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Archiv "Fliegende Flaschen" (03.03.2006)

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A562 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 9⏐⏐3. März 2006

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ls ich von einem Haus- besuch kam und durch das Wohnzimmer ging, sah ich ihn. Schwester Helga war froh, dass ich kam. Denn das Bereitschaftsdienst-Da- sein ist ziemlich einsam: die Praxis für alle Leidenden of- fen, Schwester und ich allein.

Und im Wartezimmer: Klaus- Dieter Schluckjau. Doch, er kam häufig. Sein „Fähnlein“

flatterte ihm voran, seine Au- gen waren rot und tränen- reich, er ließ sich gern von den Schwestern trösten. Manch- mal aber war er auch laut und böse, schimpfte auf seine ge- schiedene Frau, die Behörden und auf die ganze Welt.

Heute wirkte er irgendwie auffällig. Er stierte in eine Ecke des Wohnzimmers, hob unmotiviert die Hände, gesti- kulierte und wehrte irgendet- was ab. Die anderen Patien- ten, die ihre Gebrechen dem Sonntagsdienstarzt vorführen wollten, schauten auch schon ganz irritiert. Schluckjau führte übrigens einen großen bunten Beutel mit sich, in dem sich die Konturen diver- ser Bierflaschen abzeichne- ten. Wahrscheinlich aus die- sem Geschäft „Bierpräsent“

gegenüber, das ich nicht lei- den konnte. Erstens, weil es als einziges in unserer Nähe sonntags geöffnet hatte (an- dere wären mir als Ärztin mit großer Familie lieber gewe- sen), und zweitens, weil irgendein Hobby-Dichter die- se einprägsame Schaufenster- werbung verbrochen hatte:

„Mein guter Rat – trink Han- seat!“ Also, dagegen hatte ich etwas, prinzipiell und beson- ders bei Patienten, die am Sonntag unseren Bereit- schaftsdienst beehrten.

„Den wollen wir bloß schnell aufrufen, mit dem ist irgendetwas los . . .“, sagte ich zu Schwester Helga. Leider hatte ich Recht. Klaus-Die- ter Schluckjau stolzierte ins Sprechzimmer, leicht verwahr- lost, leicht schwankend, das Gesicht kräftig gerötet.

„Was führt Sie heute zu uns?“ eröffnete ich das Ge- spräch.

„Ich brauche einen Fla- schenöffner!“ sagte er lapidar und ließ den Beutel mit den Flaschen polternd an seinem Stuhl hinuntersinken. „Übri- gens: Heute nacht wollten sie mich ermorden. . .“

„Wer?“

„Na, die von nebenan. Ich konnte es zu Hause gar nicht mehr aushalten.“

„Und?“

„Da habe ich mir Geld ge- stohlen. Von meiner Mutter.

Und bin erst mal Bier kaufen gegangen. Und nun kriege ich die Flaschen hier nicht auf.“

Ach du liebe Güte! Abge- sehen davon, dass wir keinen Flaschenöffner hatten und ihn auch nicht herausgerückt hätten, wenn . . . Aber was wurde das denn jetzt?

Der Patient schrie grell auf Ich sah Schweiß auf Schluck- jaus Stirn treten. Mit zittern- den Händen begann er in sei- nem schmuddeligen Beutel herumzukramen, und plötz- lich hatte er eine Bierflasche in der Hand! Mit geübten Griffen versuchte er – und ich war völlig machtlos – den Kronkorken am Holz der Schreibtischkante hochzu- schieben. Das Holz splitterte, die Flasche öffnete sich zi- schend, und mit der Gier eines

Verdurstenden stürzte er den Inhalt in sich hinein. Bier lief an seinem Kinn herunter, kleckerte auf seinen ohnehin stark mitgenommenen Pull- over und tropfte auf den Fuß- boden. Aber seine Spannung löste sich erst einmal. Hem- mungslos begann er zu er- zählen, und ich spielte auf Zeit. Von Berlin käme er, aus dem Krankenhaus für Alko- holiker, aber da sei er abge- hauen, denn eigentlich bliebe ihm nur noch der Strick.

Ich sammelte meine Ge- danken. Gespräch, Beruhi- gung, Einweisung, dachte ich.

Aber wie am besten? Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen.

Der Patient schrie plötzlich grell auf und zeigte zitternd in eine Zimmerecke: „Da! Da ist er wieder!“ Und mit der Kraft des tödlich Gehetzten schleuderte er die nächste Flasche mit voller Wucht ge- gen die Wand. Dann ging es Schlag auf Schlag: Flasche für Flasche verwandelte er in Wurfgeschosse gegen seinen vermeintlichen Feind. Wider- licher Bier- und Kneipen- dunst breitete sich aus, Bierla- chen standen auf dem Fußbo- den, Scherben zerbrochener Flaschen waren bis in den letzten Winkel zersplittert.

Ruhe, Ruhe, Ruhe – sugge- rierte ich ihm (und mir).

Längst hatte ich gehört, dass Schwester Helga vom Nebenzimmer aus die Polizei angerufen hatte. Dringend!

Ich schaute verstohlen auf meine Uhr und versuchte ihn zu beruhigen. Schluckjau ne- stelte an seinem Beutel her- um. Noch hatte er nicht alle Munition verschossen. Aber nach weiteren Schlucken Bier, die Flasche hatte er wie- der an meinem Schreibtisch geöffnet, wurde er etwas ruhi- ger. Und tatsächlich gelang es uns mit vielen lieben Worten, ihn ins Wartezimmer hinaus- zukomplimentieren. Dabei wateten wir fußtief in Bier und Scherben. Die anderen Patienten hatten sich längst bei dem laut hörbaren Fla- schenbombardement auf die Straße geflüchtet und harrten dort der Dinge, die da kom-

men sollten. Handys besaßen sie damals noch nicht.

Wir aber zählten die Minu- ten. Wann endlich kam die Polizei?

Klaus-Dieter randalierte auch im Wartezimmer noch etwas, grölte und kämpfte ge- gen verborgene Feinde. Auch eine Bierflasche zerschellte noch an der Wand ihm ge- genüber. Und dann – endlich ging die Praxistür auf. Zwei ältere Polizisten traten ein.

Lebensklug, wie sich zeigte.

„Hallo, Klaus-Dieter!“ sagte der Ältere. „Wie geht’s dir denn so?“ und begrüßte unse- ren Problemfall mit einem Handschlag.

„Danke, bestens!“ antwor- tete Schluckjau und lächelte abwesend.

„Was hältst du davon, wenn wir ein bisschen spazie- ren fahren?“

„Au prima! Das ist eine gute Idee. Das habe ich mir schon immer mal ge- wünscht!“

Wir atmeten auf. Das lief ja bestens.

Höflich verabschiedete sich Klaus-Dieter von uns, schritt leicht schwankend und in Be- gleitung der beiden Polizisten aus dem Haus und stieg ohne Murren in ihr Dienstfahrzeug ein. Fröhlich winkte er den ängstlich wartenden Patienten draußen zu und fuhr, einem Sieger gleich, in Richtung Ner- venklinik davon.

Schwester Helga aber stieg ärgerlich und leise schimpfend in den Bierla- chen und Scherben herum und versuchte mit Besen, Schrubber und Wischlappen das Chaos wenigstens provi- sorisch zu beseitigen. Noch tagelang stanken unsere Räume nach Bier.

Mein Gott, was hatte ich nicht schon für Alkoholdeliri- en erlebt! Aber splitternde Bierflaschen in der Praxis, al- so das war eine ganz neue Er- fahrung!

Wie lautete doch der Wer- bespruch des verhinderten Lyrikers? „Mein guter Rat – trink Hanseat!“ In Maßen, aber nicht in Massen, mur- melte ich ergrimmt.

Dr. med. Annerose Schulz

Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arztgeschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwiegend Beiträge aus der Ärzteschaft.

Fliegende Flaschen

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