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Archiv "Die Umwelt als Ursache von Erkrankungen: 2 Anschuldigungen unzutreffend" (14.04.1995)

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MEDIZIN

1 Epidemiologie fördern

Die Gegenüberstellung der Sym- ptomprofile verschiedener Studien zu

„Umwelterkrankungen", die man übrigens wegen taxonomischer Pro- bleme noch besser als „Umweltsyn- drome" bezeichnen sollte, ist bemer- kenswert. Die Unterschiede der Sym- ptomhäufigkeiten zeigen, daß es — möglicherweise kulturspezifisch — verschiedene Unterformen von Um- weltsyndromen gibt. Dieser Befund müßte durch Multicenterstudien mit einem multivariaten Analyseansatz genauer geprüft werden. Es ist dann zu erwarten, daß es sich nicht nur, wie von Prof. Remmer vorgeschlagen, um medieninduzierte psychogene Massen- erkrankungen handelt, sondern daß auch andere Formen vorliegen, bei denen Umweltinformationen oder Umweltengagement bei der Genese nicht maßgeblich sind.

Daß bei diesen Patienten eher keine psychiatrischen Krankheitsbil- der vorliegen, konnte ich in einer Se- kundäranalyse von Interviews von Patienten der toxikologischen Abtei- lung der TU München (Prof. Zilker) bestätigen. Für einen Teil dieser Pati- enten kommt auch eine „Umwelt- ideologie" als relevanter Kausalfak- tor nicht in Betracht. An dieser Stelle wären auch die einschlägigen umwelt- psychologischen Forschungen zu berücksichtigen. Generell empfiehlt es sich, bei der Wertung der umwelt- bezogenen polysymptomatischen Be- schwerdekomplexe die psychologi- sche und soziologische Dimension kompetent mit einzubeziehen. Wir haben dies gemacht und die kompli- zierte Diskussion der diagnostischen, ätiologischen, nosologischen und the- rapeutischen Aspekte dieser Syndro- me in einer Dokumentation publiziert (1). Es empfiehlt sich meiner Erfah- rung nach, auch mit den Betroffenen- organisationen in den Dialog zu tre- ten und Schuldzuweisungen zu ver-

DISKUSSION

Zu dem Beitrag von em. Prof. Dr. med.

Dr. h. c. Herbert Remmer in Heft 27/1994

meiden. Vertretbar scheint es auch noch zu sein, mehr empirisch zu for- schen, als sich jetzt schon auf spezifi- sche Erklärungstheorien festzulegen.

Die forschungspraktischen Probleme der klinischen Umweltmedizin (Nied- rig-Dosis-Effekte) benötigen dabei mehr grundlegende Beachtung.

Literatur

1. Aurand K, Hazard B, Tretter F: Umweltbe- lastungen und Ängste, Westdeutscher Ver- lag, Opladen, 1993

Dr. med. E Tretter

Ärztlicher Leiter Suchtbereich Bezirkskrankenhaus

85529 Haar

2 Anschuldigungen unzutreffend

O Nach unseren Informationen wurden auf den landwirtschaftlichen Flächen, in deren Nähe es zu den be- schriebenen Erkrankungen kam, im wesentlichen verschiedene Pestizid- Combi-Präparate mit mehreren In- haltsstoffen verwendet, dabei handel- te es sich insbesondere um Kresole;

Phosphorsäureester, wie von H. Rem- mer behauptet, spielten bei den da- mals verwendeten Pestiziden keine wesentliche Rolle. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß die in den Blutproben der Betroffenen gemesse- ne Cholineresteraseaktivität im Normbereich lag.

• Die Beobachtung, daß dem zuständigen Gesundheitsamt keine neuen Erkrankungsfälle mehr be-

kannt wurden, nachdem die Ärztin, die auf die Häufung bestimmter Krankheitssymptome im Umkreis der angeschuldigten pestizidbehandelten Felder hingewiesen hatte, in Tübin- gen nicht mehr tätig war, ist nichts Außergewöhnliches. Insbesondere spricht diese Beobachtung nicht ge- gen einen möglichen Zusammenhang zwischen der Häufung der beobachte- ten Krankheitsfälle und dem damals nachgewiesenen Pestizideinsatz.

Auch in anderen medizinischen Diszi- plinen ist dieser Effekt bekannt:

Wenn erfahrene Hautkliniker in Zu- sammenarbeit mit Medien, die in spektakulären Berichten auf das er- höhte Hautkrebsrisiko durch intensi- ve Sonnenbestrahlung hinweisen, in der darauffolgenden Zeit tatsächlich mehr Melanome in ihren Ambulan- zen und Praxen diagnostizieren, so ist dies nicht Ausdruck einer Massenpsy- chose, sondern Ergebnis einer verant- wortungsvollen Aufklärungskampa- gne! Gäbe es diese engagierten der- matologischen Kolleginnen und Kol- legen nicht, würden mit Sicherheit weniger Melanome diagnostiziert, oh- ne daß dadurch der Zusammenhang zwischen Melanom und intensiver Sonnenbestrahlung in Zweifel gezo- gen werden könnte.

• Die in dem Aufsatz abge- druckte Tabelle ist irreführend und für die Bewertung umweltmedizini- scher Erkrankungen wenig hilfreich:

Ein Vergleich prozentual aufgeliste- ter Beschwerden von Personen ohne Angabe der möglicherweise ursächli- chen Schadstoffe, denen diese Grup- pen ausgesetzt waren, bleibt ohne Er- kenntniswert. Die sehr unterschiedli- che Häufigkeit der Hauptsymptome der drei verglichenen Patientengrup- pen spricht lediglich dafür, daß es sich wahrscheinlich um verschiedene und nicht vergleichbare Krankheitsbilder handelt.

O Die unter Punkt sechs ange- führte Untersuchung von Menzies und Tamblyn im New England Jour- nal of Medicine widerlegt den Zusam- menhang zwischen Schadstoffen und Symptomen der MCS-Krankheit nicht: Da es sich — wie in dem engli- schen Krankheitsbegriff deutlich zum Ausdruck kommt — bei der MCS- Krankheit nicht um eine Intoxikation, sondern um eine allergische Reaktion

Die Umwelt als Ursache von Erkrankungen

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 15, 14. April 1995 (49) A-1105

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MEDIZIN

des Organismus auf chemische Schad- stoffe handelt, ist das Fehlen einer strengen Dosis-Wirkungs-Beziehung kein Beweis gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen Schadstoff- exposition und Krankheitssymptom.

0 Entgegen der Behauptung von H. Remmer gibt es auch beim Raucher eine Sensibilisierung ge- genüber minimalen Mengen der inha- lierten Schadstoffe: Die Endangitis obliter ans-Winiwarter-Buerger ent- steht und verschlimmert sich durch Rauchen unabhängig von der Menge der konsumierten Zigaretten! Auch hier ist eine besondere Empfindlich- keit einer besonderen Gruppe der Raucher gegenüber den inhalierten Schadstoffen als pathogenetisches Prinzip allgemein anerkannt.

Zusammenfassend zeigt der Auf- satz von H. Remmer, wie schwer es uns in der Ärzteschaft heute immer noch fällt, vorurteilsfrei und rational über Zusammenhänge zwischen Um- welteinflüssen und Gesundheit nach- zudenken. Wir sollten bei dem derzei- tig noch sehr dürftigen Kenntnisstand über mögliche Zusammenhänge mit voreiligen Urteilen, wie „Sensations-

3 Toxikologische Defizite

In dem anspruchsvoll betitelten Aufsatz nimmt Remmer eine einzige, sieben Jahre zurückliegende Umwelt- erkrankung, die „Tübinger Krank- heit", zum Anlaß für weitreichend Überlegungen zu ihrer Ätiologie. Zu- fällig erschien der Aufsatz zu einem Zeitpunkt, zu dem die Praxen, beson- ders die von Kinderärzten, gefüllt wa- ren mit Patienten, die über diverse Gesundheitsstörungen durch Som- mersmog klagten, und die Ozonalar- me die Menschen das Fürchten lehr- ten, besonders Müttern, die mit ihren Kindern die Ferien im Strandbad ver- brachten.

Aber auch diese Ozonschäden sind (zunächst) noch harmlos gegen- über den verbreiteten, wissenschaft- lich erforschten Umwelterkrankun- gen wie Mißbildungen, Leukämien, Asthma, Allergien, Ekzeme, Immun- schwäche und vielen anderen, die durch radioaktive Niedrigstrahlung und chemisch-toxische Substanzen

DISKUSSION

presse", „Angstverbreitende Medi- en" oder „Gewissenlose Ärzte" sehr zurückhaltend sein!

Statt dessen stünde es uns als Ärztinnen und Ärzten im Sinne des vorsorgenden Gesundheitsschutzes gut an, plausible Zusammenhänge zwischen der Exposition gegenüber Umweltschadstoffen und der Ausbil- dung besonderer Krankheitserschei- nungen ernst zu nehmen, auch wenn der zweifelsfreie naturwissenschaftli- che Beweis für die vermutete Kausa- lität noch nicht erbracht ist. Dies zu fordern, ist nicht Ausdruck einer „Ir- rationalen Umweltideologie", son- dern Herausforderung an unsere ärzt- liche Verantwortung. Dies steht nicht im Gegensatz zu einer rationalen Be- trachtungsweise und bedeutet erst recht nicht, die Folgen selbstverschul- deter Erkrankungen, beispielsweise durch Alkohol- und Zigaretten- mißbrauch zu ignorieren.

Dr. A. Dohmen

Interdisziplinäre Gesellschaft für Umweltmedizin e. V.

Poststraße 11 79730 Murg

verursacht oder wesentlich mitbe- dingt sind (1). Diese werden in der Argumentation des Autors nicht berücksichtigt.

Wenn man ihr folgt, ist die MCS (Multiple Chemical Sensitivity), wie sie der Tübinger Erkrankung zugrun- de lag, Ausdruck einer endemisch verbreiteten, seelisch bedingten

„Chemophobie", die durch einen

„negativen Plazeboeffekt" erzeugt wird. Dieser ist, Remmers Aus- führungen zufolge, sowohl iatrogen wie medienbedingt. Ein Arzt oder ei- ne Ärztin, die, wie die Tübinger Kol- legin, bei der Diagnostik ungeklärter Krankheitsbilder an toxische Noxen denkt und entsprechende Untersu- chungen einleitet, trägt, so die Annah- me des Autors, zum „Unheil" des Pa- tienten bei, ebenso wie „die Sensati- onsberichte in Presse und Fernse- hen", weil sie die negative Einschät- zung der Chemie und entsprechende Ängste schüren.

Remmer stellt einige verdienst- volle Überlegungen zur Psychogene- se von Umweltkrankheiten an, bei

der er auch die „tiefverwurzelten Da- seinsängste" und „die Angst vor der Zukunft" speziell in der jungen Gene- ration berücksichtigt. Zahlreiche wis- senschaftliche Studien der letzten Jahre zeigen tatsächlich einen engen Zusammenhang zwischen makroso- zialen, auf die Umwelt bezogenen Stressoren und der Entwicklung psy- chischer und psychosomatischer Störungen (2).

Leider münden die Überlegun- gen des Autors in eine ungute Pole- mik, in der sich die ganze Wider- sprüchlichkeit der Argumentation of- fenbart: einerseits sind chemische Produkte „tatsächlich für viele Schä- den in unserer Umwelt verantwort- lich" und „unter den Beschwerden können die Betroffenen schwer lei- den"; andererseits „wittern" Jugend- liche „auf der Suche nach Sünden- böcken in der ihnen unverständlichen Technik, in einer künstlichen Verän- derung von Genen, in den Strahlen und in der Chemie die Ursachen ihrer Misere."

Nicht die destruktiven und globa- len Auswirkungen der Großtechnolo- gie sind also für die Zukunftsängste der jungen Generation verantwort- lich, sondern, wie der Leser bald er- fährt, „eine gewisse Sensationspresse und tendenziöse Fernsehsendungen"

und schließlich: „Den angstverbrei- tenden Medien zuzurechnen sind ge- wissenlose Ärzte, Biologen, Chemi- ker und Toxikologen, die, um sich zu profilieren, das zu verkaufen suchen, was die tiefsitzenden Ängste der heu- tigen Menschen zu bestätigen scheint."

Mit dieser Polemik gegen eine

„irrationale Umweltideologie" stellt sich Remmer in den Dienst einer offi- ziellen Politik, die „die Angstmacher"

verteufelt, um von den „wahren Teu- feln" abzulenken.

Literatur

1. Petri H: Umweltzerstörung und die seeli- sche Entwicklung unserer Kinder. Kreuz, Zürich, Stuttgart 1992.

2. Mansel J (Hg): Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohung. Juventa, Weinheim, München 1992.

Prof. Dr. med. Horst Petri Nervenarzt, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychoanalyse

Carl-Herz-Ufer 27 - 10961 Berlin D A-1106 (50) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 15, 14. April 1995

Referenzen

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