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Archiv "Ein „ganz neues System“ wird konstruiert" (17.04.1975)

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17. April 1975 Postverlagsort Köln

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5023 Lövenich Postfach 14 30 Dieselstraße 2

Ruf: (0 22 34) 70 11 -1 Fernschreiber 8 89 168 Verlag und

Anzeigenabteilung:

5023 Lövenich Postfach 14 40 Dieselstraße 2 Ruf: (0 22 34) 70 11 -1 Fernschreiber: 8 89 168

Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung

Ein „ganz neues System"

wird konstruiert

Die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen, die Jungsozialisten und die Jungdemokraten legten ihre

gesundheitspolitischen Programme vor

Eine Schöne Neue Welt wird uns verheißen: Ein Gesundheitswesen, das perfekt durchorganisiert ist, den Patienten an eine lückenlose Versorgungskette bindet und den Ärzten zwar wenig Freiheit, aber viel Freizeit und materielle Sicherheit verheißt. Kurz: „ein vergesell- schaftetes und integriertes System medizinischer und sozialer Ge- sundheitsvorsorge". Frei von Profitdenken. Ohne Herrschaftsan- sprüche.Wen wird es da schon stören, daß freie Arztwahl, Niederlas- sungsfreiheit, Freiheit in Diagnosestellung und Therapie einge- schränkt werden? Wer wird schon danach fragen, wie der Perfek- tionismus zu bezahlen ist? Wer fragt schon nach Kleinigkeiten, wenn's um das Glück der Menschheit geht!

Den neuerlichen Versuch, durch Perfektion zum Glück zu gelangen, unternehmen die „Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen" (im folgenden ASG, die vormalige „Arbeits- gemeinschaft sozialdemokratischer Ärzte und Apotheker), die Jung- sozialisten und die Jungdemokraten. Sie alle haben in den letzten Wochen Grundsatzprogramme zur Gesundheitspolitik herausge- bracht: Die SPD-Gesundheitsfachleute auf dem ASÄ-Bundeskon- greß am 9. und 10. März in Köln, die Jusos auf ihrem Bundeskon- greß vom 28. Februar bis 2. März in Wiesbaden, die Judos auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz vom 7. bis 9. März in Lahnstein.

Im Kern stimmen die gesundheitspolitischen Vorstellungen dieser Gruppen weithin überein. Sie weisen eine auffallende Verwandt- schaft zu Ideen des DGB auf, speziell zu denen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WSI). Alle, seien sie Sozialisten oder Liberale, versprechen sich von einer um- fassenden Planung die Lösung der Probleme, die es in unserem Gesundheitswesen heute zweifellos gibt. Sie alle lehnen zwar die formelle Verstaatlichung ab, erstreben aber letztlich eine Vergesell- schaftung des Gesundheitswesens (wobei „Vergesellschaftung" für

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"Sozialisierung" steht; dieses Reizwort wird wohl bewußt vermie- den). Sozialisten und Liberale un- terscheiden sich, was die Soziali- sierung anbelangt, nach den vorge- legten Programmen nur noch um Nuancen. Eher sind die Judos noch etwas rigoroser als die ASG alias ASÄ, was wohl etwas damit zu tun hat, daß unter den SPD-Fachleuten mehr altgediente Praktiker sind, die nicht

nur

ans Modellbauen, son- dern auch ein klein wenig ans Ma- chen denken. Aber das sind Nuan- cen. Im Grundsatz gilt: unser Ge- sundheitswesen soll gründlich um- gestülpt werden. So der Plan.

Und die Regierung schweigt dazu Angesichts dieser Meinungsbildun- gen, die nicht erst seit den erwähn- ten Kongressen bekannt sind, hätte man erwarten dürfen, daß die Bun- desregierung eine günstige Gele- genheit nutzen würde, um ihre Auf- fassungen zur Gesundheitspolitik zu präzisieren. Diese Gelegenheit kam mit einer großen Anfrage der

CDU/CSU-Fraktion. Sie wurde in

peinlicher Weise verpaßt Die Bun- desregierung, vertreten durch den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, hatte trotz der eminent politischen Diskussion in- nerhalb und am Rande der sie tra- genden Parteien nichts Besseres zu tun, als eine Zusammenstellung von Vermerken zuständiger Refe- renten zu veröffentlichen. Auf 40 Druckseiten im Großformat zitiert sie seitenlang aus Berichten des Statistischen Bundesamtes, die schon längst bekannt sind, läßt sie sich ausführliehst zu Detailfragen vernehmen, die zwar von der Fach- kunde der Sachbearbeiter zeugen, aber eben eins nicht bringen: eine politische Äußerung.

Man mag nicht mit dem Argument kommen, was die ASG, die Jusos und die Judos sagten, sei ja doch ganz unverbindlich. Führt man sich vor Augen,

.,... daß die noch viel "unverbindli- chere" Studie des WSI aus dem Jahre 1971 und die erst recht "un- verbindlichen" Gedankengänge ei- nes beim WSI noch tagenden Ar-

beitskreises jetzt bereits Eingang in Parteigremien gefunden haben, .,... daß der "Orientierungsrahmen '85" der SPD immerhin schon so angelegt ist, daß ASG- und Juso-Vorstellungen ohne weiteres in ihn eingepaßt werden könnten, .,... daß nach allem, was aus der Gesundheitskommission bei dem SPD-Parteivorstand zu vernehmen ist, deren Ideen dem ASG- und Juso-Konzept weithin entsprechen, .,... daß ein Landesverband der Par- tei, nämlich der in Schles- wig-Holstein, in seinem Wahl- kampfprogramm die Verstaatli- chung des Gesundheitswesens for- dert,

dann besteht Anlaß genug für eine unmißverständliche Klarstellung.

Offensichtlich will sich die Bundes- regierung im Augenblick aber nicht festlegen. Sie scheint darauf zu verzichten, auch ihrerseits Schwer- punkte und Richtpfeiler zu setzen, die nicht zu übersehen wären.

Vage Worte eines Vorsitzenden Zu dem ASG-Programm hat freilich der Parteivorsitzende Willy Brandt Bemerkenswertes gesagt, und zum Judo-Programm hat sich der FDP-Fraktionsvorsitzende . Wolf- gang Mischnick geäußert. Was Mischnick auf einer Wahlveranstal- tung seiner Partei, dem "Gesund- heitspolitischen Kongreß des FDP-Landesverbandes Schles- wig-Holstein", zur Gesundheits- politik sagte, war alles in allem tat- sächlich eindeutig und den Judo-Vorstellungen fast konträr ent-

gegengesetzt. Was Willy Brandt da- gegen vor der ASG sagte, war nur für den eindeutig, der die Brandt-Aussage allein dem "Vor- wärts" entnahm. Dort war zu lesen, daß sich der Parteivorsitzende ge- gen eine Verstaatlichung ausge- sprochen habe. Das hat er. Damit sprach er sich gegen etwas aus, das auch ASG und Jusos ablehn- ten. Sie erstreben ja eine Verge- sellschaftung. Allerdings in einer Form, die in der Wirkung einer Ver- staatlichung entsprechen würde.

Was der Parteivorsitzende dazu,

zum Thema Sozialisierung, zu sa- gen hatte, war dagegen höchst vage, so vage wie die Aussagen im

"Orientierungsrahmen '85". Damit ist die Schlußfolgerung erlaubt, daß man sich in der Partei offenbar den Weg zu einer Sozialisierung des Gesundheitswesens offenhal- ten möchte. So weit war's vor ein paar Jahrent noch nicht. Das be- harrliche Botiren der Parteilinken hat sich also doch gelohnt.

Schlüsselstellung

der Gesundheitsvorsorge und der Rehabilitation

Sehen wir uns nun an, wie Verge- sellschaftung konkret aussehen soll nach ASG, Judos und Jusos:

Zentrale Bedeutung hat in allen Programmen die Vorsorgemedizin.

Das entspricht zwar zunächst ei- nem allgemeinen Trend in der Me- dizin. Doch hat die Betonung des Primats der Vorsorge in den Pro- grammen eine spezifische Bedeu- tung: Mit der Neuorientierung von Therapie zur Prävention wird die Umstrukturierung des gesamten Systems der medizinischen Versor- gung begründet. Es ist daher kenn- zeichnend, daß alle Programme die Vorsorge nicht mehr der ambulan- ten ärztlichen Versorgung zuord- nen, sondern teils neuen Einrich- tungen wie Beratungsstellen und Medizinisch-technischen Zentren (MTZ), teils dem öffentlichen Ge- sundheitsdienst. Am deutlichsten sind hier die Jungsozialisten. ln ih- rem Programm heißt es: "Maßnah- men der Vorsorge und Früherken- nung sind primär Aufgaben des öf- fentlichen Gesundheitsdienstes. Da dieser (derzeit) . . . die entspre- chenden Aufgaben nicht in vollem Umfange erfüllen kann, können sie vorübergehend an Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte dele- giert werden."

Pendant zu dieser Neuordnung der Vorsorge ist die neue Aufgabenzu- weisung bei der Rehabilitation.

Auch hier spielen die Ärzte in der ambulanten Versorgung nur noch eine untergeordnete Rolle, da Re- habilitation primär als soziale Ein-

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Programm-Konstruktionen

gliederung gesehen wird. Die Durchführung der Rehabilitations- maßnahmen soll in eigenen Ein- richtungen geschehen. Auch hier (stellvertretend für die anderen) ein Zitat aus dem Juso-Programm:

„Eine dauernde Nachbehandlung bzw. Nachsorge der Patienten mit Kontrolle des Krankheitsverlaufes erfolgt in entsprechenden Rehabili- tationskliniken". Und an anderer Stelle: „Jedem Akut-Krankenhaus ist ... eine Abteilung für Rehabili- tation mit Psychologen, Psycho- therapeuten, Beschäftigungs- und Sozialtherapeuten zuzuordnen.

Diesen Abteilungen obliegen die Vorbereitungen und gegebenen- falls die Durchführung des Rehabi- litationsprogramms".

Einzelpraxis — pass6, Gruppenpraxis „in"

Schon aus dieser Bevorzugung von Institutionen läßt sich erkennen, daß die Individualpraxis den Pro- grammverfassern nicht in das Kon- zept paßt. So ist es auch: Die ASG spricht von einer „Überwindung"

des Prinzips der Einzelpraxis. Die- se wird zwar als eine mögliche Form der ambulanten Tätigkeit nicht direkt ausgeschlossen, doch soll_ sie nicht sonderlich gefördert werden. In den Konzepten der Ju- sos und Judos ist die Einzelpraxis kaum noch erwähnt. Für die Jusos bildet sie einen Ausnahmefall, nämlich als eine Möglichkeit der ambulanten Versorgung ländlicher Gebiete. Bei den Judos ist die Ein- zelpraxis nicht vorgesehen.

Statt dessen bauen alle Programme auf die Gruppeopraxis, und zwar in der Sonderform der fachüber- greifenden Gemeinschaftspraxis.

Für das ASG-Programm ist die Ge- meinschaftspraxis der wichtigste Teil der ärztlichen Versorgung überhaupt, das Krankenhaus, ein

„reines Therapeutikum", ist eine (wenn auch wichtige) Ergänzung.

Die Praxen arbeiten mit Medizi- nisch-technischen Zentren (MTZ) zusammen, die den Krankenhäu- sern angegliedert sein sollen, wo- bei die MTZ, wie schon von der WSI-Studie her bekannt, Daten für

die Diagnose, nicht die Diagnose selbst liefern sollen. Außerdem sind die Praxen einem zentralen Infor- mationssystem (ZIS) angeschlos- sen, über dessen Einzelaufgaben und Konstruktion nicht allzu viel gesagt wird. Ähnlich übrigens auch in den anderen Programmen.

Auch für die Jusos ist die fach- übergreifende Gemeinschaftspra- xis der „Regelfall" einer „ambulan- ten Einrichtung". Daneben nennen

die Jusos als gleichberechtigte Konkurrenz Ambulatorien der Krankenhäuser und der Kassen (während die ASG Ambulatorien aus praktischen Gründen kritisch gegenübersteht).

Das „Gesundheits- und Sozialzentrum"

Etwas Besonderes haben sich die Judos einfallen lassen: Für sie steht im Zentrum der ambulanten und stationären Versorgung das

„Gesundheits- und Sozialzentrum", eine Institution in öffentlicher Trä- gerschaft, die die ambulante und stationäre Versorgung übernimmt und außerdem eine Reihe von So- zialhilfen bietet. Die ambulante Be- handlung erfolgt in Polikliniken.

Wahrgenommen wird sie von derri Team der Klinikärzte. Daneben kann dasselbe Team sich auch noch in Gemeinschaftspraxen zu- sammenschließen, die in Ärztehäu- sern einzurichten sind. Im Grunde

schlagen die Judos also ein auf den Kopf gestelltes Belegarztsy- stem vor. Das Bezeichnende für den Gesinnungswandel einer libe- ralen Organisation, die die Judos doch wohl noch sind: Nicht der freiberufliche Arzt „belegt" ein Krankenhaus, sondern der ange- stellte oder der beamtete Arzt schwärmt in die Praxis aus.

Die Niederlassungsfreiheit soll nach allen Programm-Machern eingeschränkt werden. Nach dem Judo-Programm kann es eine sol- che per se schon nicht mehr ge- ben, da die ambulante Tätigkeit mit der stationären verknüpft ist und von Angestellten oder Beamten ausgeübt wird. Die Jusos kennen eine Niederlassung nur noch im Rahmen der exakten Planung: „Die Berufsausübung ist genau wie im Krankenhausbereich auch für die ambulante Tätigkeit nur an den durch den Plan vorgeschriebenen Orten möglich." Bei der ASG ent- scheidet im Rahmen der Bedarfs- planung ein Zulassungsausschuß, der bei jedem „Regionalverband der medizinischen Versorgung" — einer speziellen ASG-Erfindung — gebildet wird. Ihm gehören Vertre- ter der Krankenhausärzte der Re- gion und der Krankenhäuser an.

Ein Netz von Regionalverbänden Das Stichwort Regionalverband führt zu dem Kernstück des ASG- Programms und damit gleichzeitig zu dem bislang konkretesten Vor- schlag für ein komplett durchorga- nisiertes Gesundheitswesen. Glie- derungseinheiten der medizinischen Versorgung sollen Regionen sein, mit 1 bis 1,5 Millionen Einwohnern, unterteilt in Subregionen mit 100 000 bis 150 000 Einwohnern.

Verwaltungseinrichtung ist der Re- gionalverband. „Er stellt die medi- zinische Versorgung in der Region sicher und ist berechtigt, Einrich- tungen auch selbst zu schaffen und zu unterhalten." Doch unterhält er nicht nur eigene Einrichtungen, sondern letztlich auch alle ande- ren, denn er steuert über Richtlini- en die formal noch selbständigen Praxen, und vor allem — er ent-

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scheidet über die Zuweisung von Investitionsgeldern. Denn nach der ASG-Vorstellung sollen Investi- tionsmittel für die medizinischen Einrichtungen von der öffentlichen Hand kommen, diese werden als zinsloses Darlehen über den Re- gionalverband zugeteilt, Rückflüsse gehen in einen Fonds, der gleich- falls vom Regionalverband verwal- tet wird. Die laufenden Kosten der medizinischen Einrichtungen sollen aus den Versicherungsbeiträgen

bezahlt werden.

Die Regionalverbände sollen Kör- perschaften des öffentlichen Rechts sein und eine Selbstverwal- tung erhalten, die in Drittelparität von Vertretern der Krankenversi- cherung, Vertretern „der in der me- dizinischen Versorgung Tätigen"

und der Kommunen gebildet wer- den. Zur Sicherung einer bundes- weit gleichen medizinischen Ver- sorgung soll eine „Bundesselbst- verwaltungskörperschaft" gebildet werden, die einheitliche Normen und Standards ausarbeitet.

• Angesichts der Vorrangstellung der Regionalverbände darf es nicht verwundern, wenn die anderen Selbstverwaltungs-Einrichtungen zurückgedrängt werden. So werden die Kassenärztlichen Vereinigun- gen konsequent auch als „Ab- rechnungsgenossenschaften" defi- niert.

Bei einer Zentralisierung der am- bulanten Versorgung, sei es in Gruppenpraxen oder in Ambulato- rien, muß natürliche Folge sein, daß die ärztliche Besetzung ländli- cher Gebiete noch weiter ausge- dünnt wird. Alle Programm-Macher beklagen zwar am heutigen System eine Unterversorgung auf dem Lan- de. Daß sie dennoch um ihres eige- nen Systems willen eine Ver- schlechterung der Situation in Kauf nehmen, verdient festgehalten zu werden. Zwar wird keiner dies zu- geben wollen, doch sind alle Vor- schläge für eine Versorgung der ländlichen Gebiete eindeutig Notlö- sungen — schlechter als alles, was es heute gibt. Die Judos und die Jusos wollen für Landgebiete not-

falls zeitweilig besetzte Filialpraxen der (in den Mittelpunktsorten er- richteten) Gruppenpraxen zulas- sen. Die ASG weist wichtige Aufga- ben der ärztlichen Versorgung auf dem Lande neu zu schaffenden

„Medizinischen Gemeindezentren"

zu. Da ausdrücklich betont wird, es handle sich nicht um Sozialstatio- nen, kann nur geschlossen werden, daß es sich hier (ähnlich wie in der UdSSR und wie in einigen Entwick- lungsländern) um Feldscher-Sta- tionen handeln soll.

Nichts Neues

zur Krankenhausstruktur

Zur inneren Struktur der Kranken- häuser bieten alle Programme im Grunde nichts Neues. Abbau der Hierarchie, klassenlose Kranken- häuser, Mitbestimmung, das alles hat man schon oft gehört. Es keh- ren viele Vorschläge, die aus der verunglückten Hochschulreform bekannt sind, wieder, so die Drit- telparität: Grundsatzfragen werden durch Konferenzen entschieden, an denen drittelparitätisch Verwal- tung, Ärzte und Pflegepersonal be- teiligt sind, ergänzt durch einen Patientenfürsprecher (hierfür set- zen sich besonders die Judos ein).

Die Konferenz wählt auf Zeit eine Krankenhausleitung, ebenfalls drit- telparitätisch besetzt. Den Kran- kenhausträgern kommt nur noch eine untergeordnete Funktion zu (offenbar hat sich kein Modellbau- er gefragt, was einen Träger noch reizen könnte, ein Krankenhaus zu unterhalten). Selbstverständlich gibt es kein Liquidationsrecht mehr.

Honorar nach BAT 1

Damit wären wir bei der Honorie- rung: Am detailliertesten ist hier die ASG. Sie gönnt den Ärzten in der ambulanten Versorgung ein Honorar nach BAT I a. Dazu gibt es eine Leistungsprämie, die ebenfalls bis BAT I a gehen kann (für einen verheirateten Arzt so um die 50 be- deutet BAT 1 a samt Ortszuschlag rund 4000 DM im Monat). Gefüllt wird der Honorartopf aus Einzelab- rechnungen mit den Kassen. Kran-

kenhausärzte können ebenfalls bis zum Doppelten von BAT I a bekom- men. Daneben haben die leitenden Ärzte das Recht (sofern sie Zeit ha- ben), in Gemeinschaftspraxen tätig zu werden.

Über die Kosten

hat noch niemand nachgedacht So ausführlich und detailreich die Vorschläge für eine Neukonstruk- tion des Gesundheitswesens sind, so ungenau sind die Überlegungen zur Finanzierung dieses Systems.

Denn es kann gar kein Zweifel sein, daß ein Gesundheitswesen, das so organisiert wird, wie es zum Beispiel die ASG vorschlägt, Neu- investitionen in Milliardenhöhe er- forderlich macht und laufende Aug- gaben verursacht, die weit über das heute Gegebene hinausgehen müssen, allein schon wegen der erheblichen Personalexpansion, die aus dem Programm folgt.

Angesichts der finanziellen Situa- tion der gesetzlichen Krankenversi- cherung ist das aus Beitragsmitteln nicht zu finanzieren. Um so er- staunlicher ist das Schweigen aller Programm-Macher über die Finan- zierung. Zwar wünschen sie die Öff- nung der gesetzlichen Krankenver- sicherung für alle Gruppen (und zwar als Pflichtversicherung), aber das bringt nicht viel, weil ja bereits heute 95 Prozent der Bevölkerung der GKV angehören. Und auch die Forderung, die „Beitragsbemes- sungsgrenze als Instrument der Umverteilung einzusetzen", sprich:

den Beitrag nicht nach oben zu be- grenzen, kann nicht als ernsthafter Finanzierungsvorschlag gewertet werden. Das bringt — wie die Erfah- rungen aus der Steuergesetzge- bung zeigen — Millionen, aber keine Milliarden. Eine Patentlö- sung haben allerdings die Ju- sos. Sie kommen schlicht auf ihr

„ceterum censeo" zurück: „Der Kampf um Finanzierungsbeiträge und damit der Kampf um Haushal- tungsumverteilung und Steuerum- verteilung zu Lasten der Konzern- profite und Großeinkommen ist Teil der gesamtgesellschaftlichen Aus- einandersetzungen." Von Überwäl-

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zung auf die Preise hat man dort wohl noch nie gehört. Oder soll das Überwälzen schlicht verboten werden? Doch auch in einer total sozialisierten Wirtschaft, in der eine offene Überwälzung unterbunden werden könnte, muß letztlich einer bezahlen. Wer aber wird das sein, wenn — wie die Judos fordern — jeder nur mehr 6 Stunden und 30 Minuten täglich arbeiten darf?

Sowohl die ASG wie Jusos und Ju- dos sind sich im klaren darüber, daß ihre Vorstellungen Widerstän- den begegnen werden. Sie orten sie, entsprechend ihrer Ideologie, bei Kapitalinteressen und dem Dünkel von „ständischen Ärzten und Apotheker-Organisationen".

Gegner sieht hier auch der SPD- Parteivorsitzende Willy Brandt. Auf dem Kongreß der „Arbeitsgemein- schaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen" ahnt er voraus,

„daß beträchtliche Widerstände bei denen zu überwinden sein werden, die, wie es in ihrer Sprache heißt

— ihren ,Besitzstand' erhalten wol- len." Doch „fortschrittliche Ge- sundheitspolitik" setzt wie aller Fortschritt auf die Jugend. Die Verfasser des „OR '85" der SPD hoffen auf die steigende Zahl medi- zinischer Hochschulabsolventen, de- ren Wunsch nach mehr ärztlicher Zusammenarbeit und eigener Frei- zeit einem integrierten System durchaus entspricht". Was die Kooperation angeht, so haben die OR-Verfasser sicher recht, und da dürfen sie sogar dte „Alten" einbe- ziehen. Aber welch materialistischen Auffassungen huldigen die Verfas- ser, wenn sie glauben, mit mehr Freizeit junge Ärzte veranlassen zu können, einen großen Teil der Frei- heit, die sie heute haben, aufzuge- ben? Sollte es freilich so weit ge- kommen sein, dann ist es zur „Bra- ve New World" nicht mehr weit.

(Die gesundheitspolitischen Pro- gramme von ASG, Jusos und Ju- dos werden nachfolgend und in den nächsten Heften im einzelnen dokumentiert und kommentiert.

Die Originalzitate sind durch einen kleineren Schriftgrad kenntlich ge- macht.) Norbert Jachertz

Der Entwurf für „Gesundheitspoliti- sche Leitsätze" der bisherigen Ar- beitsgemeinschaft sozialdemokrati- scher Ärzte und Apotheker (ASÄ), über den bereits in Heft 7 des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES vom 13. Februar auf den Seiten 405 und 406 referiert worden ist, wurde bei einer Delegiertenversammlung der ASÄ Anfang März in Arbeitskreisen und Plenum diskutiert. Die Tagung stand unter dem Motto „Medizini- sche Versorgung: Reform mit Au- genmaß". Die ASÄ änderte bei die- sem Kongreß ihren Namen in „Ar- beitsgemeinschaft der Sozialdemo- kraten im Gesundheitswesen — ASG" und nahm einen Sozialarbei- ter und einen Gewerkschaftsfunk- tionär in den Vorstand auf. ASÄ- Vorsitzender Dr. Hans Bardens MdB hatte nicht mehr für den Vor- stand kandidiert. Die Delegierten- konferenz beschloß, den Entwurf der Gesundheitspolitischen Leitsät- ze „tendenziell zu billigen"; er soll von verschiedenen Gremien weiter überarbeitet und dem Bundesvor- stand der SPD als Arbeitsmaterial zugeleitet werden.

Der Entwurf wird im folgenden in Auszügen in der Form dokumen- tiert, wie er der Delegiertenver- sammlung vorgelegt worden ist.

Formelle Änderungsbeschlüsse wurden dort nicht gefaßt; die ver- schiedenen in den Arbeitskreisen erarbeiteten Änderungsvorschläge sind dem Entwurf lediglich als Ma- terial beigegeben, zum Teil auch gar nicht ausformuliert worden. Die Dokumentation konzentriert sich auf diejenigen Abschnitte, die mit der ärztlichen Versorgung in Praxis und Krankenhaus sowie der Orga- nisation und Finanzierung des „Sy-

stems der integrierten medizini- schen Versorgung" zusammenhän- gen.

Ausgangspunkt für das „Integrier- te" System ist die Feststellung im Absatz 4.2.:

„Heutige Mängel:

Fehlende Verflechtung

Die jetzige medizinische Versorgung in der Bundesrepublik ist charakterisiert durch die starre Abgrenzung zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich. Ihr fehlen Kontinuität, Kommu- nikation und Kooperation. Daraus fol- gen Lücken im Behandlungsverlauf, vermeidbare Wiederholungen medizini- scher Leistungen, unverhältnismäßig lange Dauer der Krankenhausbehand- lung, übermäßige Kosten, vermeidbare finanzielle Belastungen der Versicher- ten und der öffentlichen Haushalte und

vermeidbare zeitliche Belastung der Patienten."

Der Begriff der „Integration", der diesen „Mißständen" abhelfen soll, wird folgendermaßen definiert:

„5.1 Integration

der medizinischen Versorgung

Die verhängnisvollen Folgen des Feh- lens der Verflechtung können nur durch Integration des Systems der me- dizinischen Versorgung überwunden werden.

5.1. Mittel der Integration

Die Teilbereiche der medizinischen Versorgung müssen durch organisatori- sche und technische Mittel, insbeson- dere durch zentrale Informationssyste- me und durch Medizintechnische Zen- tren miteinander verzahnt werden. >

Alle Macht im Gesundheitswesen liegt beim Regionalverband ...

... postuliert das Programm der

„Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen"

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