A 1778 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 108|
Heft 34–35|
29. August 2011INNOVATIONSPARTNERSCHAFT GESUNDES ALTERN
Das Problem gemeinsam angehen
Die Europäische Union will mit einer gemeinschaftsweiten Strategie Aktivität und Gesundheit im Alter fördern. Kritiker fürchten, dass der Ansatz vorrangig der Absatzförderung von Innovationen dienen soll.
D
as Thema „alternde Bevölke- rung“ steht in der Europä - ischen Union (EU) ganz oben auf der politischen Agenda. Schließlich ist die Lebenserwartung der Euro- päer seit 1960 im Schnitt um acht Jahre gestiegen, und demografi- schen Prognosen zufolge wird es in den kommenden 40 Jahren einen Anstieg um weitere fünf Jahre geben. Gleichzeitig gehen die Ge- burtenraten in fast allen EU-Staaten stetig zurück. Die Europäische Sta- tistikbehörde Eurostat geht davon aus, dass im Jahr 2060 auf jeden 65-Jährigen nur noch zwei erwerbs- fähige Bürger kommen. Derzeit be- trägt das Verhältnis vier zu eins.Den stärksten Schub erwarten die Fachleute zwischen 2015 und 2035, wenn die geburtenstarken Jahrgän- ge in Rente gehen.
Die EU-Kommission hat 2012 daher zum „Europäischen Jahr für aktives Altern“ ausgerufen. Ziel der Initiative ist es, älteren Menschen mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten und dadurch auch der Altersarmut entgegenzuwirken. Die Behörde will ferner dazu anregen, durch Maßnahmen auf regionaler, nationaler und EU-Ebene dafür zu sorgen, dass die Europäer länger gesund bleiben.
Denn alt zu sein, bedeutet nicht zwingend, krank und gebrechlich sein. Bei entsprechender Lebensfüh- rung und Veranlagung gelingt es dem Durchschnittseuropäer schon heute, bis zu seinem 63. Lebensjahr ein weitgehend gesundes und akti- ves Dasein zu führen. „Unser Ziel ist es, die durchschnittliche Anzahl gesunder Lebensjahre bis 2020 um zwei Jahre zu erhöhen“, sagt der EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz, John Dalli.
Hinter dem ehrgeizigen Plan steckt auch der Wunsch, durch eine
stärkere Einbindung gesunder Se- nioren in den Arbeitsmarkt die Effi- zienz der Gesundheits- und Sozial- fürsorgesysteme der EU-Mitglied- staaten zu steigern.
Unterstützung für EU-Länder Andernfalls, so Berechnungen der Europäischen Kommission, dürften die altersbedingten öffentlichen Aus- gaben in den EU-Staaten bis 2030 um voraussichtlich 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen.
Aktuell belaufen sich die öffent - lichen und privaten Gesundheits- ausgaben in der EU auf durch- schnittlich 8,3 Prozent des BIP. Ein großer Teil davon geht auf das Konto chronischer Leiden wie Dia-
betes und Herz-Kreislauf-Erkran- kungen, Krebs oder neurodegene- rative Krankheiten.
Zwar liegt die Organisation und Finanzierung der Sozialversiche- rungssysteme in nationaler Hand.
Die EU-Kommission sieht sich den- noch in der Pflicht, die Mitglied- staaten bei der Bewältigung der Herausforderungen zu unterstützen.
Mit einem strategischen Gesamt- konzept unter dem Titel „Innovati- onspartnerschaft gesundes Altern“
will die Brüsseler Behörde die EU- Staaten dazu motivieren, gemeinsam Lösungsansätze zu finden.
Mittel effizienter einsetzen Die Initiative zielt vor allem darauf ab, die in der EU für Forschung und Innovation aufgewandten öffentli- chen und privaten Mittel effizienter einzusetzen und die Markteinfüh- rung neuer Therapie- und Diagno- severfahren zu beschleunigen.
„Bahnbrechende Fortschritte in diesen Bereichen, die älteren Men- schen länger ein gesünderes und un- abhängiges Leben ermöglichen, wä- ren nicht nur von beträchtlichem ge- sellschaftlichem, sondern auch von wichtigem wirtschaftlichem Nutzen“, betont die EU-Kommission.
Die Partnerschaft soll zugleich Projekte zur integrierten Gesund- heits- und Sozialfürsorge älterer Menschen unter Einbeziehung von Patienten, Ärzten, Pflegekräften und Gesundheitseinrichtungen fördern.
Ein Schwerpunkt soll dabei auf dem Einsatz moderner Informati- ons- und Kommunikationstechno- logien und speziell auf die Be - dürfnisse älterer Menschen ausge- richteter Techniken liegen, etwa Alarm- und Sicherheitssysteme, Ge- räte zur Sturzprävention oder Heim- roboter. Gelder hierfür sollen auch aus dem EU-Haushalt fließen. Eine
Demografischer Wandel
Foto: dpa
P O L I T I K
A 1780 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 108|
Heft 34–35|
29. August 2011 EU-weite Zusammenarbeit bei dermedizintechnischen Folgenabschät- zung von innovativen Produkten in der Medizin würde aus Sicht der Kommission ebenfalls zu mehr Ef- fizienz beitragen.
Ein Gremium mit Gesetzge- bungsvertretern und Fachleuten aus Behörden, Normungsorganisationen, Forschungsinstituten sowie Angehö- rigen medizinischer und pflege - rischer Berufe, der Gesundheits- und Sozialversicherungen und Be- teiligten der Privatwirtschaft soll noch im Verlauf dieses Jahres konkrete Vorschläge für die Innova- tionspartnerschaft ausarbeiten. Das Gremium wird von Gesundheits- kommissar Dalli und seiner für digi- tale Medien zuständigen Kol legin Neelie Kroes geleitet. Den deutschen Gesetzgeber ver treten Bundesfor- schungsministerin Annette Schavan (CDU) und NRW-Landtagsabge- ordneter Wolfram Kuschke (SPD).
Bei den dem Europäischen Pa- tientenforum (EPF) angeschlosse- nen Verbänden stößt die Initiative
grundsätzlich auf Zustimmung. Al- lerdings fürchtet das EPF eine mög- licherweise zu einseitige Ausrich- tung der Partnerschaft. Die Patien- tenverbände fordern daher einen fachübergreifenden Ansatz. Ein ak- tives und gesundes Altern müsse als gemeinsame Aufgabe der Gesund- heits-, Sozial-, Beschäftigungs- und Bildungspolitik unter Beteiligung von Interessenverbänden verstan-
den werden, so das EPF. Technikin- novationen dürften zudem nicht zu neuen Ungleichheiten in der ge- sundheitlichen Versorgung inner- halb und zwischen den Mitglied- staaten führen.
Multinationale Datenbank Die Innovationspartnerschaft ist in- des nicht die erste Initiative, mit der die EU versucht, die Gesundheit äl- terer Menschen zu fördern und ge- meinsame Lösungsansätze für die Herausforderungen durch den de- mografischen Wandel zu finden.
Die EU-Kommission finanziert bei- spielsweise seit 2004 mit circa 30 Millionen Euro den Aufbau ei- ner multinationalen Forschungsda- tenbank (SHARE) über die Auswir- kungen der Alterung auf die Ar- beitsmärkte und Wohlfahrtssysteme der europäischen Länder.
Zwischen 2004 und 2007 wur- den zudem im Rahmen des Projekts
„Healthy Ageing“ zahlreiche natio- nale Einzelprojekte und -initiativen zur Gesundheitsförderung älterer
Menschen systematisch erfasst und evaluiert. Beispielsweise hat Tsche- chien einen „Nationalen Aktionsplan zur Vorbereitung auf die Alterung 2008 bis 2012“ aufgelegt. Dieser beinhaltet unter anderem den Aufbau eines Netzwerks gesunder Städte.
Die französische Regierung fördert im Rahmen ihres Programms „Gu- tes Altern“ die Entwick lung von Prä- ventionsstrategien. Dänemark wie-
derum gewährt alleinlebenden Bür- gern über 75 Jahre mindestens zwei präventive Hausbesuche pro Jahr.
Das Healthy-Ageing-Projekt er- gab aber auch, dass bislang kaum Studien zur Kosteneffizienz von speziell auf die Gesundheitsförde- rung von Senioren ausgerichteten Maßnahmen existieren. Die Ergeb- nisse des Projekts sowie die bei SHARE gesammelten Daten sollen bei den im Rahmen der Innova - tionspartnerschaft ausgearbeiteten Strategien Berücksichtigung finden.
Der Fokus bei der Förderung ei- nes gesunden Alterns sollte aus Sicht des Ständigen Ausschusses Europäischer Ärzte dabei weniger auf rein technologischen Ansätzen liegen als auf einer besseren Vernet- zung aller an der Betreuung älterer Menschen Beteiligten. Die Haupt- verantwortung sollte dabei von Ärz- ten getragen werden.
Die Interessenverbände der Phar- ma- und Medizintechnikindustrie sehen dagegen in der Initiative eine große Chance für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen dem öf- fentlichen und privaten Sektor bei der Erforschung und Entwicklung von Innovationen.
Die in der European Social Insur - ance Platform (ESIP) zusammenge- schlossenen europäischen Sozial- versicherungen warnen derweil da- vor, den Begriff Innovation allzu eng auszulegen (s. a. das Interview mit Dr. Günter Danner). „Das Ziel sollte es sein, alten Menschen dazu zu verhelfen, so lange wie möglich unabhängig, aktiv und gesund zu bleiben“, teilte die ESIP in einer of- fiziellen Stellungnahme mit. Moder- ne Technologien und neue Arznei- mittel seien hierfür nicht zwingend erforderlich. Vielmehr sollte in ers- ter Linie über neue integrative An- sätze in der Gesundheits- und Sozi- alfürsorge, auch als Alternative zur familiären Betreuung, nachgedacht werden. Notwendig seien in die- sem Zusammenhang zum Beispiel Dis ease-Management-Programme für die Betreuung chronisch Kranker, Maßnahmen zur Sturzprävention und gesunden Ernährung sowie zur Vermeidung von Isolation und Ver-
einsamung.
▄
Petra Spielberg Im Jahr 2035
wird Prognosen zufolge jeder vierte Bürger in- nerhalb der EU äl- ter als 65 Jahre sein, in Deutsch- land sogar fast je- der dritte. 2060 sol- len europaweit be- reits 30 Prozent der
Bevölkerung über 65 Jahre alt sein.