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Archiv "Placebo" (13.11.2009)

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ÜBERSICHTSARBEIT

Placebo: Missverständnisse und Vorurteile

Matthias Breidert, Karl Hofbauer

ZUSAMMENFASSUNG

Hintergrund: Die Bedeutung von Placebos wird häufig falsch eingeschätzt und entweder überbewertet oder ab- schätzig beurteilt. Oft wird dabei die Wirkung von einem Placebo, das keine pharmakologisch aktive Substanz ent- hält, mit der Wirkung, die auf der Verabreichung durch den Arzt beruht, verwechselt. Ziel dieses Artikels ist es, die neuesten Daten über Placebos zusammenzufassen, kri- tisch zu diskutieren und daraus ein Bild von Placebos zu entwerfen, das sowohl seine Wirkungen als auch deren Fehlen begründbar und verständlich macht.

Methode: Übersichtsarbeit, basierend auf der Auswertung einer selektiven Literaturrecherche

Ergebnisse: Neuere Untersuchungen konnten unter Ver- wendung moderner Bildgebungsverfahren die Wirkung ei- ner Placebogabe bei bestimmten Indikationen objektivie- ren. Kürzlich erschien sogar eine Arbeit, die eine geneti- sche Basis für den Placeboeffekt postuliert. Die haupt- sächlichen Wirkmechanismen einer Placebogabe bestehen einerseits in bedingten Reflexen, andererseits in der Er- wartungshaltung des Patienten. Es handelt sich also so- wohl um unbewusste als auch um bewusste Phänomene.

Dazu kommen weitere Faktoren, zu denen unter anderem die persönliche Ausstrahlung des Arztes und die Atmo- sphäre, in der eine Behandlung stattfindet, gehören.

Schlussfolgerung: Die einer Placebogabe zugrunde liegen- den Mechanismen, mit denen bei wenig Aufwand positive Zusatzeffekte erzielt werden können, sollten auch bei der Verabreichung von pharmakologisch wirksamen Medika- menten bewusst eingesetzt werden.

Schlüsselwörter: Arzneimittelsicherheit, Arzneimittelfor- schung, Therapiestudie, Komplementärmedizin, Arzneimittel- verordnung

Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2009; 106(46): 751–5 DOI: 10.3238/arztebl.2009.0751

W

arum ein Artikel über Placebos? Der Begriff Pla- cebo ist Ärzten und Laien gleichermaßen vertraut und wird vielfach als Synonym für mangelnde Wirksam- keit verwendet, etwa in der Wendung „nur ein Placeboef- fekt“. Auch die Wirkung von Präparaten der Alternativ- oder Komplementärmedizin wird oft mit der von Place- bos gleichgesetzt und damit abschätzig beurteilt (1). Als unwirksame Stoffe stellen Placebos einen unverzichtba- ren Bestandteil der klinischen Prüfung von Arzneimitteln dar. Dabei dienen sie definitionsgemäß dazu, eine Kon- trollgruppe zu behandeln, ohne einen therapeutischen Ef- fekt zu erzielen. Immer wieder wird Placebos aber eine eigene Wirksamkeit zugesprochen. Kürzlich erschien ei- ne Arbeit (2), deren Titel sogar eine genetische Basis für den Placeboeffekt suggeriert und daher in den Medien unter der Schlagzeile „Placebo-Gen“ diskutiert wurde.

Gibt es nun tatsächlich eine solche genetisch determi- nierte Empfindlichkeit oder handelt es sich, wie so oft im Umgang mit Placebos, nur um ein weiteres Missver- ständnis? Ziel dieses Artikels ist es, basierend auf der Auswertung selektiv recherchierter Literatur, die neues- ten Daten über Placebos zusammenzufassen, kritisch zu diskutieren und daraus ein Bild zu gestalten, das sowohl ihre Wirkungen als auch deren Fehlen begründbar und verständlich macht (3–6, e1).

Definition von Placebo und Nocebo

Die Bezeichnung „Placebo“ geht zurück auf das lateini- sche Wort „placere“ und bedeutet wörtlich: „Ich werde ge- fallen“. Nach klassischer Definition ist ein Placebo ein

„Scheinmedikament“ ohne pharmakologisch aktiven Wirkstoff, das äußerlich vom echten Arzneimittel („Ver- um“) nicht zu unterscheiden ist. Das Placebo selbst kann daher keine Effekte auslösen. Wenn etwas wirkt, kann es nur die Gabe des Placebos, also seine Verabreichung durch den Arzt an den Patienten, sein. Wann immer in diesem Artikel von Placebowirkung gesprochen wird, ist darunter die Wirkung der Placebogabe zu verstehen.

Neben den reinen Placebos, die nur Stärke oder andere inerte Füllstoffe enthalten, gibt es allerdings auch soge- nannte aktive Placebos. Dabei handelt es sich um echte Medikamente, die jedoch entweder in einer unwirksamen Dosis gegeben werden oder wegen ihres Wirkungsspek- trums keinen Einfluss auf die untersuchte Krankheit haben.

Wenn Arzneimittel geprüft werden, die charakteristische und für den Patienten spürbare Nebenwirkungen haben, kann man in speziellen Fällen überlegen, ein aktives Place- bo als Kontrolle einzusetzen, das vergleichbare Nebenwir- kungen auslöst. Obwohl ohne dieses Vorgehen mit man- chen Medikamenten eine Doppelblindstudie nicht durch- führbar wäre, bestehen dabei ethische Probleme (7, 8).

Kliniken im Naturpark Altmühltal, Medizinische Klinik I: PD Dr. med. habil. Breidert Lehrstuhl für Angewandte Pharmakologie, Biozentrum, Universität Basel:

Prof. Dr. med. Hofbauer

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Patienten, die ein Placebo einnehmen, berichten nicht nur über erwünschte, sondern auch über unerwünschte Wirkungen (9). Dem Phänomen, dass wirkstofffreie Prä- parate krankmachende Effekte haben können, wurde in Analogie zum Placeboeffekt der Begriff des Noceboef- fektes („Nocebo“: „Ich werde schaden“) zugeordnet (10). Eine negative, pessimistische Grundeinstellung des Patienten, schlechte Erfahrungen mit vorhergehenden medikamentösen Behandlungen, negative Informatio- nen, die der Patient vom Arzt, Apotheker oder aus der Presse erhält, können ebenso Nebenwirkungen hervorru- fen wie das Lesen der Packungsbeilage mit den vielen darin aufgeführten Warnhinweisen (11).

Geschichte

Der erste dokumentierte Placeboversuch geht auf die Untersuchungen des Naturwissenschaftlers und späteren Präsidenten der USA, Benjamin Franklin, zurück (e2).

Damals war eine von dem deutschen Arzt Franz Anton Mesmer propagierte Heilmethode populär, die nach ihm

„Mesmerismus“ benannt wurde. Unter der Führung ei- nes vom König von Frankreich einberufenen Komitees gelang es Franklin, die Meinung, eine durch äußere Einwirkung beeinflussbare „Flüssigkeit“ sei im Körper durch „Mesmerisieren“ zu steuern, zu widerlegen, in- dem er zeigte, dass der Erfolg der Behandlung allein von dem Glauben, der Mesmerist sei da, abhing. Durch placebokontrollierte, doppelblinde, randomisierte klini- sche Studien wird seit Mitte des 20. Jahrhunderts die therapeutische Wirksamkeit von Medikamenten unter- sucht.

Wirksamkeit von Placebos

Die Einschätzung der Wirkung von Placebos war über Jahrzehnte geprägt von der einflussreichen Publikation von Beecher mit dem suggestiven Titel „The powerful placebo“ (12). Diese Worte waren Überschrift, Zusam- menfassung und Zitat zugleich. In dieser 1955 erschiene- nen Publikation analysierte Beecher mehrere Studien mit Placebos, darunter überwiegend eigene Beiträge, und zog daraus sehr entschiedene Schlussfolgerungen. Dazu zählt, dass Placebos bei etwa einem Drittel der Patienten reproduzierbar wirken, dass sie umso stärker anschlagen, je stärker die Symptome einer Erkrankung sind, und dass der Placeboeffekt meist längere Zeit anhält.

Alle drei Behauptungen lassen sich nach sorgfältiger Analyse neuerer Studien nicht aufrechterhalten. So zeigt erstens die Placebowirkung eine bemerkenswerte Variabilität zwischen 7 und 49 % der behandelten Pa- tienten; zweitens steht die Placebowirkung nicht im Zu- sammenhang mit der Stärke der Symptome und drittens variiert die Dauer der Placebowirkung in weiten Gren- zen und reicht von Minuten bis zu Jahren (6, 13).

Schon Beecher stellte in seinen Studien die Frage nach einer „Placebopersönlichkeit“, die eine Voraussa- ge des Ansprechens auf ein Placebo ermöglichen wür- de. Belege dafür ließen sich aber nur spärlich finden, sodass das Vorhandensein einer „Placebopersönlich- keit“ und damit die Vorhersagbarkeit eines Anspre- chens auf ein Placebo auch als Mythos bezeichnet wur- den (14). Die Diskussion über dieses Thema wurde je- doch kürzlich wesentlich bereichert durch die eingangs erwähnte Publikation, in der Furmark et al. eine geneti- sche Disposition für das Ansprechen auf ein Placebo nachwiesen (2). Dabei konnte gezeigt werden, dass ein Polymorphismus zweier Gene, die eine wichtige Rolle im Serotoninstoffwechsel spielen, die Wirksamkeit ei- ner Placebobehandlung bei sozialer Phobie bestimmt.

So erlaubte der Tryptophan-Hydroxylase-2-Polymor- phismus dabei eine statistisch signifikante Vorhersage des Placeboeffekts mit einer Trefferquote von 70,8 %.

Da Serotonin in bestimmten Hirnarealen (zum Beispiel in der Amygdala = Mandelkern) bei der Pathogenese dieser Erkrankung und bei ihrer Therapie mit Seroto- nin-Wiederaufnahmehemmern nachweislich eine Rolle spielt, erscheint eine Beteiligung dieses Überträgerstof- fes auch bei der Placeboantwort plausibel. Dabei je- doch, wie in vielen Medien geschehen, ganz allgemein von einem „Placebo-Gen“ zu sprechen, ist missver- ständlich und übertrieben. Diese genetisch bedingte Empfindlichkeit bezieht sich nämlich nur auf ein be- stimmtes Krankheitsbild und einen spezifischen Wirk- mechanismus.

Der Placeboeffekt ist bei verschiedenen Indikationen unterschiedlich stark ausgeprägt. Zwei retrospektive Analysen von insgesamt 156 klinischen Arbeiten erga- ben, dass die Placebobehandlung einen signifikanten und wirksamen Effekt auf subjektive, aber kaum auf objektive kontinuierliche Endpunkte im Vergleich zur Nichtbehandlung hatte (15, 16). Allerdings konnte in einer Studie mit Hypertonikern gezeigt werden, dass systolische und diastolische Blutdruckwerte durch ein KASTEN

Scheinbare und tatsächliche Komponenten des Placeboeffekts

Die Wirkung eines Placebos kann durch den Spontanver- lauf der zugrunde liegenden Erkrankung und durch das statistische Phänomen der Regression zur Mitte vorge- täuscht werden. Ein echter Placeboeffekt wird hauptsäch- lich durch unbewusste Konditionierung und bewusste Er- wartungshaltung vermittelt. Dazu kommen verschiedene andere Faktoren wie die Applikationsform und der Kontext der Verabreichung, bei dem die Arzt-Patienten-Beziehung eine wesentliche Rolle spielt.

Vorgetäuschter Effekt der Placebogabe

Spontanverlauf

Regression zur Mitte Echter Effekt der Placebogabe

unbewusste Konditionierung

bewusste Erwartungshaltung

Applikationsform

Kontext der Verabreichung

Arzt-Patienten-Beziehung

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Placebo gesenkt wurden. Das traf sowohl für die klini- sche Messung durch den Arzt als auch für die automati- sche ambulante Messung zu (e3).

Placebos wirken weder auf subjektive noch auf ob- jektive binäre (ja/nein) Endpunkte, wie zum Beispiel einen Rückfall nach Nikotinentzug (15, 16). Demge- genüber können Placebos bei subjektiven kontinuierli- chen Endpunkten, wie sie bei Schmerzen vorliegen, hochwirksam sein. Allein die Information, ein starkes Schmerzmedikament zu erhalten, kann bei einem Pa- tienten zu einem relevanten analgetischen Effekt füh- ren. So haben britische Rheumatologen 198 placebo- kontrollierte Studien mit Arthrosepatienten analysiert und gezeigt, dass ein Placebo nicht nur die Schmerzen reduzierte, sondern auch die Funktion verbesserte und die Gelenksteifigkeit verringerte (17).

Wirkungsmechanismen von Placebos

Die Hauptmechanismen der Placebowirkung bestehen nach den heute vorherrschenden und gut belegten Theorien einerseits in bedingten Reflexen, andererseits in der Erwartungshaltung des Patienten (6). Es handelt sich also sowohl um unbewusste als auch bewusste Phänomene (Kasten).

Bedingte Reflexe

Die Definition des bedingten Reflexes geht auf die his- torischen Untersuchungen von Pawlow zurück (e4). Er hatte in einer Versuchsanordnung an Hunden beobach- tet, dass der Anblick von Futter die Magensaftsekretion stimuliert. Wurde das Futter gleichzeitig mit einem akustischen Signal präsentiert, genügte schon nach kur- zer Gewöhnung das akustische Signal allein, um die Magensaftsekretion anzuregen. Nun haben die meisten Patienten in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass die Einnahme eines Medikaments eine Besserung ihrer Beschwerden bewirkte. Wird daher bei neuerlichen Be- schwerden wieder ein Medikament angeboten, wird un- bewusst angenommen, dass es auch wieder hilft. Diese Einstellung hat zur Folge, dass auch ein Placebo wirk- sam werden kann. Wenn aber der Patient beobachtet, dass ihm die letzte Medikamenteneinnahme weniger geholfen hat als frühere, verringert sich diese positive Einstellung und damit auch die Wirkung der nächsten Placebogabe. Es kommt, anders ausgedrückt, zur De- konditionierung (e5).

Erwartungshaltung

Im Unterschied zu dem unbewusst ablaufenden beding- ten Reflex gibt es auch eine bewusste Erwartung des Patienten bei der Einnahme von Arzneimitteln. Die Verschreibung von Medikamenten durch den Arzt, die Ausführungen des Apothekers, die Kommentare von Verwandten und Bekannten und mögliche eigene Kenntnisse führen zu der bewussten Annahme, dass sich eine Besserung einstellen sollte. Bemerkenswert ist dabei, wie robust eine solche Erwartungshaltung sein kann. So wurde in einer Studie (e6) mit Placebos den Patienten sogar offen erklärt, dass sie nun eine Tab- lette ohne Wirkstoff erhielten. Einzig die Zusatzbemer-

kung, dass „das schon vielen geholfen hätte“, war er- laubt. Selbst nach der vorhergehenden objektiven Infor- mation über den fehlenden Wirkstoff war die Placebo- gabe dank dieser positiven Bemerkung bei 13 von 14 Patienten effektiv und reduzierte die subjektiven Symp- tome um 41 %. Der Einfluss der Erwartungshaltung auf therapeutische Effekte wird besonders deutlich, wenn Arzneimittel oder Placebos in einem „open-hidden pa- radigm“, also mit oder ohne Wahrnehmung ihrer Verab- reichung durch den Patienten, untersucht werden (5).

Zusätzliche Faktoren

Verschiedene Faktoren können eine Placebowirkung modulieren. So ist erwiesen, dass Farbe, Größe und Form oral applizierter Arzneimittel einen Einfluss ha- ben können (6). Die Farben rot, gelb und orange lassen dabei eine stimulierende, die Farben blau und grün ei- nen beruhigende Wirkung erwarten (18).

Einen Einfluss hat auch der Preis: teure Medikamen- te wirken besser als billige (19). Dieses Phänomen lässt sich über das Beispiel Placebo hinaus in anderen Kon- sumsituationen nachweisen. So wurden in einer kürz- lich publizierten Studie Probanden mehrere Weine an- geboten, die lediglich durch die Angabe des Preises be- schrieben wurden. Bei einer blind durchgeführten Ver- kostung schnitt derselbe Wein deutlich besser ab, wenn er als teurer offeriert wurde (20).

Weitere Faktoren bei der Placebogabe betreffen die Einflussnahme des Arztes auf die Einstellung des Pa- tienten zu seiner Krankheit. Man kann sie unter dem Begriff „Kontexteffekt“ zusammenfassen (21). Darun- ter fallen sowohl sachliche medizinische Informationen durch den Arzt als auch seine persönliche Ausstrahlung und die Atmosphäre, in der die Behandlung stattfindet.

So konnte in einer Studie bei 262 Patienten mit Reiz- darmsyndrom Folgendes gezeigt werden (22): die erste Gruppe (I) wurde nur untersucht, die zweite (II) erhielt

GRAFIK

Gesamtwirkung eines Medikaments

Zur Gesamtwirkung eines Medikaments tragen nicht nur seine spe- zifischen pharmakologischen Wirkungen, sondern auch allgemeine Effekte, wie sie bei einer Placebogabe beobachtet werden, bei. Man kann daher durch den gezielten Einsatz der Komponenten, die einen Placeboeffekt auslösen, auch die Wirksamkeit von echten Medika- menten verstärken. So lässt sich mit wenig zusätzlichem Aufwand eine Verbesserung der konventionellen Pharmakotherapie erzielen.

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eine Scheinakupunktur, die dritte (III) eine Scheinaku- punktur in Verbindung mit einem empathischen, ver- trauensvollen Gespräch. In Gruppe II besserte sich die Symptomatik gegenüber Gruppe I signifikant, in Grup- pe III war die Besserung der Symptomatik noch stärker als in Gruppe II, wobei zwischen Gruppe III und II ebenfalls ein signifikanter Unterschied bestand. Ein Bezug zwischen der positiven Erwartungshaltung des Arztes und dem Heilerfolg konnte hingegen bis jetzt nicht klar gezeigt werden, sodass die dafür vorgeschla- gene Bezeichnung „Curaboeffekt“ (Curabo: „Ich werde heilen“) verfrüht erscheint (23).

Vorgetäuschte Placebowirkungen

Die Wirkung eines Placebos kann durch statistische Phänomene vorgetäuscht werden. Dazu zählen vor al- lem der Spontanverlauf einer Erkrankung und die Re- gression zur Mitte.

Spontanverlauf

Die meisten Erkrankungen zeigen einen mehr oder weni- ger ausgeprägten spontanen Verlauf, der durch einen Wechsel von Verbesserung und Verschlechterung der Symptome gekennzeichnet ist. Erfreulicherweise unter- liegt diesem wechselnden Krankheitsgeschehen in der Mehrzahl der Fälle ein positiver Trend, also eine Hei- lungstendenz. Wird nun einem Patienten mit einem sol- chen Trend zur Gesundung ein Placebo verabreicht, kann es scheinen, dass diese Placebogabe der Besserung zu- grunde lag (6). Das Problem besteht nun darin, eine geeig- nete Kontrolle zu definieren, weil ja üblicherweise für eine Behandlung mit einem Wirkstoff gerade das unwirksame Placebo als Kontrolle dient. Bei einer Analyse dieses Pro- blems wird schnell klar, dass die Untersuchung der eigent- lichen Placebowirkung schwierig bis unmöglich ist. So würde das Weglassen einer Placebogabe in der Vergleichs- gruppe den doppelblinden Ansatz einer Studie unmöglich machen und beim Patienten wegen des offensichtlichen Fehlens einer Therapie negative Gefühle hervorrufen.

Regression zur Mitte

Dieses bei vielen biologischen Prozessen zu beobach- tende Phänomen besteht darin, dass bei einer Gruppe, die aufgrund besonderer Eigenschaften definiert wurde, diese Eigenschaften bei einer späteren Überprüfung in der Regel weniger stark ausgeprägt sein werden (24).

Wurden zum Beispiel für eine Arzneimittelstudie Pa- tienten mit besonders starken Kopfschmerzen rekru- tiert, so ist vorauszusehen, dass eine Kontrolluntersu- chung nach einigen Wochen im Mittel weniger starke Kopfschmerzen ergeben wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass sehr starke Kopfschmerzen über die Zeit abneh- men, ist eben größer als dass sie noch weiter zunehmen.

Ein anderes biologisches Beispiel ist die Tatsache, dass die Körpergröße von Kindern zwar mit der ihrer Eltern korreliert, aber nicht identisch ist. Das heißt, Kinder großer Eltern sind zwar größer als Kinder kleiner El- tern, aber nicht mehr genauso groß wie ihre Eltern (e7).

Eine Regression zur Mitte kann also dazu führen, eine Placebowirkung anzunehmen, wo sie nicht existiert.

Wirkung von Nocebos

Über Noceboeffekte ist bisher wenig geforscht wor- den. Als Grund dafür wird angegeben, dass es ethisch nicht zu vertreten sei, Krankheiten bei Gesunden mit- hilfe des Noceboeffektes hervorzurufen. Der Nocebo- effekt beruht wie der Placeboeffekt oft auf einer be- wussten Erwartungshaltung. Sowohl die gedankliche Vorwegnahme eines zukünftigen Ereignisses, als auch die Größe der Erwartung beeinflusst das Aus- maß der Antwort auf ein Nocebo (9). So kann beim Patienten die Angst, dass bestimmte äußere Einwir- kungen krank machen, zu entsprechenden Sympto- men führen. Eine gängige Bezeichnung für dieses Phänomen ist „self-fulfilling prophecy“. Unspezifi- sche Nebenwirkungen, die mit dem Nocebophäno- men erklärt werden können, sind häufig diffuse leich- te Beschwerden wie Übelkeit, Müdigkeit, Schlaflo- sigkeit und Bauchschmerzen, oder aber Symptome der zugrunde liegenden Erkrankung selbst (zum Bei- spiel Schmerzen).

Auch beim Noceboeffekt spielen bedingte Re - flexe eine Rolle. So löst das Hormon Cholezystoki- nin bei psychisch bedingten Bauchschmerzen eine Schmerzreaktion im Gehirn aus. Diese Konditionie- rung, die ein durch Angst ausgelöster Botenstoff her- vorruft, bringt dann beim Patienten die bei der Me - dikamenteneinnahme erwarteten Nebenwirkungen hervor (25).

Therapie mit Placebos

Placeboeffekte machen sehr wahrscheinlich einen Teil, wenn nicht die Gesamtheit der Wirkung von Al- ternativ- und Komplementärmedizin aus (1) (Grafik).

Da die bewusste Verabreichung eines Placebos zu therapeutischen Zwecken aber einen dem Patienten nicht bekannten Scheintatbestand schafft, ist aus grundsätzlichen, aber auch standesrechtlichen Über- legungen zu prüfen, ob eine gezielte Placebogabe nicht eine ethisch in jedem Einzelfall zu begründende Täuschung des Patienten darstellt (e8–e10).

Resümee

Im Rahmen einer schulmedizinischen Therapie ge- hört der Placeboeffekt zu einem wichtigen Werkzeug des Arztes. Diese Art der Placebowirkung sollte von ihrem negativen Beigeschmack befreit werden, weil sie doch sehr häufig dem Patienten hilft. Außerdem ist für den bewussten Einsatz der „Droge Arzt“ nur ein geringer zusätzlicher Zeitaufwand erforderlich, der durch den vermehrten Nutzen mehr als gerecht- fertigt wäre. Wenn bei der Gabe von pharmakolo- gisch wirksamen Präparaten soviel ärztliche Zuwen- dung erfolgte wie bei manchen komplementärmedizi- nischen Behandlungen, könnte die Wirksamkeit von Arzneimitteln verstärkt, die Dosis reduziert und die therapeutische Breite verbessert werden. Es wäre be- dauerlich, wenn sich die Schulmedizin diesen mögli- chen therapeutischen Nutzen entgehen ließe und da- rauf verzichtete, durch diesen Ansatz mit wenig Auf- wand große Wirkungen zu erzielen.

(5)

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 16. 3. 2009, revidierte Fassung angenommen: 28. 5. 2009

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Anschrift für die Verfasser PD Dr. med. habil. Matthias Breidert

Medizinische Klinik I, Kliniken im Naturpark Altmühltal, Klinik Kösching Krankenhausstraße 19, 85092 Kösching

SUMMARY

Placebo: Misunderstandings and Prejudices

Background: The role of placebos is often misunderstood, leading both to overvaluation and to inappropriate disdain. The effect of a placebo that contains no pharmacologically active substance is often confused with the effect of administration by a physician. The aim of this article is to review the current data on placebos, evaluate these data critically, and provide a well-founded and understandable explanation of the ef- fects that placebos do and do not possess.

Methods: Selective literature review.

Results: Recent studies employing modern imaging techniques have provided objective correlates of the effect of placebo administration for certain indications. A recent paper even suggested a genetic basis for it. Two main mechanisms underlie the effect of placebo administration:

conditioned reflexes, which are subconscious, and the patient’s ex- pectations, which are conscious. Further factors include the physician’s personality and the setting in which the treatment takes place.

Conclusions: The mechanisms of action of placebo administration, with which positive therapeutic effects can be achieved with little effort, should be consciously exploited by physicians when giving their pa- tients pharmacologically active medications as well.

Key words: drug safety, drug research, treatment study, complementary medicine, medical prescriptions

Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2009; 106(46): 751–5 DOI: 10.3238/arztebl.2009.0751

@

Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:

www.aerzteblatt.de/lit4609

The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt-international.de KLINISCHE KERNAUSSAGEN

Ein Placebo wirkt nicht selbst, sondern durch seine Ver- abreichung.

Die Wirkung der Placebogabe ist variabel, bei bestimm- ten Indikationen und Symptomen, wie zum Beispiel Schmerz, ist der Placeboeffekt häufiger zu beobachten als bei anderen, beispielsweise bei einem Rückfall nach Nikotinentzug.

Eine „Placebopersönlichkeit“ beziehungsweise ein all- gemein wirksames „Placebo-Gen“ scheint es nicht zu geben.

Hauptwirkungsmechanismen der Placebogabe sind be- dingte Reflexe und die Erwartungshaltung des Patien- ten.

Der Placeboeffekt sollte als wichtiger Bestandteil der Schulmedizin auch bei der Behandlung mit wirksamen Medikamenten bewusst eingesetzt werden.

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ÜBERSICHTSARBEIT

Placebo: Missverständnisse und Vorurteile

Matthias Breidert, Karl Hofbauer

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