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Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der Praxis

Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung und die Möglichkeit aus der Praxis der Arbeit des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen zu berichten. Die angeführten Beispiele stammen aus unserer Arbeit der Beratung und Unterstützung von Frauen, die von Diskriminierung betroffen sind. Im Folgenden möchte ich drei Aspekte beleuchten:

Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben Ein Blick in die Praxis

Was uns Sorgen macht – die Erosion des Rechtsempfindens

Ich nehme in meinem Vortrag in erster Linie Bezug auf das Grundgesetz und das AGG, nicht auf die Rechtspositionen der Vereinten Nationen.

Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben Grundrechte in der Kopftuchdiskussion

Die Grundrechte, die bei der Diskussion um das Kopftuch regelmäßig eine Rolle spielen sind:

das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3), nach dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, die Geschlechter gleichberechtigt sind, der Staat diese Gleichberechtigung fördern und Hindernisse abbauen muss, sowie niemand wegen diverser Merkmale, u.a. seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf,

die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit, üblicherweise etwas verkürzt als

„Religionsfreiheit“ bezeichnet (Art. 4 Abs. 1 und 2), die nach gültiger Rechtsprechung sehr weit ist und eine sichtbar religiöse Praxis mit einschließt,

die Berufsfreiheit (Art. 12 GG Abs. 1), nach der jeder seinen Beruf frei wählen kann,

nach Art. 33 GG, die Garantie, dass jeder Deutsche nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern haben muss, und zwar unabhängig von seinem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis oder eben auch der Ablehnung eines solchen Bekenntnisses oder einer Weltanschauung.

Das hier genannte Kriterium der „Eignung“ wird uns später noch einmal begegnen.

Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Beruf: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Neben den grundgesetzlichen Regelungen ist das Mitte August 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bei Kopftuchfragen relevant. Das AGG ist die Umsetzung mehrerer

EU-Anhang 31

Richtlinien, die zum Ziel haben, Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder wegen der sexuellen Identität gar nicht erst entstehen zu lassen oder – falls sie schon existieren – sie zu beseitigen.

Das AGG gilt in seinem arbeitsrechtlichen Teil für den Bereich der Beschäftigung – einschließlich der betrieblichen Ausbildung – und in seinem zivilrechtlichen Teil für Verträge mit privaten

Bildungseinrichtungen. In diesem Bereich fehlt allerdings der im arbeitsrechtlichen Teil existierende Teil des Schutzes gegen sexuelle Belästigung.

Das AGG verbietet in erster Linie die Benachteiligung durch den Arbeitgeber. Es untersagt darüber hinaus aber auch Diskriminierungen, die von Arbeitskollegen, Kunden oder Lieferanten begangen werden. Allerdings leiten sich gegen diese Personen keine unmittelbaren Ansprüche aus dem AGG ab.

Die begrenzte Reichweite des AGG offenbart also große Schutzlücken. Bei unserer Arbeit bemerken wir das insbesondere im Bereich der Bildung, wenn es um die Diskriminierung von Schüler*innen oder von Student*innen geht.

Diesen Gruppen ist der Schutz durch das AGG verwehrt, da diesbezüglich bestehende europarechtliche Vorgaben bisher nicht umgesetzt bzw. nicht in die Schul- und Hochschulgesetze der einzelnen

Bundesländer aufgenommen wurden.

Vier Paragrafen des AGG spielen im Hinblick auf das Kopftuch beim Zugang zum Arbeitsmarkt eine besondere Rolle:

§ 1 Ziel des Gesetzes und Benachteiligungsgründe

§ 7 Benachteiligungsverbot. Dies gilt für den Bereich der Stellenausschreibung über die Einstellung und die Arbeitsbedingungen bis hin zur Kündigung. Es umfasst Arbeitnehmer, Auszubildende und Beamtinnen sowie verschiedene Arten von Benachteiligungen (unmittelbare und mittelbare)

§ 8 Abs. 1, der eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen unter bestimmten Umständen für zulässig erklärt und

§ 9, der den Religionsgemeinschaften eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung erlaubt.

Auf die beiden letzteren Paragrafen gehe ich im Hinblick auf das Kopftuch kurz ein:

Verbotsmöglichkeiten Privatwirtschaft

Im Bereich der Privatwirtschaft ist ein Verbot des Kopftuches nur dann möglich, wenn der Verzicht eine wesentliche und berufliche Anforderung darstellt, die als angemessen anzusehen und deren Zweck rechtmäßig ist.

Das kann dann der Fall sein, wenn bestimmte Arbeitsabläufe das Tragen eines Kopftuches unmöglich machen, z.B. aufgrund von Sicherheits- oder Hygieneanforderungen und keine Alternative möglich ist.

In der Praxis machen wir häufig die Erfahrung, dass solche Anforderungen vorgeschoben sind und Alternativvorschläge daher nicht angenommen werden. Insbesondere im Bereich der

Personalvertretungen müsste mehr Aufklärungsarbeit diesbezüglich geleistet werden.

Kein Rechtfertigungsgrund für eine Nichteinstellung oder Kündigung ist die Befürchtung finanzieller Verluste aufgrund islamfeindlicher Haltungen von Kunden, die möglicherweise einem Geschäft oder

einer Praxis mit einer Kopftuch tragenden Mitarbeiterin (Verkäuferin/Arzthelferin/Physiotherapeutin) fernbleiben.

Verbotsmöglichkeiten § 9 AGG

Immer wieder kontrovers diskutiert wird die zulässige unterschiedliche Behandlung von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften oder Vereinigungen, die sich die Pflege einer Religion oder

Weltanschauung zur Aufgabe machen.

Diese Sondersituation – auch Kirchenprivileg genannt – gründet sich auf die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kirchen, die ihnen garantiert, dass sie ihre Angelegenheiten ohne staatliche Einmischung selbst regeln können.

Eine unterschiedliche Behandlung nach dem AGG ist demnach zulässig, wenn die Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft aufgrund ihres Selbstverständnisses im Hinblick auf ihr

Selbstbestimmungsrecht oder der Art der Tätigkeit der Meinung ist, die Zugehörigkeit eines Bewerbers zur eigenen Gruppe sei eine gerechtfertigte berufliche Anforderung. Im Bereich der Verkündigung ist die Einschätzung als gerechtfertigte berufliche Anforderung sicherlich nachvollziehbar, in den

verkündigungsfernen Bereichen jedoch mittlerweile kaum zu vermitteln. Da dieser Bereich einen sehr großen Teil des Arbeitsmarktes umfasst, ist eine klarere Definition dessen, wo das AGG greifen soll, dringend notwendig. Zudem wird durch eine sehr unterschiedliche Handhabung deutlich, dass dieses Prinzip oft nur dann eingehalten wird, wenn ausreichend Arbeitskräfte mit der „richtigen“ Zugehörigkeit zur Verfügung stehen. Nicht nur Kritiker sehen den § 9 als Regelung, die einem effektiven

Diskriminierungsschutz für Nicht-Mitglieder von Kirchen oder Menschen, die offensichtlich nicht nach deren Prinzipien leben, entgegensteht.

Ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 24.

September 2014. Eine Kopftuch tragende Krankenschwester verlor ein Verfahren gegen ihren

Arbeitgeber, ein Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft. Das BAG wog die beteiligten Grundrechte gegeneinander ab (kirchliches Selbstbestimmungsrecht, Art. 140 GG, Art. 137 WRV, und Religionsfreiheit der Klägerin, Art. 4 Abs. 1, 2 GG) und stellte zwar einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot nach

§ 7 AGG fest, sah ihn aber nach § 9 AGG als gerechtfertigt an.

Die Lücken im AGG bzw. die Änderungswünsche, die durchgängig genannt werden, sind die Ausdehnung des Geltungsbereichs

die Einführung eines Verbandsklagerechts

die Beschränkung des § 9 auf verkündigungsnahe Bereiche und die Erweiterung der Handlungskompetenzen der ADS.

Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Beruf: Sonderfall Schuldienst

§ 8 Abs. 1 lässt eine unterschiedliche Behandlung zu, wenn sie auf einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung basiert, der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.

Bei den beiden Klägerinnen, die den BVerfG-Beschluss von 2015 erwirkten, sah das Bundesarbeitsgericht 2009 noch keinen Verstoß gegen das AGG: In beiden Urteilen hieß es textgleich, dass das

Anhang 33

Kopftuchverbot das Diskriminierungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG nicht verletzt, auch wenn es zu einer unmittelbaren Benachteiligung aus Gründen der Religion führen kann.

Begründung: „Eine unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen zur Erfüllung einer wesentlichen beruflichen Anforderung ist gem. § 8 Abs. 1 AGG aber zulässig, wenn der Zweck

rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Dies ist hier gegeben. [...] Der Klägerin gereicht eine bestimmte Form ihrer Religionsausübung zum Nachteil. Deren Unterlassung wiederum ist wegen der Bedingungen der Ausübung ihrer Tätigkeit eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung.

Der damit verfolgte Zweck ist rechtmäßig und die Anforderung angemessen.“

Der Dreh- und Angelpunkt war also die Frage, ob der Verzicht auf eine religiöse Bekundung eine

wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung ist, die eine Kopftuchträgerin eben nicht erfüllen kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen in seinem Beschluss von 2015 die Praxis eines pauschalen Kopftuchverbotes als nicht mit der Verfassung vereinbar befunden und sich auch im Hinblick auf das AGG geäußert. Demnach stellte die Beschränkung religiöser Bekundungen durch das SchulG NRW in der damaligen Fassung eine „[...] unmittelbare, normativ vorgegebene Benachteiligung aus Gründen der Religion dar, die die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen betrifft (§§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1 AGG).“

Trotz dieses Grundsatzes sieht auch der BVerfG-Beschluss die Möglichkeit vor, in einer bestimmten Konstellation eine Lehrerin – unabhängig von ihrem eigenen Verhalten – vor die Wahl einer Versetzung oder eines Kopftuchverzichts zu stellen. Nämlich dann, wenn es eine konkrete Störung des Schulfriedens gibt – nicht jedoch, wenn eine solche Störung lediglich befürchtet wird. Es müssen also besondere substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen.

Eine Benachteiligung aus Gründen der Religion ist gerechtfertigt, wenn „[...] das äußere Erscheinungsbild zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen

Neutralität führt oder wesentlich dazu beiträgt, [...].“ Der Verzicht auf die religiöse Bekundung stellt in dieser Konstellation „[...] eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung [...]“ dar.

Potenziell kollidierende Grundrechte in der Schule

Im Bereich der Schule gibt es unterschiedliche Grundrechtsträger, deren Rechte kollidieren können. Im Hinblick auf das Kopftuch im Schuldienst sind das:

das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder die negative Glaubensfreiheit der Schüler*innen die negative Glaubensfreiheit der Eltern

die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates.

Der Beschluss des BVerfG von 2015 macht im Hinblick auf die Anwesenheit einer Kopftuch tragenden Lehrerin in Verbindung mit den Grundrechten der anderen Beteiligten folgende Aussagen:

Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder wird nicht beeinträchtigt. Allein aus dem Elterngrundrecht lässt sich kein Anspruch herleiten, Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen. Die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler darf hierbei aber nicht beeinträchtigt werden.

Die negative Glaubensfreiheit der Schüler*innen wird nicht beeinträchtigt, „solange die Lehrkräfte [...]

nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen [...]“.

Das Recht der Eltern auf negative Glaubensfreiheit „[...] garantiert keine Verschonung von der Konfrontation mit religiös konnotierter Bekleidung von Lehrkräften, die nur den Schluss auf die

Zugehörigkeit zu einer anderen Religion oder Weltanschauung zulässt, von der aber sonst kein gezielter beeinflussender Effekt ausgeht.“

Die religiöse und weltanschauliche Neutralitätspflicht des Staates wird bewahrt, indem er Bezüge zu allen mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule zulässt. Die Zulassung des Kopftuches bedeutet keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben.

Die Sorge von Eltern vor einer ungewollten Beeinflussung ihrer Kinder durch den Anblick einer Kopftuch tragenden Lehrerin stellt keine konkrete Gefahr dar, denn die Konfrontation der

Schüler*innen mit einer glaubensgemäßen Bekleidung wird [...] durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen [...]

Insofern spiegelt sich in der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die religiös-pluralistische Gesellschaft wider.“

Verbotsmöglichkeiten

Dennoch sieht der Beschluss des BVerfG die Möglichkeit vor, das Kopftuch im Schuldienst zu verbieten.

Ein Verbot, das auf eine einzelne Kopftuch tragende Lehrerin zielt, ist nur dann zulässig, wenn diese ein missionarisches oder verbal werbendes Verhalten an den Tag legt und versucht, Schüler*innen konkret zu beeinflussen. Ein allgemeineres Verbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte Zeit ist möglich, wenn dort nachweislich besondere substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen. Das Gericht nennt als Beispiel eine Situation, „[...] in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und [...] in die Schule hineingetragen [...]“ werden.

Verbote sind also dort möglich, wo es zu einer Überschreitung der Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder zu einer Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität kommt.

Grundrecht der Lehrerin in substanziellen Konfliktlagen

Wenn die Schulleitung alle pädagogischen oder disziplinarischen Maßnahmen, die üblicherweise bei Schulkonflikten zur Lösung zum Einsatz kommen, erfolglos ergriffen hat und zu dem Schluss kommt, dass nur die Versetzung der Lehrerin mit Kopftuch den Konflikt – zu dem sie nicht selbst etwas beigetragen hat – lösen wird, ist der Lehrerin eine Versetzung zumutbar. Allerdings kann sie sich auch dafür entscheiden, ihr Kopftuch abzulegen, statt sich versetzen zu lassen.

Auch wenn der Beschluss des BVerfG von zwei Klägerinnen aus NRW erwirkt wurde, sind doch die anderen Landesgesetzgeber über § 31 Abs. 1 BVerfGG daran gebunden, ihre jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen.

Anhang 35

Der Blick in die Praxis - Umsetzung des BVerfG-Beschlusses in den einzelnen Bundesländern Die erfolgreichen Klägerinnen stammten zwar aus NRW, aber der Beschluss des BVerfG wirkt auch auf andere Bundesländer, in denen es ein gesetzliches Kopftuchverbot gibt. Gemäß § 31 Abs. 1

Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sind die Landesgesetzgeber daran gebunden, ihre jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Der BVerfG-Beschluss bindet gleichermaßen auch die Gerichte. D.h. im Streitfall müssen sie das Landesgesetz nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts auslegen.

Die Umsetzung des BVerfG-Beschlusses erfolgte in Nordrhein-Westfalen durch eine Gesetzesänderung.

In Bremen, Niedersachsen und Hessen wurde der BVerfG-Beschluss ohne eine Änderung des

Schulgesetzes umgesetzt. Bisher keine offizielle Umsetzung des BVerfG-Beschlusses gibt es in Bayern und Baden-Württemberg. Das saarländische Schulgesetz sieht weiterhin neben dem Kopftuchverbot auch die Privilegierung christlicher Bildungs- und Kulturwerte vor. Auch die Berliner Innenverwaltung sah nach Veröffentlichung des BVerfG-Beschlusses keinen Änderungsbedarf am sogenannten

Neutralitätsgesetz.

Aktuelle Beratungsfälle Schuldienst Hessen

Eine Lehramtsstudentin, erhielt von ihrer Ausbildungsschule eine Rundmail mit folgendem Wortlaut:

„Von der Universität XY sind Sie unserer Schule als zukünftige Praktikantinnen und Praktikanten für die Schulpraktischen Studien [...] zugewiesen worden. [...] Ein wichtiger Hinweis vorab: Sollte sich unter Ihnen eine Kopftuchträgerin befinden, so müsste sie für das gesamte geplante Praktikum entweder auf ihre Kopfbedeckung verzichten, oder sich bereits heute nach einer anderen Praktikumsschule

umschauen. Wir vermitteln unseren Schülerinnen und Schülern ein demokratisches, an den Werten des Grundgesetzes orientiertes Weltbild, bei dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau ganz oben ansteht, und das Tragen eines Kopftuches durch Lehrkräfte oder Praktikanten würde hier in der Vorbildfunktion, die wir innehaben, falsche Signale aussenden.“

In den Leitsätzen des Schulprogramms dieser Schule heißt es übrigens: „Wir entwickeln die Fähigkeit zur Teilhabe und Teilnahme an der Kultur der offenen Gesellschaft – Die Schülerinnen und Schüler werden an Kultur herangeführt – dies betrifft ihr ästhetisches, ethisches und demokratisch-politisches

Verständnis. Interkulturelle Praxis: Leitsatz: Wir pflegen ein respektvolles, wertschätzendes Miteinander aller Kulturen.“

Medizinstudentinnen

Im Rahmen der Ausbildung muss ein zweitägiges Praktikum in einem Krankenwagen absolviert werden;

dem sind zwei Tage mit theoretischer Ausbildung vorangeschaltet. Für die Mitfahrt im Krankenwagen ist ein Vertrag mit der Stadt Frankfurt zu unterzeichnen, dessen Bestandteil das „Informationsblatt

Studentenpraktika im Rettungsdienst“ ist.

Darin heißt es: „Wir erwarten, dass Sie sich neutral verhalten und bei Ihrem Praktikum auf alle Äußerungen zu Ihrer Weltanschauung, Religion etc. verzichten. Auch das Tragen entsprechender Symbole (z.B. Kopftuch) ist zu unterlassen.“ Als Alternative könne eine Mütze getragen werden.

Mittlerweile wurde das Kopftuchverbot auch auf die zwei vorgeschalteten Trainingstage, die in der Klinik absolviert werden, ausgedehnt.

Physiotherapeutin

Eine seit vier Jahren in einer Praxis angestellte Physiotherapeutin hat sich entschlossen ein Kopftuch zu tragen. Ihr Arbeitgeber, der einen syrisch-kurdischen Migrationshintergrund hat, kündigt sie einen Tag, nachdem sie zum ersten Mal mit Kopftuch erschien, fristgerecht. Er möchte, dass sie den noch

ausstehenden Urlaub nimmt, damit sie bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses nicht mehr in der Praxis erscheint. Sein Hauptargument ist die Befürchtung, dass das Image der Praxis leidet, weil vermutet werden könne, dass er als Betreiber sich religiös radikalisiert habe, weil er eine Frau mit Kopftuch beschäftigt.

Die Erosion des Rechtsempfindens

Wir haben nach den politischen Diskussionen um die Kopftuchverbote erfahren müssen, dass sich die Schlagworte, insbesondere vom „negativen Symbolgehalt des Kopftuches“ in den Argumentationen maßgeblicher gesellschaftlicher Akteure wiederfinden und deren Handeln bestimmen. Das verfestigt die Barrieren für Kopftuch tragende Frauen in jeglicher Hinsicht.

Die folgenden Beispiele sollen das illustrieren.

Bundesagentur für Arbeit

Immer wieder berichten Frauen mit Kopftuch darüber, dass ihnen von Sachbearbeitern der

Bundesagentur für Arbeit mehr oder weniger deutlich geraten wurde, das Kopftuch abzulegen, um bei der Stellensuche erfolgreich zu sein. Die Sachbearbeiter/innen argumentieren, lediglich der Wirklichkeit Rechnung zu tragen; gleichzeitig wird deutlich, dass potenzielle Arbeitgeber nicht damit rechnen müssen, auch nur darauf hingewiesen zu werden, dass sie gegen das AGG verstoßen, wenn sie eine Bewerberin nur wegen ihres Kopftuches ablehnen.

In einem von der Deutschlandstiftung Integration 2012 herausgegebenen Bewerbungsratgeber wurde muslimischen Frauen – u.a. unter Berufung auf den Migrationsbeauftragten der Bundesagentur für Arbeit, Hasan Altun, – ebenfalls geraten, das Kopftuch abzunehmen, wenn sie auf Arbeits- oder Praktikumsplatzsuche sind. Für viele Arbeitgeber sei das Kopftuch ein Zeichen der Unterdrückung, sie trauten den Frauen keine eigenen Entscheidungen zu, sähen sie unter der Fuchtel der Familie und fürchteten, dass Mädchen zwangsverheiratet würden und ihre Ausbildung nicht beendeten.

Wohlfahrtsverbände

Seit Jahren beobachten wir, dass Wohlfahrtsverbände muslimische Frauen mit Kopftuch meist lediglich befristet und/oder auf Minijob-Basis innerhalb von Projekten, deren Zielgruppe Migrant/inn/en sind, einstellen. Die Musliminnen dienen als „Türöffner“ zu diesen Gruppen, eine Festanstellung resultiert daraus in der Regel nicht.

Besonders aufgefallen war uns ein mehrteiliges Berufsfindungsprojekt der AWO-Südhessen für junge Migrantinnen – „Mit Kopftuch und Köpfchen in den Arbeitsmarkt“. In einem Zeitungsbericht über das Projekt hieß es seitens der beiden zuständigen Sozialarbeiterinnen, es werde den Teilnehmerinnen nahegelegt, zu überlegen, ob sie zur Erleichterung des Berufseinstieges das Kopftuch ablegen könnten, während potenzielle Arbeitgeber darum gebeten wurden, Kopftuchträgerinnen doch nicht gleich pauschal abzulehnen. Zudem solle das Symbol Kopftuch selbst auf den Prüfstand gestellt werden und die „[...] Teilnehmerinnen [sollten] überlegen, ob sie bereit sind, für den Beruf das Kopftuch zeitweise abzulegen.“

Das stellt die geltende Rechtslage völlig auf den Kopf. Denn die Nichteinstellung allein aufgrund des Kopftuches ist ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Tragen des Kopftuches

Anhang 37

dagegen von der grundgesetzlichen Religionsfreiheit gedeckt. D.h. in diesem Seminar erscheinen die jungen Frauen als Bittstellerinnen, die dankbar sein müssen, wenn ein Arbeitgeber bereit ist, ihre

"Andersartigkeit" großmütig hinzunehmen.

Die Notwendigkeit, die jungen Frauen durch Vermittlung der Rechtslage dazu zu befähigen, sich gegen Benachteiligungen zu wehren, oder sich und die eigenen Leistungen realistischer einzuschätzen, wurde schlicht nicht gesehen.

Landesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros Niedersachsen (lag)

Am 13. Februar 2015 sprach sich der Vorstand der lag-Niedersachsen unter Bezug auf das Urteil von 2003 per Pressemitteilung für die Beibehaltung des Kopftuchverbots für Lehrerinnen aus. Anlass war der anstehende Staatsvertrag mit den Muslimen. Die lag argumentierte, das Auftreten von Kopftuch

tragenden Lehrerinnen an der Schule verletze die staatliche Neutralität. Weiter hieß es:

„In unserer modernen Gesellschaft ist das Kopftuch besonders ein patriarchales Symbol, denn nur Mädchen und Frauen sollen sich verhüllen, nicht Jungen und Männer. Dies widerspricht dem

Erziehungs- und Bildungsideal unserer Gesellschaft, alle Mädchen und Jungen gleich zu behandeln und ihnen gleiche Startchancen zu ermöglichen.“

Gleichstellungsbeauftragte Kreis Herford

Anlässlich des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot gab die AG kommunaler Gleichstellungsstellen im Kreis Herford am 1. Juni 2015 eine Stellungnahme heraus, die an alle Schulleitungen des Kreises ging.

Anlässlich des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot gab die AG kommunaler Gleichstellungsstellen im Kreis Herford am 1. Juni 2015 eine Stellungnahme heraus, die an alle Schulleitungen des Kreises ging.