beobachten, dass Wohlfahrtsverbände muslimische Frauen mit Kopftuch meist lediglich befristet oder auf Minijob-Basis innerhalb von Projekten einstellen würden, deren Zielgruppe Migrant_innen seien. Die Musliminnen dienten als „Türöffner“ zu diesen Gruppen, eine Festanstellung resultiere daraus in der Regel nicht. Besonders aufgefallen sei ihrem Verband ein Berufsfindungsprojekt der Arbeiterwohlfahrt-Südhessen für junge Migrantinnen, so Boos-Niazy. In einem Zeitungsbericht über das Projekt hätten die beiden zuständigen Sozialarbeiterinnen gesagt, es werde den Teilnehmerinnen nahegelegt, zu überlegen, ob sie zur Erleichterung des Berufseinstieges das Kopftuch ablegen könnten.

Potenzielle Arbeitgebende seien darum gebeten worden, Kopftuchträgerinnen nicht gleich pauschal abzulehnen. Zudem sollten die Teilnehmerinnen überlegen, das Symbol Kopftuch selbst auf den Prüfstand zu stellen. „Das stellt die geltende Rechtslage völlig auf den Kopf“, sagte Boos-Niazy. „Denn die Nichteinstellung allein aufgrund des Kopftuches ist ein Verstoß gegen das Allgemeine

Gleichbehandlungsgesetz, das Tragen des Kopftuches dagegen von der grundgesetzlichen

Religionsfreiheit gedeckt. Das heißt, in diesem Seminar erscheinen die jungen Frauen als Bittstellerinnen, die dankbar sein müssen, wenn ein Arbeitgeber bereit ist, ihre ‚Andersartigkeit‘ großmütig

hinzunehmen.“ Es sei schlicht nicht die Notwendigkeit gesehen worden, die jungen Frauen durch Vermittlung der Rechtslage dazu zu befähigen, sich gegen Benachteiligungen zu wehren.

Am 13. Februar 2015 habe sich der Vorstand der

Landesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros Niedersachsen (lag) in einer

Pressemitteilung für die Beibehaltung des Kopftuchverbots für Lehrerinnen ausgesprochen. Anlass sei der anstehende Staatsvertrag mit den Muslimen gewesen. Die

Arbeitsgemeinschaft habe argumentiert, das Auftreten von Kopftuch tragenden Lehrerinnen an der Schule verletze die staatliche Neutralität. Boos-Niazy zitierte aus der Mitteilung: „In unserer modernen Gesellschaft ist das Kopftuch besonders ein patriarchales Symbol, denn nur Mädchen und Frauen sollen sich verhüllen, nicht Jungen und Männer. Dies widerspricht dem Erziehungs- und Bildungsideal unserer Gesellschaft, alle Mädchen und Jungen gleich zu behandeln und ihnen gleiche Startchancen zu ermöglichen.“

Anlässlich des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot habe die Arbeitsgemeinschaft kommunaler Gleichstellungsstellen im Kreis Herford am 1. Juni 2015 eine Stellungnahme herausgegeben, die an alle Schulleitungen des Kreises gegangen sei. Diese habe darauf gezielt, diese hinsichtlich der Umsetzung des BVerfG-Beschlusses zu verunsichern und sie indirekt aufgefordert, Kopftuch tragende

Bewerberinnen entgegen der geltenden Rechtslage bei einer Bewerbung nicht einzustellen. In der Stellungnahme habe es unter anderem geheißen: „Die Mehrheit der hier lebenden muslimischen Frauen möchte kein Kopftuch tragen und sich auch nicht in irgendeiner Art und Weise verhüllen. Dazu gibt es auch keinen Anlass.“ Weiter habe es geheißen, dass das Kopftuch bedeute, dass Frauen sich dem Willen des Mannes und seinen Bedürfnissen unterzuordnen hätten und das sei mit dem Verständnis von Gleichberechtigung nicht vereinbar. Boos-Niazy zitierte weiter aus der Stellungnahme: „Eine Lehrerin

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mit Kopftuch ist ein stummes aber sehr beredtes Zeichen dafür, dass die konservativen islamischen Normen Geltung haben. Eine Kopftuch tragende Lehrerin kann deshalb kein Vorbild und keine Hilfe für junge Mädchen und Frauen sein, die Gleichberechtigung leben wollen.“

Boos-Niazy beklagte ein Messen mit zweierlei Maß: „Die betroffenen Frauen bemerken sehr wohl, dass die Öffentlichkeit nicht müde wird, von den Menschen mit Migrationshintergrund die Einhaltung der deutschen Rechtsordnung zu fordern, während für sie selbst diese Regeln offensichtlich keine bindende Wirkung haben.“ Dies verhindere ein Heimisch-Werden. „Doch gerade das ist notwendig, wenn auch kommende Generationen sich für die hiesige Rechtsordnung stark machen sollen“, so Boos-Niazy. Es sei völlig aus dem Blick geraten, was eine freie Gesellschaft ausmache. „Die Information darüber und das Bewusstsein, dass wir alle Schaden nehmen werden, wenn wir diese freie Gesellschaft nicht verteidigen, müssen wir stärker in den Fokus rücken. Das geht nur durch permanentes Erinnern, vor allem im Bereich der Bildung und der Medien.“

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Diskussion zum Vortrag 9

Diskussion zum Vortrag

Teilnehmende

Nesreen Hajjaj Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA)

Eva Maria Andrades Projektleiterin des Antidiskriminierungsnetzwerkes Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg Dr. Nahed Samour Humboldt-Universität Berlin, Juristische Fakultät Prof. Dr. Riem Spielhaus Universität Göttingen, Institut für

Schulbuchforschung

Vera Egenberger Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V.

(BUG)

Mohamad Hajjaj Landesvorsitzender des Zentralrates der Muslime in Berlin e.V.

Dunya Adigüzel Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG)

Zeynep Cetin Netzwerk gegen Diskriminierung und

Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.)

Michaela Ghazi Personalrätin Allgemeinbildende Schulen

Reinickendorf, Berlin, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

Taner Aksoy fair – Federation against Injustice and Racism e.V.

Najla Al-Amin Universität Osnabrück, Institut für Islamische Theologie

Dr. Sebastian Müller Deutsches Institut für Menschenrechte e.V. (DIMR) Maryam Haschemi Yekani Moderation, Rechtsanwältin

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Maryam Haschemi Yekani wies in ihrer Diskussionseinleitung auf ihre Erfahrung als Rechtsanwältin mit dem Thema hin: Arbeitgebende würden beispielsweise anführen, dass muslimische Frauen, die sich für das Tragen des Kopftuchs entschieden hätten, dies „sehr offensiv“ tragen würden. Ihr stelle sich dabei die Frage, wie man es „weniger offensiv“ tragen könne. Das Kopftuch werde von vielen Arbeitgebenden als nicht angemessen erachtet, außerdem werde von Frauen bei der Einstellung „eine gewisse

Diskussionsfreudigkeit“ über das Kopftuchtragen erwartet.

Nesreen Hajjaj von Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA), berichtete von

Diskriminierungserfahrungen bei Bewerbungen besonders auf solche Arbeitsstellen, in denen sie „das Gesicht“ einer Institution darstellen würde. Dabei sei sie auf teilweise erhebliche und verbal scharfe Ablehnung gestoßen, die schwer zu verdauen gewesen sei. Im 21.

Jahrhundert hätte sie solche

Reaktionen eigentlich für unmöglich gehalten. Schließlich sei es

mittlerweile völlig selbstverständlich, dass Frauen mit Kopftuch beruflich tätig sein wollten.

Eva Maria Andrades, Projektleiterin des Antidiskriminierungsnetzwerkes Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg, sagte, dass in der Beratung festzustellen sei, dass Arbeitgebende sehr offen diskriminieren würden, wenn es um das Kopftuch gehe. Sie beriefen sich häufig darauf, dass sie eine gewisse Neutralität wahren wollten. Auch gebe es die Begründung, das Kopftuch als

Unterdrückungssymbol nicht dulden zu wollen. Erstaunlich sei, wie selbstbewusst das vertreten werde.

Dies erkläre sich einerseits wohl aus mangelnder Rechtskenntnis, zum anderen aber auch, weil sie sich darüber hinwegsetzen wollten. „Das finde ich ist schon sehr erstaunlich“, so Andrades. Das offene Ansprechen erleichtere allerdings juristische Auseinandersetzungen, weil die Diskriminierung leichter zu beweisen sei. So sei es gelungen, vor Gericht den entsprechenden Nachweis zu führen und für Frauen dadurch eine Entschädigung auf Grundlage des AGG zu erstreiten. Auch an Schulen zeige sich das Selbstbewusstsein, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen. Das entspreche der derzeitigen politischen Diskussion und einer Erosion des Rechtsempfindens. Von Jobcentern werde den Frauen nahegelegt, das Kopftuch abzunehmen, anstatt die Frauen über ihre Rechte aufzuklären. In Berlin sei das Neutralitätsgesetz das große Problem, das trotz des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts

beibehalten worden sei. Der Berliner Senat verteidige dies weiterhin vehement. Es gebe durch das Gesetz eine „mittelbare Wirkung“, die ganz klar Lehrerinnen benachteilige. Schulen und Schulleitungen würden es über den tatsächlichen Gehalt hinaus sehr weit auslegen und beispielsweise Praktikantinnen und Lehramtsstudentinnen mit Verweis darauf ablehnen. Auch in der Justiz und der Rechtspflege seien die Aussagen zur Geltung und Anwendung sehr schwammig und würden „zum Nachteil von Frauen, die ein Kopftuch tragen, genutzt“.

Dr. Nahed Samour, Humboldt-Universität Berlin, Juristische Fakultät, schilderte, dass sich das Problem vor zu verlagern scheine. Frauen mit Kopftuch würden sich sehr gut überlegen, wo sie sich überhaupt bewerben wollten: Für eine Studentin der Rechtswissenschaft sei schon sehr früh klar, dass die Verwaltung oder die Justiz nichts für sie sei, außer sie sei bereit, dort zu kämpfen. Damit verlagere sich vieles in die Selbstständigkeit, was neben Chancen auch Schwierigkeiten bedeute. Viele Frauen seien dadurch von vielen Bereichen abgeschnitten und vom „Arbeitsmarkt einfach weggedrängt“. Außerdem sei es nicht nur eine Diskriminierung aufgrund der Religion, sondern auch aufgrund des Geschlechts. Sie

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Diskussion zum Vortrag 11

wünsche sich daher einen noch stärkeren Hinweis an die Betroffenen und in Beratungsnetzwerken auf die Rechtslage und eine Aufklärung, welche Pflichten die Arbeitgeber_innenschaft und welche Rechte die Bewerberinnen und Arbeitnehmerinnen hätten. Mit Blick auf eine teilweise geforderte stärkere Öffentlichkeitsarbeit bei dem Thema merkte sie an, dass dies durchaus schwierig sei. Alles, was öffentlich diskutiert werde, müssten die Betroffenen abwehren. Jede Schlagzeile sei fast schon ein Angriff auf den Körper. Sie sprach sich daher für eine gezielte und gesteuerte Aufklärung aus.

Prof. Dr. Riem Spielhaus, Universität Göttingen, Institut für Schulbuchforschung, verwies auf große Unsicherheiten und eine Umkehrung der Argumentation bei Einstellungsverfahren. Es werde gefragt, ob überhaupt eine Frau mit Kopftuch eingestellt werden könne im öffentlichen Dienst. Dabei müsse die Frage eigentlich heißen: Können wir sie überhaupt nicht einstellen aufgrund des Kopftuches? Es müsse erst einmal der Schutz hervorgehoben werden. Auch in der Wissenschaft falle ihr auf, dass oft über das Kopftuchverbot gesprochen werde, nicht aber über den Schutz des Bekenntnisses. „Das ist eine vollkommene Verdrehung auch in der Debatte über dieses Thema.“ Sich mit diesen

Diskriminierungsrisiken zu beschäftigen sei daher sehr zu begrüßen. Sie unterstrich, dass es wichtig sei, über das Thema Vermeidungsstrategien nachzudenken und zu forschen. Sie verwies außerdem darauf, dass Aussagen aus der Bundesagentur für Arbeit sie ratlos zurückließen. Dort heiße es aus der

Leitungsebene, das Kopftuch sei kein Problem. Die Praxis in den Jobcentern sehe dann jedoch anders aus. Wenn die Leitung nicht im Blick habe, was in ihren Behörden passiere, werde das Problem letztlich auf dem Rücken der Frauen ausgetragen.

Vera Egenberger, Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG), berichtete von einer

„besonderen Spielart der Diskriminierung“ von muslimischen Juristinnen. Diese müssten während ihres Referendariats mehrere Stationen durchlaufen, unter anderem in der Justiz. In einem Fall in Bayern habe eine Kopftuch tragende Referendarin die Auflage erhalten, das Kopftuch abzunehmen oder nur im Hinterzimmer zu agieren. Sie habe sich zwar für eine Klage dagegen entschieden. Diese sei aber durch das Gericht „mit sehr klugen und sehr kreativen Schachzügen“ völlig unmöglich gemacht worden. Dieses Vorgehen betreffe auch die Gleichbehandlung in der juristischen Ausbildung.

Mohamad Hajjaj, Landesvorsitzender des Zentralrates der Muslime in Berlin e.V., bezeichnete das Thema Kopftuch als eine Art Symbol. Tatsächlich gehe es nicht um Religion, sondern um Rassismen.

Auch nicht-religiöse Menschen würden aufgrund äußerlicher Zuschreibungen diskriminiert, weil angenommen werde, dass sie Muslime seien oder einen muslimischen Hintergrund hätten. Es sei fatal, dass in der Gesellschaft nicht mehr Eignung und Leistung zählten, „sondern Rassismen

ausschlaggebend“ seien. Es werde mittlerweile mit voller Überzeugung und Inbrunst Musliminnen gesagt, man stelle sie nicht wegen des Kopftuchs ein. Diese Diskriminierung sei teilweise auch medial getragen, werde hoffähig gemacht und gehöre zum Alltag. Sie sei ein gesellschaftliches Phänomen, das angegangen werden müsse. Außerdem habe er in Berlin erlebt, dass Gleichstellungsbeauftrage und Frauenbeauftragte die Kopftuch tragenden Frauen als beratungsbedürftig ansähen.

Dunya Adigüzel, Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V.

(IGMG), hob die Diskriminierung in Jobcentern hervor. Diese Einrichtungen sollten eigentlich zur Förderung von Menschen auf dem Arbeitsmarkt agieren. Wenn jedoch versucht werde, den Frauen das Kopftuch auszureden, finde eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Damit werde den Frauen „praktisch klar gemacht“, sie und das Kopftuch seien das Problem. Sie erwähnte Fälle in Nordrhein-Westfalen, bei denen das Jobcenter Frauen gedroht habe, Mittel zu kürzen, wenn sie das Kopftuch nicht abnehmen würden. Es sei falsch, das klischeehafte und diskriminierende Denken als normal darzustellen, dass eine Frau mit Kopftuch das Problem sei. Ohnehin sei es merkwürdig, dass plötzlich Räume wie Arztpraxen

„staatlich“ würden. Es bestehe offenbar in der Gesellschaft ein Konsens darüber, dass eine Frau mit Kopftuch bestimmte Arbeiten nicht machen könne, weil es unhygienisch sei und Arbeitgebenden Kunden verloren gingen.

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Zeynep Cetin, Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.), verwies auf die Praxis von Arbeitgebenden, die sich bewusst privater Arbeitsagenturen bedienten. Diese würden vorab die Auswahl der Bewerberinnen durchführen und es bestünden interne Absprachen, keine muslimischen Frauen mit Kopftuch einzustellen. Die private Arbeitsvermittlung reiche dann nur Bewerbungen von Frauen weiter, die kein Kopftuch trügen. Es gebe somit neben der offenen Diskriminierung weiter die verdeckte. Durch die zwischengeschaltete Agentur könne die Diskriminierung nicht nachgewiesen werden.

Michaela Ghazi, Personalrätin Allgemeinbildende Schulen Reinickendorf, Berlin, Gewerkschaft

Erziehung und Wissenschaft (GEW), wies darauf hin, dass nur wenige muslimische Frauen mit Kopftuch ein Lehramtsstudium begännen. Angesichts der dramatischen Lehrenden-Situation in Berlin und der Tatsache, dass die Schulen immer bunter und vielfältiger würden, sei das „nahezu schon lächerlich, wenn es nicht so traurig wäre“. Da dies immer wieder an der Neutralität festgemacht werde, sei es unbedingt notwendig, diesen Begriff zu definieren. Natürlich sei die Schule als Institution ein Ort, der Neutralität wahren müsse. Es sei aber ein Irrtum anzunehmen, dass die Kolleginnen und Kollegen neutral seien, weil sie alle durch Sozialisation und Erziehung geprägt seien. In einer weltoffenen Gesellschaft müsse die Schule diese Vielfalt auch darbieten. Den Kolleginnen ihre Neutralität abzusprechen sei diskriminierend.

Außerdem höre die Neutralität der Schule immer dann auf, wenn es um das Personal für die Reinigung gehe. Dort sei es dann „nicht so wichtig, ob die Kolleginnen ein Kopftuch tragen oder nicht“. Sie beobachte, dass Schulleitungen beim Thema Kopftuch sehr hilflos seien, intensivere Aufklärungsarbeit sei daher dringend nötig.

Taner Aksoy, fair – Federation against Injustice and Racism e.V., nahm die Situation der Frauen nach der Diskriminierungserfahrung in den Blick. Es müsse auch die Frage gestellt werden, was mit ihnen danach

geschehe. Sie wollten teilweise ab einem gewissen Zeitpunkt den Fall nicht mehr weiter verfolgen, weil die psychische Belastung zu groß werde.

Sie wollten dann einen Schnitt machen und mit der Sache abschließen. Diese Situation werde zu wenig beachtet.

Najla Al-Amin, Universität Osnabrück, Institut für Islamische Theologie, merkte an, dass es durchaus auch positive Fälle gebe. So sei eine Freundin kürzlich ohne Probleme in den Schuldienst in Hannover aufgenommen worden. Gleich beim Bewerbungsgespräch sei ihr ein Vertrag angeboten worden. Sie selbst habe jahrelang im Goethe-Institut als Deutschlehrerin gearbeitet. Zwar sei sie dort am Anfang auch gefragt worden, ob sie das Kopftuch abnehmen würde. Nachdem sie gesagt habe, dass das ihre Entscheidung sei und sie sich wünschen würde, nach ihrer Qualifikation beurteilt zu werden, sei das nie wieder ein Thema gewesen, was sie als sehr positiv empfunden habe. Allerdings habe sie auch von vielen negativen Erfahrungen gehört. Sie wünsche sich, dass die Betroffenen ihre Diskriminierung nicht einfach herunterspielen würden, sondern etwas dagegen täten. Sie sollten das nicht einfach als völlig normale Situation in Deutschland hinnehmen.

Dr. Sebastian Müller, Deutsches Institut für Menschenrechte e.V. (DIMR), verwies auf „einen sehr schönen Satz“ des Bundesverfassungsgerichts, dass es einen Bildungsauftrag gebe, die religiöse Pluralität auch an Schulen sichtbar zu machen. Das gehe in der Debatte manchmal unter. Zudem sei es

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Diskussion zum Vortrag 13

in Menschenrechtszusammenhängen wichtig zu betonen, dass es zuerst die Freiheit gebe. „Erstmal haben wir die Freiheit, und der Staat muss begründen, warum er sie einschränken will.“ Bei der

Religionsfreiheit sei der Begründungsaufwand dafür relativ hoch. Es sei gut, sich dessen immer wieder zu vergewissern, auch wenn die Realität anders aussehe und die gesellschaftliche Debatte anders laufe.

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Arbeitsgruppe 1: Rechtliche

Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –

Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe

Privatdozentin Dr. Sabine Berghahn,

Rechtsanwältin und Politikwissenschaftlerin, Freie Universität Berlin

(vollständiger Manuskripttext, Dr. Berghahn konnte nicht an der Veranstaltung teilnehmen)

Die sog. Kopftuchdebatte drehte sich rechtlich, politisch und gesellschaftlich bislang hauptsächlich um das „Kopftuch der Lehrerin“. Dies hängt auch damit zusammen, dass mit dem leidvollen Rechtsweg von Fereshta Ludin bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und mit dem Urteil des Zweiten Senats vom 24.09.2003 eine grundsätzliche Richtung eingeschlagen und für die dann folgende Zeit vorgegeben wurde.

Der Zweite Senat des BVerfG befand sich intern in einer Zwickmühle. Die liberale Richter_innengruppe im Senat hatte allem Anschein nach Mühe, eine interne Mehrheit für ein Urteil zu bilden, das der Verfassungsbeschwerde von Fereshta Ludin stattgibt und das Kopftuchtragen grundsätzlich erlaubt.

Daher wurde ein in sich widersprüchlicher Kompromiss mit einem Richter des kopftuchkritischen Lagers gefunden. Man einigte sich auf die Linie, dass zwar Ludins Grundrecht der Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG) verletzt worden sei, aber die Bundesländer für die Zukunft in ihren Schulgesetzen das Kopftuch

verbieten könnten, indem sie bei Annahme einer „abstrakten Gefährdung“ der staatlichen Neutralität, des Schulfriedens oder der Grundrechte von Schüler_innen oder Eltern das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Kleidung oder Symbole verbieten.

Solche Gesetze wurden in den Jahren 2004-2006 in acht von 16 Bundesländern erlassen, in fünf davon mit sog. Ausnahmeklauseln zugunsten der Darbietung christlich-abendländischer Traditionen, womit die gesetzgebenden Mehrheiten den Nonnenhabit und die jüdische Kippa vom Verbot ausgenommen sehen wollten.

Für Kopftuch tragende Bewerberinnen für das Lehramt und für bereits im Schuldienst tätige Lehrerinnen mit Hijab bedeuteten die Gesetze den glatten Ausfall des individuellen Rechtsschutzes. Bewerberinnen wurden abgelehnt, bereits tätige Lehrerinnen wurden gemaßregelt, abgemahnt oder beamtenrechtlich diszipliniert und zum Teil sogar gekündigt oder aus dem Dienst entfernt. Sofern sie vor Gericht gingen, scheiterten sie stets, jedenfalls in höherer und höchster Instanz der Verwaltungs- oder Arbeitsgerichte.

Dortige Richter_innen hatten offenbar keinerlei Zweifel an der salomonischen Qualität des Urteils von

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Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe

15

2003: Keine Richtervorlage zum BVerfG und vor allem keine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) wurde initiiert.

Stattdessen erhoben 2010 zwei sanktionierte Lehrerinnen im Angestelltenverhältnis aus NRW Verfassungsbeschwerden. Diesmal war der Erste Senat zuständig. Aber auch der ließ sich Zeit. Die Materie war heikel, denn Abweichung vom Urteil des Zweiten Senats von 2003 hätte eigentlich die Anrufung des Plenums beider Senate erfordert. Das unterließ der Erste Senat dann aber doch und entschied am 27.01.2015 eigenständig, indem er feststellte, dass nur eine „hinreichend

konkrete“ Gefährdung von Schulfrieden, Neutralität oder Grundrechten von Schüler_innen oder Eltern ein Kopftuchverbot im Einzelfall rechtfertigen könne. Damit ist im Grundsatz Kopftuchtragen für Lehrerinnen erlaubt.

Wäre bereits im ersten Urteil dieser an sich rechtsstaatlich selbstverständliche Grundsatz zum Tragen gekommen, wäre die Entwicklung vermutlich viel pragmatischer und weniger konfliktreich verlaufen.

Dem Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion gemäß AGG (seit August 2006 in Kraft) wäre all- gemein mehr Beachtung geschenkt worden. Die Zeit hätte genutzt werden können zur Gewöhnung an Kopftuch tragende Frauen auch in akademisch anspruchsvollen Berufstätigkeiten. Auf der Seite der Schule und Schulaufsicht hätte man Differenzierungsvermögen entwickeln können, problematische Handlungsweisen oder Aussagen von Kopftuchträgerinnen zu erkennen und Wichtiges von

Unwichtigem für die Integrität des öffentlichen Dienstes zu unterscheiden. Der Abbau von Vorurteilen und die Inklusion aufstiegsorientierter junger Musliminnen mit oder ohne Kopftuch in den Lehrberuf an öffentlichen Schulen, in den öffentlichen Dienst und darüber hinaus in qualifizierte Erwerbstätigkeiten wären vermutlich weiter fortgeschritten, wenn es die pauschalen Verbotsgesetze in einigen

Bundesländern nicht gegeben hätte und wenn diese nicht eine solche Rückendeckung durch die Justiz erhalten hätten.

Für die Zukunft gilt es diesen Prozess der Pragmatisierung und Veralltäglichung des Umgangs mit Menschen anderer Religion und Kultur gesellschaftlich nachzuholen, ohne in platten Kulturrelativismus oder Gleichgültigkeit zu verfallen. Es gibt zweifellos auch von Seiten eingewanderter Muslime

problematisches Verhalten und geschürte Konflikte. Jedoch muss jedes soziale Phänomen nach seiner konkreten Eigenart betrachtet werden. Dass Mädchen in der Schule schwimmen lernen und Sport treiben, hat einen anderen Stellenwert als die Frage nach dem Kopftuch.

Politisch ist ein Lernprozess bei Politiker_innen erforderlich, so dass man darauf verzichtet, stets neue Verbotsgesetze, z.B. für die Gesichts- und Vollverschleierung, zu propagieren, weil der

rechtspopulistischen AfD oder anderen Gruppierungen der Wind aus den Segeln genommen werden soll und man die eigene Partei als handlungsfähig in Sachen Grenzziehungen darstellen möchte.

Eine Gelingensbedingung ist ferner die Erkenntnis auch unter Feministinnen, dass Frauen aus anderen Herkunftssphären ihre Emanzipation selbst bestimmen sollten und nicht unbedingt nach westlichem Muster „selig“ werden müssen. Das eigene Projektionsmuster sollte selbstkritisch erkannt werden: Denn das Kopftuch ist kein eindeutiges Symbol, nicht für Frauenunterdrückung und auch nicht für andere fragwürdige Ziele oder Praktiken. Wenn es überhaupt um den Symbolcharakter gehen soll, so muss differenziert werden, wer dem Kopftuch welche Bedeutung beimisst. In erster Linie zählt die Bedeutung, die die Trägerin ihrem Kopftuch beimisst. Den meisten anderen Menschen kann zugemutet werden, dass sie sich mit abwertenden Projektionen zurückhalten, solange sie nicht selbst (oder andere Personen) zum Kopftuchtragen gezwungen werden sollen.

Eine weitere Gelingensbedingung ist religiöse und weltanschauliche Toleranz. Früher war fast die ganze deutsche Bevölkerung in den beiden christlichen Großkirchen organisiert, heute sieht die religiöse Landschaft ganz anders aus, d.h. wesentlich pluralistischer. Vor allem ist der Islam als mitgliederstarke

(18)

Religion dazugekommen. Die deutsche Mehrheitsbevölkerung ist im Zeitverlauf säkularer geworden, d.h.

große Teile der Bevölkerung sind heute nicht-religiös bzw. gehören keiner Kirche oder

Religionsgemeinschaft an. Dennoch hat strikter Laizismus, d.h. die strenge Trennung von Religion und Öffentlichkeit, die Ausgrenzung des Religiösen ins Private und das Verbot der öffentlichen Bezeugung des eigenen religiösen Bekenntnisses, in Deutschland keine verfassungsrechtlich mehrheitsfähige Tradition. Sie einzuführen würde mehr Probleme schaffen als lösen.

Politisch und gesetzgeberisch sollten daher Bundesländer wie Berlin, wo es zumindest starke laizistische Tendenzen gibt, keinen weiteren rechtspolitischen Durchsetzungs- oder Aufrechterhaltungsehrgeiz entwickeln, sondern im Gegenteil ablassen von der Verfolgung eines solchen Sonderwegs, wie ihn das sog. Neutralitätsgesetz derzeit darstellt. Im Hinblick auf das Kopftuch der Lehrerin und sonstiger Berufe im öffentlichen Dienst missachtet das Gesetz die Vorgaben der zweiten Kopftuchentscheidung und sendet ein desintegratives Signal für alle Muslim_innen und ggf. Angehörige anderer Religionen aus.

Dr. Sebastian Müller, Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR), Projekt „Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit“

Müller nannte drei verschiedene menschenrechtlich relevante Ebenen zur Beurteilung eines

Kopftuchverbotes: die internationalen Menschenrechte, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz. Auf internationaler Ebene müsse man speziell zur Frage des Kopftuchs an Schulen ein wenig suchen. Es gebe jedoch Anknüpfungspunkte in der praktischen Auslegung der UN-

Antirassismus-Konvention und der UN-Kinderrechts-Konvention. So habe beispielsweise der UN- Kinderrechts-Ausschuss 2004 darauf hingewiesen, dass der Staat Bildungsmaßnahmen für Kinder und Eltern durchführen solle, um eine Kultur religiöser Vielfalt einüben zu können. Aus den

Menschenrechten leite sich zudem die Verpflichtung ab, alle Religionen und sichtbaren religiösen Zeichen gleich zu behandeln.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verfolge ebenfalls den Ansatz, dass alle Religionen gleich behandelt werden müssten. Er nehme allerdings Rücksicht auf die unterschiedlichen Verfassungstraditionen zur Trennung von Staat und Kirche. Deswegen habe er eine zurückhaltende Rechtsprechung entwickelt, die den Staaten einen großen Ermessensspielraum einräume. So dürfe Frankreich, das beim Verhältnis Staat und Kirche einen strikten Laizismus vertrete, sehr weit gehende

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Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe

17

Neutralitätspflichten verlangen. Nach Ansicht des EGMR sei es gerechtfertigt, das Prinzip des Laizismus auch auf staatliche Kliniken auszuweiten. Entsprechend habe er keine Verletzung des Rechts einer Klagenden gesehen, die in einer solchen Klinik ein Kopftuch habe tragen wollen und der es untersagt worden sei.

In Deutschland habe sich eine andere Verfassungstradition entwickelt, so Müller. Hier stehe das Prinzip im Mittepunkt, alle Religionen gleichermaßen zu fördern. Das deutsche Neutralitätsverständnis sei gerade kein Sterilitätsgebot. Gerade wegen des weiten Ermessensspielraums des EGMR sei es möglich, in Deutschland Regelungen zu finden, die der individuellen Religionsfreiheit mehr Gewicht gäben. Wie dies möglich sei, verdeutliche der aktuelle Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum

Kopftuchverbot.

Bezogen auf das Berliner Neutralitätsgesetz gebe es zwei relevante rechtliche Aspekte aus dem

Beschluss des BVerfG. Einerseits das Verbot der Privilegierung einer Religion. Eine Privilegierung gebe es in Berlin nicht, weil alle gleich behandelt würden. Problematisch werde es allerdings, wenn in der praktischen Auslegung die sichtbaren Bekenntniszeichen einer Religion unterschiedlich behandelt würden – also beispielsweise das Kopftuch als sichtbares Zeichen zu werten, ein Kreuz als Schmuck dagegen nicht.

Andererseits ermögliche das Gericht ein pauschales Verbot nur, wenn eine „substanzielle Konfliktlage über das richtige religiöse Verhalten“ im gesamten Schulbezirk vorliege. Die Konfliktlage müsse erst einmal bewiesen werden und sie müsse tatsächlich substanziell sein. Die Nachweispflicht dafür liege beim Berliner Gesetzgeber. Es sei fraglich, ob das einfach so für das gesamte Landesgebiet anzunehmen sei, wie es das Gesetz unterstelle. Das Berliner Pauschalverbot stehe hier im Gegensatz zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, das sehr detaillierte Anforderungen aufgestellt habe. Das DIMR habe diese Frage bereits untersucht und sich eindeutig positioniert: „Das Gesetz muss geändert werden. Es ist nicht verfassungsgemäß.“

Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss das deutsche Neutralitätsverständnis

konsequent auf Schulen angewendet, sagte Müller. Zum einen habe es klargestellt, dass das Kopftuch als Ausdruck der individuellen Religionsfreiheit der Lehrerin nicht pauschal verboten werden könne.

Zum anderen habe es staatlichen Stellen auch den Bildungsauftrag aus dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes mit auf den Weg gegeben. Das Bundesverfassungsgericht sage, dass die Schule in einer offenen Gesellschaft als Lernort für religiöse Diversität verstanden werden müsse. Dies leite das Gericht aus dem staatlichen Neutralitätsgedanken ab. Anders als in Frankreich sei dies in Deutschland jedoch ein offenes, förderndes Neutralitätsverständnis für sämtliche Religionsgemeinschaften.

Deswegen seien alle gleich zu behandeln, und zwar so, dass das in der Schule auch eingeübt werden könne.

Zeynep Cetin, Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.)

Cetin kündigte an, dass die am Berliner Arbeitsgericht unterlegene muslimische Frau weiter für ihr Recht kämpfen und auch weiter klagen werde. Es sei aber traurig, dass sie einen weiten Instanzenweg

durchlaufen müsse, obwohl das BVerfG in seinem Grundsatzurteil eigentlich eine klare Regelung

geschaffen habe. Sie frage sich, wie lange der Berliner Senat sich noch weigern wolle, das anzuerkennen.

Cetin führte einige Fälle aus der Beratung ihres Netzwerkes genauer aus. Es gebe derzeit viele Anfragen von Frauen, die sich als Quereinsteigerinnen für Willkommensklassen beworben hätten und abgelehnt

(20)

worden seien. Dies sei unverständlich angesichts der Tatsache, dass in Berlin an Schulen händeringend nach Lehrpersonal gesucht werde. Es würden immer wieder hochqualifizierte Frauen nur mit dem pauschalen Hinweis auf das Kopftuch abgelehnt, obwohl es gerade für Willkommensklassen nur von Vorteil sein könne, auch Quereinsteigerinnen aus anderen Berufszweigen einzustellen. „Das kann doch eigentlich nur ein Mehrwert sein“, so Cetin. Es würden auch Frauen zu Vorstellungsgesprächen

eingeladen und nicht von Anfang an abgelehnt. Auch würden einzelne Schulen sie gerne einstellen, allerdings mache dies dann die Senatsbildungsverwaltung nicht mit.

Diese Situation führe dazu, dass sich viele muslimische Frauen mit Kopftuch, die Lehrerinnen werden wollten, studiert hätten oder quer in den Beruf einsteigen wollten, auf eine Bewerbung verzichteten. Sie hätten durch die ablehnende Gerichtsentscheidung einfach nicht den Mut dazu. Diese Frauen müssten nicht nur zu Bewerbungen ermutigt werden, sondern auch dazu, gegen eine Ablehnung vorzugehen.

In einem geschilderten Fall ging es um eine muslimische Frau mit Kopftuch, die sich als Studentin für einen Nebenjob in einem Café beworben hatte. Während eines Probearbeitens sei sie von der Chefin der Filiale plötzlich darauf hingewiesen worden, dass sie in dem Betrieb nicht mit Kopftuch arbeiten könne.

Die Filialleiterin habe gesagt, dass sie als aufgeklärte Frau das Tragen des Kopftuches nicht legitimieren könne. Die Kopftuch tragende Frau habe vor Gericht aber Recht bekommen. Der Fall bestätige, dass diskriminierende Arbeitgebende kein Unrechtsbewusstsein hätten und davon ausgingen, dass ein Kopftuchverbot in einem Betrieb ganz normal sei.

Anhand eines weiteren Falls schilderte Cetin die Praxis, dass sich Arbeitgeber „hinter privaten Arbeitsvermittlungen verstecken“ würden, die eine Vorauswahl träfen. Dabei gebe es anscheinend interne Absprachen, mit denen muslimische Frauen mit Kopftuch ausgeschlossen werden sollten. In dem beschriebenen Fall habe die Agentur nach einer Bewerbung angegeben, dass die Kunden

niemanden mit Kopftuch einstellen wollten. Außerdem gebe es auch immer wieder den Hinweis, dass eine Arbeitsvermittlung nur möglich sei, wenn die Frau das Kopftuch während der Arbeit abnehmen würde. Es sei schwierig, gegen solche Arbeitsvermittlungsagenturen rechtlich vorzugehen.

Cetin nannte solche Vorgehensweisen geradezu belustigend, wenn Arbeitgebende sich andererseits in der Selbstdarstellung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz beriefen oder die „Charta der Vielfalt“

unterschreiben würden, es aber bei der Umsetzung in der Praxis hapere.

Als letztes Beispiel schilderte Cetin Hindernisse in der Flugzeugabfertigung. Dort gebe es für sogenannte Ramp-Agent_innen eine Uniformpflicht. Einer hochqualifizierten Bewerberin sei versucht worden, das Tragen des Kopftuches auszureden, weil die verschiedenen Fluggesellschaften, für die sie tätig werden würde, keine passende Uniform mit Kopftuch hätten. Es habe sich dabei deutlich der Wille gezeigt, auch keine Einzelfalllösung für die Situation suchen zu wollen.

Vera Egenberger, Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG)

Egenberger sprach in ihrem Vortrag über konfessionelle Arbeitgeber. Die kirchlich gebundenen,

katholischen oder evangelischen Wohlfahrtsverbände seien zusammen die zweitgrößten Arbeitgeber der Bundesrepublik. Die Krankenhäuser, Kindergärten, Seniorenheime und anderen Sozialdienste würden zu 80 bis 100 Prozent aus staatlichen Mitteln gefördert, weil sie staatliche, an Verbände gegebene

Aufgaben übernähmen. Sie bekämen in der Regel auch steuerliche Erleichterungen, die anderen kommerziellen Anbietern nicht notwendigerweise zuteilwürden. Noch aus der Tradition der Weimarer

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Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe

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Reichsverfassung abgeleitet, könnten die Kirchen nach innen eine Autonomie in Anspruch nehmen, mit der sie Internes ausschließlich selbst, ohne staatlichen Einfluss regeln könnten.

Nach europäischen Beschäftigungsrichtlinien könnten konfessionell gebundene Arbeitgeber Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen, wenn die Ausführung einer Tätigkeit einer kirchlichen Anbindung benötige. Beispiele dafür seien Seelsorger im Krankenhaus oder Priester, die der jeweiligen Konfession angehören müssten. Bei so genannten verkündungsfernen Stellen könnten solche

Ausnahmen aber eigentlich nicht mehr greifen. In der nationalen Umsetzung werde es in Paragraf 9 des AGG den konfessionellen Arbeitgebern weitgehend erlaubt, die Kirchenzugehörigkeit der

Mitarbeiter_innen zur Bedingung zu machen. Es seien in Einzelfällen Ausnahmen möglich, die auch durch interne Richtlinien geregelt seien, sie würden dann bei einem Mangel an qualifiziertem Personal angewendet.

Obwohl Personal durchaus benötigt werde, würden die konfessionellen Verbände muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, oft einfach nicht einstellen. Bislang habe es nach ihrem Wissen nur eine Klage einer Person dagegen gegeben, die diese vor Gericht verloren habe, so Egenberger. Sie verwies auch auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts an den EuGH, das die europarechtliche Konformität dieser Ausnahmeregelung für kirchliche Arbeitgeber zum Gegenstand hat.

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Diskussion zur Arbeitsgruppe 1

Moderatorin Maryam Haschemi Yekani nannte in der Diskussion weitere Beispiele aus ihrer Erfahrung als Rechtsanwältin mit dem Thema. Sie wies zudem auf weit verbreitete Missverständnisse bei der Neutralität hin. Private Arbeitgeber dürften diese gar nicht einfordern, anders als der Staat. Die Entscheidung für eine „religiös neutrale Zahnarztpraxis“ sei beispielsweise mit dem Berliner

Neutralitätsgesetz nicht vereinbar. Grundsätzlich gebe es bei der Neutralitätsfrage das Problem, dass Frauen mit Kopftuch sich erklären müssten, aber etwa bei einer Lehrerin, die eine Kette mit einem Kreuz trage, dieses religiöse Symbol in einem Vorstellungsgespräch überhaupt nicht angesprochen werde.

Ihrem Eindruck nach habe die Diskussion um das Kopftuch angefangen, als gut ausgebildete,

qualifizierte Frauen in bestimmte öffentlich sichtbare Bereiche vorgedrungen seien. Vorher habe sich beispielsweise niemand an Kopftuch tragenden türkischen Putzhilfen in bestimmten nicht-sichtbaren Bereichen gestört. Das bestätige sich durch Erfahrungen mit Jobcentern, in denen Frauen mit Kopftuch gesagt werde, sie bekämen nur Angebote für Callcenter, weil man sie dort nicht sehen und man sich auf die Qualifikation konzentrieren könne, im Einzelhandel seien sie nicht unterzubringen.

Zeynep Cetin nannte es „paradox und kurios“, dass nach ihrer Beratungserfahrung das Verbot religiöser Symbole faktisch immer nur muslimische Frauen mit Kopftuch treffe. Ein christliches Symbol wie ein Kreuz an einer Kette werde dagegen als erlaubter Modeschmuck eingeschätzt. Des Weiteren führte sie das Berliner Kammergericht als Ausbildungsstelle an, das den Umgang mit Kopftuch tragenden Frauen gut handhabe. Diese Referendarinnen seien von bestimmten hoheitlichen Aufgaben freigestellt, ohne dass dies Auswirkung auf die Gesamtnote oder auf die Beurteilung habe.

Ulrike Bargon, Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (agah), Landesausländerbeirat, erinnerte daraufhin an einen Fall in Hessen, in dem sich ein Anwaltsverein über eine Referendarin mit Kopftuch beschwert habe, die auf der Richterbank saß. Der damalige Justizminister habe gesagt, sie könne so an der Ausbildungsstation nicht mehr teilnehmen und müsse dann mit ungenügend beurteilt werden. Tatsächlich sehe sie das Problem der Beurteilung, weil Referendarinnen keine hoheitlichen Tätigkeiten ausübten.

Auf einen Einwand in der Diskussion, dass Neutralitätsgebote doch auch äußere Religionszeichen von Christen einschränken würden, etwa Ordenstracht tragende Nonnen, erläuterte Nahed Samour anhand eines Urteils des Arbeitsgerichtes Berlin die Frage von Bekleidungsvorschriften. Die Richter hätten festgestellt, dass es in der christlichen Religion keine vergleichbaren Bekleidungsvorschriften für

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Diskussion zur Arbeitsgruppe 1 21

gläubige Menschen wie im Islam gebe. Diese würden nur für bestimmte Positionen innerhalb der Glaubensgemeinschaft gelten. Eine Zugehörigkeit zu einem Orden als Mönch oder Nonne stelle demnach, anders als die Glaubensüberzeugung eines Einzelnen, eine herausgehobene Stellung dar.

Stefan Sträßer, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA), nannte den

Gedanken der Neutralität für Unternehmen vom Ansatz her richtig. Zur Erläuterung verließ er den seiner Ansicht nach von der ADS mit dem Kopftuch „sehr fokussiert“ gewählten Fachgesprächsgegenstand etwas. In der Praxis gebe es viele Fälle von Arbeitgebenden, die nicht diskriminieren wollten, sondern sich einfach die Frage stellen würden, wie man mit unterschiedlichen religiösen Anforderungen

umgehen solle. In einer Belegschaft, in der alle großen Weltreligionen vertreten seien, sei es nicht falsch von den Arbeitgebenden sich so neutral zu verhalten, wie es das Neutralitätsgesetz sage. „Das finde ich in einer pluralen Gesellschaft gar keinen verkehrten Ansatzpunkt“, so Sträßer. Er nannte Beispiele wie einen Mitarbeiter in einem Chemieunternehmen, der sich aus religiösen Gründen einen Bart wachsen lasse, wodurch er aber den gesetzlich vorgeschrieben Mundschutz nicht mehr darüber tragen könne.

Oder es gebe den Fall im Ramadan, wenn ein Gabelstaplerfahrer zu kollabieren drohe, weil er nicht trinke. Auch wenn Männer aus religiösen Gründen sagen würden, sie könnten nicht nackt gemeinsam mit anderen Männern duschen, stelle sich für Arbeitgebende die Frage nach dem Umgang damit. Das seien handfeste Probleme. Es würden dann in manchen Fällen islamwissenschaftliche Gutachten eingeholt, um die Sachverhalte zu klären, natürlich auch Schichtpläne geändert oder Mitarbeiter_innen umgesetzt. Für den Arbeitgebenden bedeute dies dann aber auch, andere Beschäftige mit gleicher Qualifikation finden zu müssen. Wenn man einer Religionsgemeinschaft entgegen komme, könne sich das Problem stellen, dass dann die nächste mit einer anderen Forderung komme. Außerdem seien Unternehmen, etwa im ländlichen Raum, damit konfrontiert, dass Kund_innen beispielsweise keine Kopftuch tragende Versicherungsvertreterin akzeptieren würden. Es stelle sich dann die Frage, wie damit umzugehen sei. Er könne deswegen die Idee, sich neutral zu verhalten, gut verstehen, so Sträßer.

Es sei daher wünschenswert, das Themenjahr der ADS etwas breiter anzulegen.

Nahed Samour entgegnete, dass der Neutralitätsbegriff, wie ihn zumindest das Berliner

Neutralitätsgesetz formuliere, hochproblematisch sei, weil man schnell bei Vorgaben von Sichtbarkeit lande. Man solle Neutralität besser durch Inklusion ersetzen. Denn dann werde schnell deutlich, wer exkludiert werde, wer außen vor bleibe. Damit würde auch „die Dramatik eindeutig, mit der wir es hier zu tun haben“.

Vera Egenberger betonte, dass es nicht helfe, die verschiedenen Dinge zu vermischen. Die staatliche Neutralität habe nur mit Schule und mit Gerichtsbarkeit zu tun, nichts mit privaten Firmen. Der Umgang mit anderen Anforderungen an Unternehmen sei „mit der AGG-Brille“ betrachtet eine Frage des

Diversity-Managements, nicht der Neutralität.

(24)

Sebastian Müller führte zum Umgang mit religiösen Gruppen Kanada als Beispiel an. Dort habe man schon in den 1960er-Jahren den Begriff der „reasonable accommodation“ eingeführt, also der angemessenen Vorkehrung. Demnach hätten die Arbeitgebenden eine Verpflichtung nachzuweisen, warum sie bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllen wollten. Am Ende müsse man sich jedoch immer überlegen, wie man das Zusammenleben organisieren wolle. Er räumte ein, dass die Menschenrechte dabei einiges an Kreativität abverlangten.

Barbara Schmidt, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, wies darauf hin, dass das Ministerium in den viel gescholtenen Jobcentern viele Schulungen zur Interkulturellen Öffnung und Diversität anbiete.

Diese benötigten jedoch viel Zeit, Personal und Ressourcen. Ihrer Erfahrung nach wäre ein besseres, zentrales Wissensmanagement sehr hilfreich, beispielsweise mit geeigneten Informationsmaterialien über den Rechtsstand.

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Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des Kopftuches am Arbeitsplatz 23

Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des Kopftuches am Arbeitsplatz

Nesreen Hajjaj, Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA)

Hajjaj beschrieb zunächst das Ziel von JUMA: „Mit uns und nicht nur über uns sprechen.“ Das Thema sei wichtig, um Partizipationsmöglichkeiten für Frauen auch als Chance anzuerkennen. Es gehe außerdem um eine gesellschaftliche Mitgestaltung und darum, Vielfalt in verschiedenen Berufen abzubilden. Die Beispiele und Zitate aus dem Vortrag von Boos-Niazy zeigten, wie stark „unter der Gürtellinie“ und niveaulos Kommentare von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern manchmal seien. Der Entschluss, ein Kopftuch zu tragen, komme bei jungen Musliminnen aus freien Stücken und sei keine Entscheidung der Eltern. Ein Kopftuch zu tragen bedeute faktisch allerdings, sich in bestimmten Bereichen einem Berufsverbot unterwerfen zu müssen. Das Tragen eines Kopftuches werde aber erst zum Problem, wenn Frauen anfangen würden, sich zu entwickeln, aufzusteigen und in gesellschaftlich und beruflich wichtige Positionen zu streben. In Berufen mit Geringverdienenden stelle das Kopftuch dagegen kein Problem dar. Mit Blick auf die akademische Ausbildung sagte Hajjaj, dass die Entscheidung junger Musliminnen nach Ansicht mancher Menschen offenbar nicht zum sonst gängigen „Unterdrückungsnarrativ“ passe.

Dunya Adigüzel, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG)

Adigüzel beklagte eine klischeehafte Darstellung von Frauen, deshalb sei ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz notwendig. Dabei gehe es darum, das Bild einer Frau mit Kopftuch nachhaltig zu ändern. Dies könne mit Kampagnen, Publikationen und Plakaten zur „Normalisierung“ geschehen, die auch Vielfalt sichtbar machten. Sie verwies als Beispiel auf die Universität Gummersbach, die mit Kopftuch tragenden Studentinnen werbe oder die Zeitschrift „Familie“, die Kopftuch tragende Frauen als Mütter zeige.

Adigüzel nannte die gesetzlichen Regelungen des AGG nicht ausreichend, weil die Nachweisbarkeit vor Gericht problematisch sei, meist Aussage gegen Aussage stehe und es beim Weglassen der

diskriminierenden Äußerung umgangen werden könne. Außerdem ändere es nicht die Haltung der Arbeitgebenden. Es würden zwar diskriminierende Äußerungen durch Arbeitgebende unterbleiben, in der Praxis ändere sich dadurch aber nichts. Adigüzel führte weiter aus, dass Diskriminierungen von Seiten muslimischer Frauen selten angezeigt würden. Viele vertrauten dem Rechtssystem nicht. In der Gesellschaft fehle ein Schuldbewusstsein für die Diskriminierung, die Ablehnung muslimischer Frauen durch Arbeitgebende sei salonfähig geworden. Es gebe daher Handlungsbedarf bei der Aufklärung über die eigenen Rechte und Handlungsmöglichkeiten. Mit Empowerment-Maßnahmen müsse verhindert werden, dass Frauen mit Kopftuch bestimmte Berufsfelder schon im Vorhinein ausschlügen.

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Romin Khan, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di)

Khan räumte ein, dass das AGG für Gewerkschaften noch kein großes Thema sei. Hier sei noch eine weitere Auseinandersetzung nötig. Höheres Gewicht habe bei der Gewerkschaft das Thema

Geschlechterdiskriminierung, beispielsweise in Fragen der Entgeltgleichheit oder Karrierechancen. Als mögliche Handlungsmöglichkeiten bezeichnete Khan außerbetrieblich anonymisierte

Bewerbungsverfahren und eine Interkulturelle Öffnung. Innerbetrieblich ergäben sich

Handlungsmöglichkeiten durch das Betriebsverfassungsgesetz, etwa dadurch, Personalräte zu

informieren und Regelungen zu schaffen, die Antidiskriminierungspraxen fördern und stärken würden.

Kahn sagte, dass auch Verdi sich noch stärker mit spezifischen Diskriminierungsstrukturen

auseinandersetzen und das Thema unter dem Stichwort Empowerment in Bildungsseminare einfließen lassen sollte. Khan wies auf das „große Thema“ hin, dass das AGG nicht in kirchlichen Betrieben gelte.

Bei den Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene nannte Khan den gewerkschaftlichen Rechtsschutz. Allerdings bedeute diese Inanspruchnahme häufig, dass die Lösung auf Vergleiche ausgerichtet sei, statt Grundsatzurteile zu erwirken.

Dr. Petra Rostock, Arbeiterwohlfahrt (AWO), Bundesverband

Rostock beschrieb den seit dem Jahr 2000 laufenden Prozess der interkulturellen Öffnung der AWO. Dieser orientiere sich am Leitbild der Offenheit für alle, die sich mit den Werten der AWO identifizierten, etwa der Achtung weltanschaulicher Bekenntnisse.

Ziel sei es, Vielfalt auch in den Reihen der Beschäftigten abzubilden.

Spezifische Maßnahmen des Bundesverbandes für Frauen mit Kopftuch seien ihr nicht bekannt. Es ist ein Leitfaden entwickelt, der sich auf das AGG bezieht und mit Bildungsmaßnahmen für

Multiplikator_innen begleitet werden soll. Rostock sagte, dass sich das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum

Kopftuchtragen mit den AWO-Werten decke. Als Best Practice- Beispiel nannte sie die Aktionswoche „Echtes Engagement. Echte Vielfalt. Echt AWO.“, zu der 60 Bewerbungen mit Plakaten eingegangen seien, die diese unterschiedlichen

Vielfaltsdimensionen abgebildet hätten, etwa durch ein Motiv mit einer Kopftuch tragenden Mitarbeiterin.

Andreas Merx, IQ Fachstelle Interkulturelle

Kompetenzentwicklung und Antidiskriminierung

Merx betonte in seinem Kurzvortrag, dass es wichtig sei, positive Anreize zu setzen. Arbeitgebende seien nicht immer rassistisch, Vorbehalte und Unkenntnis seien jedoch weit verbreitet. Diese Gruppe könne durch Informationen erreicht werden. Merx berichtete, dass nach einer Studie der ADS mit

anonymisierten Bewerbungsverfahren gute Erfolge zu erzielen seien, besonders, wenn standardisierte Verfahren angewendet würden. Es sprach sich für breite Ansätze statt Einzelmaßnahmen aus, um

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