• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie" (06.06.1974)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie" (06.06.1974)"

Copied!
10
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie

Helmut E. Ehrhardt

Igap

r•Me.'

ur

Der illegale Schwangerschaftsabbruch ist ein Tötungsdelikt im Sin- ne des Strafrechts. Es geht dabei um das werdende Leben. Eine Lockerung des strafrechtlichen Schutzes in diesem Bereich führt fast zwangsläufig zu der Frage nach der Schutzbedürftigkeit und der Schutzwürdigkeit des verlöschenden Lebens. Darf der Arzt ei- nen unheilbar Kranken von seinen Leiden „erlösen", darf er „le- bensunwertes" Leben beenden? Vor allem dann, wenn es der aus- drückliche Wunsch und Wille des Patienten ist? Wie steht es mit den Möglichkeiten und den Schranken einer rechtlichen Regelung für das Verhalten des Arztes in Grenzsituationen? Der nachste- hende Beitrag befaßt sich in einer vergleichenden Betrachtung mit den Problemen, die sich für den Arzt durch den mehr oder weniger weitgehenden Rückzug des Staates aus der Verantwortung für das werdende wie das verlöschende Leben ergeben.

THEMEN DER ZEIT:

Wider den

gesundheitspolitischen Syndikalismus

Aufgaben der heutigen Neurologie in der Krankenversorgung

AUS DER FRAGESTUNDE DES BUNDESTAGES

FORUM:

Achillesferse Psychologie oder:

Der Countdown einer Sozialisierung

BRIEFE AN DIE REDAKTION

PERSONALIA

FEUILLETON:

Drollige und weniger drollige Raucher

REISE:

Altes Bad wird wieder jung

WIRTSCHAFT:

Die private

Krankenversicherung paßt ihre Tarife an

PRAXIS UND HAUS

AUTO:

Renault 5 LS mit 64 PS

Noch immer wird bereits der Titel dieses Beitrages von nicht wenigen Zeitgenossen als Provokation emp- funden. Für sie ist der Begriff Eu- thanasie unlösbar mit einem Kapi- tel nationalsozialistischer Gewalt- verbrechen verbunden. Dabei ist unbekannt oder wird vergessen, daß die „Gnadentod"-Aktionen der Nationalsozialisten nur wenig oder gar nichts mit Euthanasie im Sinne individueller Sterbehilfe zu tun hat- ten. Über den Schwangerschafts- abbruch konnte und kann man da- gegen reden, auch ohne den Bei- geschmack des Unseriösen, auch schon vor der gesetzlichen Libera- lisierung in östlichen und neuer- dings in westlichen Ländern.

Die sicher notwendige Reform des

§ 218 in unserem Strafgesetzbuch war bereits nach dem 1. Weltkrieg hochaktuell. Von den vielen Initiati- ven der damaligen Zeit sei hier nur

an den am 31. Juli 1920 von Abge- ordneten der Mehrheitssozialisten, darunter Gustav Radbruch, im sei- nerzeitigen Reichstag eingebrach- ten Antrag erinnert. Er zielte auf eine Freigabe der Abtreibung in- nerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft, „wenn sie von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten (approbier- ten) Arzte" vorgenommen wurde.

Deswegen ist aber die Liberalisie- rung der Abtreibung und die „Fri- stenlösung" ebensowenig eine so- zialdemokratische Erfindung, wie die Legalisierung der Euthanasie von den Nationalsozialisten ent- deckt wurde.

Die vielfältigen und schwierigen Rechtsfragen beim Schwanger- schaftsabbruch wie bei der Eutha- nasie verlangen geradezu nach ei- ner vergleichenden Betrachtung. In beiden Fällen geht es um Tötungs-

(2)

handlungen, bei der Abtreibung ge- genüber dem werdenden Leben, bei bestimmten Formen der sog.

Euthanasie gegenüber verlöschen- dem Leben. Ein Vergleich der Pro- blemlage bei zwei Varianten der Lebensvernichtung ist also allein aus rechtssystematischen Gründen naheliegend. Im übrigen wird man die affektive Geladenheit beider Themen auch dadurch nicht neutra- lisieren, daß man sie möglichst weit auseinanderzurücken versucht.

1. Legalisierung der Fruchtabtreibung:

Gesetze und Gesetzentwürfe Die strafrechtliche Beurteilung der Abtreibung hat sich in einer er- staunlich kurzen Frist weltweit ge- wandelt. Nachdem die Sowjetunion ab 1954, zum zweiten Mal in ih- rer Geschichte, den Schwanger- schaftsabbruch zumindest während der ersten drei Monate weitgehend in das Ermessen der Frau gestellt hatte, folgten die anderen Staaten des Ostblocks mit mehr oder weni- ger großzügigen und unterschied- lich praktizierten Indikationslösun- gen, darunter auch die DDR, die erst durch Gesetz vom 9. März 1972 die Entscheidung über die Ab- treibung innerhalb der ersten zwölf Wochen allein in das Ermessen der Frau stellt und lediglich verlangt, daß der Eingriff von einem Arzt in einer geburtshilflich-gynäkologi- schen Einrichtung durchgeführt wird.

In Dänemark trat am 1. Oktober 1973 ein Gesetz in Kraft, durch das im Sinne der Fristenlösung der Schwangerschaftsabbruch inner- halb der ersten drei Monate prak- tisch freigestellt wird. In den übri- gen skandinavischen Ländern gel- ten teils enger, teils weiter ausge- legte Indikationsregelungen. Nach

§ 97 des neuen StGB für Österreich vom 23. Januar 1974 (BGBl. 60) ist der Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt innerhalb der er- sten drei Monate nicht strafbar. In Frankreich, Belgien und in den Niederlanden stehen Gesetzent- würfe mit einer engeren oder wei- teren Indikationslösung zur Diskus-

sion. Großbritannien hat 1967 (Ab- ortion Act, 15 & 16 Eliz. 2, c. 87) eine Indikationsregelung unter starker Berücksichtigung sozialer Aspekte eingeführt. Die praktische Situation entspricht der einer Ab- treibung auf Wunsch. In den euro- päischen Mittelmeerländern (Itali- en, Spanien, Portugal und Grie- chenland) besteht nach wie vor ein striktes Abtreibungsverbot. Für die Schweiz ist das Problem zunächst Gegenstand lebhafter Diskussio- nen, schon im Hinblick auf die Si- tuation in den Nachbarländern. Ja- pan hat dagegen bereits seit 1949 aus wirtschaftlichen und bevöl- kerungspolitischen Gründen eine weitgehende Abtreibungsfreiheit.

Neuerdings wird eine einschrän- kende Indikationsregelung erwo- gen.

Die weitaus bedeutsamste Ent- scheidung innerhalb der letzten Jahrzehnte zum Fragenkomplex der Abtreibung findet sich in den beiden Urteilen des Supreme Court in Washington vom 22. Janu- ar 1973 (Supr. Court Report v. 15.

2. 73, Vol. 93, No. 8, p. 705 ff., St.

Paul/Minn.), allein schon wegen ih- rer Verbindlichkeit für das gesamte Territorium der USA. Der Supreme Court kommt zu einer in dieser Form überraschend perfekten Fri- stenlösung. Der Verlauf einer Schwangerschaft wird in drei Tri- mester eingeteilt. Während des er- sten Trimesters entscheidet allein die Frau mit dem von ihr konsul- tierten Arzt über den Schwanger- schaftsabbruch, im zweiten Trime- ster können gesetzliche Einschrän- kungen lediglich im Hinblick auf die Gesundheit der Mutter vorgese- hen werden, erst im dritten Trime- ster — bei extrauteriner Lebensfä- higkeit des Kindes — können ge- setzliche Maßnahmen zum Schutze des werdenden Lebens eingreifen, also etwa Schwangerschaftsab- bruch nur noch bei akuter Gefahr für Leben und Gesundheit der Mut- ter. Beide Urteile werden von der Feststellung getragen, daß es ein

„constitutional right to an abor- tion" für die Frau gibt. Dieses

„Grundrecht" will das Gericht aber nicht „absolut" verstanden wissen.

Der Bundestag entscheidet

Der Deutsche Bundestag hatte am 25. und 26. April 1974 über vier Ent- würfe für ein 5. Gesetz zur Reform des Strafrechts zu entscheiden. Mit diesem Gesetz wird eine Neurege- lung der strafrechtlichen Behand- lung des Schwangerschaftsab- bruchs angestrebt. Zwei der Ent- würfe stammen aus den Reihen der Koalitionsparteien, zwei wurden von der Opposition vorgelegt. Le- diglich der von den Fraktionsvorsit- zenden der SPD und der FDP un- terzeichnete Entwurf (BT-Drucks.

7/375 = KE-73.1) folgt dem soge- nannten Fristenmodell, d. h. prakti- sche Freigabe des Schwanger- schaftsabbruchs durch einen Arzt innerhalb der ersten drei Monate.

27 Abgeordnete der SPD-Fraktion haben den Regierungsentwurf aus der vorigen Legislaturperiode mit zwei geringfügigen Änderungen er- neut in den Bundestag eingebracht (BT-Drucks. 7/443). Es handelt sich um eine sogenannte Indikationslö- sung. Auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psych- iatrie und Nervenheilkunde vom 6.

April 1972 (Nervenarzt 43 [1972]

338) kann verwiesen werden. Die beiden Entwürfe der Opposition (BT-Drucks. 7/544 und 7/561) enthal- ten eine weitere und eine engere Indikationslösung. — Die Abstim- mung ergab mit 247 Stimmen eine knappe, aber keine absolute Mehr- heit für den Entwurf der Regie- rungskoalition zur Fristenlösung.

Das bedeutet einen ziemlich siche- ren Einspruch des Bundesrates, so daß der Ausgang der parlamentari- schen Behandlung des Gesetzes zur Zeit des Druckes dieser Zeilen noch offen ist.

Flankierende Maßnahmen

Von den grundsätzlichen Differen- zen über die ethische und rechtli- che Wertung des Eingriffs abgese- hen, besteht Übereinstimmung hin- sichtlich der Notwendigkeit „flan- kierender sozialpolitischer Maß- nahmen" als eigentlicher Kern ei- ner Reform in diesem Bereich. In einem mehr als ungewöhnlichen

1696 Heft 23 vom 6. Juni 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(3)

Verfahren hat der Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoali- tion am 21. März 1974 ein „Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum 5. StrRG" beschlossen. Danach ha- ben die Krankenkassen unter an- derem auch die Kosten für „legale Abtreibung" zu zahlen. Da die ir- gendwie medizinisch indizierte In- terruptio nach geltendem Recht schon lange zu den Pflichtleistun- gen der Kassen zählt, kann hier nur die nicht medizinisch indizierte Abtreibung im Rahmen einer Fri- stenlösung gemeint sein. Also ein legislativer Vorgriff, eine Vorent- scheidung zu der noch offenen Hauptfrage, mit der zugleich ein Verfassungskonflikt programmiert wurde (vgl. H. J. Sewering in DEUTSCHES ÄRZTEBLATT vom 11. April 1974 und G. Willms in FAZ v. 18. April 1974).

Der Nasciturus als Rechtsgut Unter Juristen, die sich dem Lega- litätsprinzip verpflichtet fühlen, ist die Schutzwürdigkeit und die Schutzbedürftigkeit des werdenden Lebens weithin übereinstimmend anerkannt. Die Begründung zu dem deutschen Regierungsentwurf 1972 spricht von „dem Grundsatz der Unantastbarkeit des werdenden Lebens, das bei aller Anerkennung seiner engen Verbindung zum Le- ben der Mutter einen eigenständi- gen, der freien Verfügung entzoge- nen Rechtswert darstellt ...". Im gleichen Satz wird dem Recht des ungeborenen Kindes die Men- schenwürde der Schwangeren so- wie ihr Recht auf freie Persönlich- keitsentfaltung gegenübergestellt.

Weder dem einen noch dem ande- ren Recht könne ein absoluter Vorrang eingeräumt werden. Bei der Neuregelung gehe es um Lö- sungen, „die den Wertentscheidun- gen der Verfassung Rechnung tra- gen". — Ganz ähnlich betont der Supreme Court der USA das Recht und die Pflicht des Staates, die

„potentiality of human life" einer- seits, das „right of privacy" der Schwangeren andererseits zu schützen.

Der Irrtum des Supreme Court Gegenüber dem Supreme Court ist zunächst einmal festzuhalten, daß die Kennzeichnung des Nasciturus als „potentiality of human life" bio- logisch falsch ist. Der Embryo ist mehr als eine potentiality of life, er ist menschliches Leben in der Ent- wicklung, die in rein somatischer Hinsicht erst im Laufe von etwa zwei Jahrzehnten abgeschlossen ist. Entwicklungsbiologisch gese- hen, ist der Unterschied zwischen dem Nasciturus der letzten Schwangerschaftswochen und dem Neugeborenen keineswegs so gra- vierend. Wir registrieren lediglich

Entwicklungsstadien ein und des- selben Lebewesens, und vom „Per- sönchen" bis zur Persönlichkeit ist noch ein weiter Weg.

Dem Noch-nicht-Geborenen wie dem Neugeborenen ist schließlich gemeinsam, daß sie ihr Recht auf Leben nicht selbständig vertreten können. Sie sind in völlig gleicher Weise auf den Schutz der Rechts- gemeinschaft angewiesen, sie ha- ben einen Rechtsanspruch. Kann man das Schutzbedürfnis und den daraus resultierenden Rechtsan- spruch bei ein und demselben Le- bewesen in einem oder einigen Stadien seiner natürlichen Ent- wicklung relativieren oder gar ne- gieren? Man kann, aus verschiede- nen Gründen der Praktikabilität oder der Opportunität, aber ohne auch nur ein biologisch oder juri- stisch überzeugendes Argument.

Der derzeitige Stand unseres Wissens über die Entwicklungs- biologie des Menschen, der vom Supreme Court der USA offensicht- lich verschätzt wird, hat so manche alten Vorstellungen vom Nasciturus als Rechtsgut korrigiert. Gibt man der Schwangeren zusammen mit oder ohne einen von ihr konsultier- ten Arzt das „constitutional right to an abortion", dann delegiert man die Entscheidung über den Le- benswert eines Lebewesens, das keine Möglichkeit zu eigener Stel- lungnahme hat. Die Delegation er- folgt „ohne Ansehen der Person", ohne Rücksicht auf intellektuelle

und charakterliche Kompetenz, weil ja — trotz kaum überschauba- rer biologischer Differenziertheit — gegenüber der Verfassung alle gleich sind.

Mit der Frage nach dem Lebens- wert und seiner Beurteilung stoßen wir auf ein erstes gemeinsames Problem von Interruptio und Eutha- nasie.

Konkurrenz von Grundrechten?

Wenn es zutrifft, daß „werdendes Leben grundsätzlich geborenem gleichzuachten" ist (KE-73.1), dann erhebt sich die Frage, ob das Grundrecht der Schwangeren auf freie Persönlichkeitsentfaltung, das amerikanische right of privacy, überhaupt in Konkurrenz zum Le- bensrecht des Nasciturus diskuta- bel ist. Niemand wird ernsthaft be- zweifeln können, daß Schwanger- schaft und Mutterpflichten die Ent- faltungsmöglichkeiten einer Frau beschränken. Neben der Ein- schränkung bedeutet aber die Mut- terschaft fraglos auch die Eröff- nung ganz neuer Dimensionen der Persönlichkeitsentfaltung. Die im übrigen unbestrittene Priorität des Grundrechts auf Leben gegenüber dem Grundrecht auf freie Persön- lichkeitsentfaltung wird jetzt ge- genüber dem werdenden Leben in Frage gestellt. Insoweit wird also werdendes Leben durchaus nicht geborenem Leben gleich geachtet.

In der Begründung des Entwurfs der Regierungskoalition (KE-73.1) lesen wir: „Wegen des untrennba- ren Zusammenhangs des werden- den Lebens mit dem der Mutter ist es gerechtfertigt und notwendig, die Verantwortung der Mutter mehr als bisher einzubeziehen und des- halb den strafrechtlichen Schutz für das werdende Leben anders zu gestalten als für das geborene".

Der Staat zieht sich also für drei oder mehr Monate aus seiner Ver- antwortung für das werdende Le- ben zurück und delegiert diese Verantwortung an die Mutter. Der Staat kann das, und nicht wenige Staaten haben es bereits getan, man darf aber dann nicht von der

(4)

„Unantastbarkeit des werdenden Lebens", von der „Gleichachtung des werdenden und des gebore- nen Lebens" sprechen, weil das schlichter Etikettenschwindel ist.

Durch Rücknahme der strafrechtli- chen Bestimmungen zum Schutze des werdenden Lebens überträgt der Staat seinen Bürgern, insbe- sondere den Frauen, ein viel grö- ßeres Maß an Verantwortung. Das dazugehörige Verantwortungsbe- wußtsein oder Verantwortungsge- fühl wird als zur naturgegebenen

„Grundausstattung" des mündigen Staatsbürgers gehörig vorausge- setzt. Die Strafdrohung und die da- mit verbundene moralische Verur- teilung hat als Appell an das Ver- antwortungsgefühl bei nur zu vie- len versagt. Jetzt zieht sich der Staat aus der Verantwortung zu- rück, das moralische Werturteil entfällt, die diskriminierende Be- zeichnung „Abtreibung" wird — wie die „Unzucht" aus dem Sexual- strafrecht — eliminiert, und es bleibt ein ärztlicher Eingriff als Pflichtleistung der Krankenkasse.

Sicher ein Fortschritt in Richtung Emanzipation, aber auch ein „Mehr an Lebensqualität"?

Fristen und Indikation

Die Unterscheidung zwischen Fri- stenlösungen und Indikationslösun- gen bei den gesetzgeberischen Be- mühungen einer Regelung für den Schwangerschaftsabbruch ist nur partiell zutreffend und verwirrend.

So manches Indikationsmodell ent- hält mehr Fristen als jedes Fristen- modell. Die Gesetzentwürfe, über die der Deutsche Bundestag zu entscheiden hatte, lassen die Schwangerschaft übereinstimmend mit dem Abschluß der Nidation des befruchteten Eies beginnen. Da die Nidation vom 8. bis 12., manchmal 13. Tag nach der Empfängnis zu erwarten ist, stoßen wir hier auf die erste große Unbekannte. Mit der im Einzelfall empirisch nicht begründ- baren Festlegung des Schwanger- schaftsbeginns auf den 14. Tag nach der Empfängnis kann der Ge- setzgeber diese Hürde übersprin- gen. Er kann auch die Problematik

einer Differenzierung des Beginns des Lebens mit der Empfängnis und des Beginns der Schwanger- schaft mit der Nidation ausblen- den.

Allzuviel ist damit allerdings nicht erreicht, da mit dem Konzeptions- termin die Berechnung aller übri- gen Fristen steht und fällt. Exakte Methoden zur Bestimmung des Konzeptions- wie des Nidationster- mins gibt es bekanntlich nicht. Wir sind also allein auf die Angaben der Schwangeren angewiesen. Wie wenig verläßlich sie auch bei be- stem Willen sein können, weiß je- der Frauenarzt zu berichten. Natür- lich werden diese Angaben bei vie- len Frauen immer fragwürdiger, wenn sie eine Abtreibung wün- schen. Die Bedeutung der Fristen und ihre mangelnde Objektivierbar- keit werden sich sehr bald herum- gesprochen haben.

Die Unbestimmbarkeit der Fristen belastet die Glaubwürdigkeit jeder gesetzlichen Regelung im Rahmen eines sogenannten Fristenmodells.

Wie will man begründen, daß der Schwangerschaftsabbruch bis zum 90. Tag ein legaler ärztlicher Ein- griff ist, am 91., 93. oder 95. Tag wird aber derselbe Eingriff mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht? Abgesehen davon, daß kein Mensch diese Tage präzisie- ren kann, bleibt unverständlich, wie innerhalb von Stunden aus einem legalen ein verbrecherischer Ein- griff wird. Der Wert oder die Quali- tät des embryonalen Lebens ändert sich jedenfalls so kurzfristig nicht.

Mit dem Fristenproblem begegnen wir einer weiteren Gemeinsamkeit bei den Bemühungen um eine rechtliche Regelung für den Abor- tus artificialis einerseits, für die Eu- thanasie im Sinne der Sterbehilfe andererseits.

Mehr Lebensqualität?

Eine gesetzliche Regelung für den Schwangerschaftsabbruch als Indi-

kationslösung ist nur dann weniger problematisch und praktikabler als eine Fristenlösung, wenn man sich

auf wenige und präzisierbare Indi- kationen beschränkt. Jeder Ver- such der Konstituierung einer wie auch immer definierten „sozialen Indikation" führt zu unlösbaren Schwierigkeiten. Zunächst bedarf das Vorliegen der Indikation der Feststellung durch wen? Ärzte und vor allem Psychiater bestreiten mit Recht ihre Kompetenz zu einer ver- bindlichen Aussage darüber, ob eine soziale Indikation gegeben ist oder nicht. Man muß also andere Stellen einschalten, über deren Kompetenz aber wiederum geteilte Meinungen bestehen. Bei der so- zialen Indikation geht es letzten Endes um das heute so gern zitier- te „Mehr an Lebensqualität". Man kann sich nur wundern, wie leicht dieser neudeutsche Polit-Slogan so vielen Zeitgenossen über die Lip- pen geht.

Beurteilen zu wollen, was dem ein- zelnen ein Mehr an Lebensqualität bedeutet, ist eine Anmaßung. Für die eine Frau mag es das Kind sein, für die andere der Zweitwa- gen. Kind oder Auto dürften aber eine rechtsstaatlich kaum vertret- bare Alternative sein. Das Urteil über die soziale Indikation ent- scheidet sich also in der Interpre- tation des right of privacy der Schwangeren. Betrachtet man es als gleichrangig mit dem Lebens- recht des Ungeborenen, dann er- übrigt sich die Diskussion über so- ziale und ähnliche Indikationen.

Medizinische Indikation

Eine gesetzliche Regelung des me- dizinisch indizierten Abbruchs der Schwangerschaft ist grundsätzlich nur zu begrüßen. Auch eine Erwei- terung der auf den organpathologi- schen Bereich beschränkten medi- zinischen Indikation im engeren Sinne durch Einbeziehung psycho- logischer und sozialer Gesichts- punkte erscheint wohlbegründet.

Es ist aber ebenso schwierig wie notwendig, eine solche Erweite- rung durch ein angemessenes Be- gutachtungsverfahren abzusichern.

— Die relativ wenigen Fälle einer genetischen oder embryopathi- schen Indikation kann man zu den

1698 Heft 23 vom 6. Juni 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(5)

medizinischen Indikationen rech- nen. Schwierig wird es bei den mehr oder weniger getarnten Ver- suchen einer Ausweitung der medi- zinischen Indikationen durch Rück- griff auf die Definition des Gesund- heitsbegriffes in der Präambel zu den Satzungen der Weltgesund- heitsorganisation (WHO). Gesund- heit wird hier als Optimum körper- lichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens für jedermann ver- standen, konzipiert als Idealnorm, realisiert im Rahmen der individu- ellen und sozialen Gegebenheiten und Möglichkeiten. Will man hier vom Wortlaut her argumentieren, dann können wir uns die Diskussion über Indikationen ersparen. Eine Schwangerschaft ist sicher für die meisten Frauen eine Beeinträchti- gung des denkbaren Optimums

ihres körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. — Grund- sätzlich gilt es zu beachten: Je weiter wir bei der Indikation über den organpathologischen Bereich hinausgehen, um so fragwürdiger wird jede diagnostische und pro- gnostische Aussage.

Über die ethische, kriminologische oder Vergewaltigungs-Indikation herrscht heute eine viel weiterge- hende Übereinstimmung als noch vor zehn Jahren, aber nur im Grundsätzlichen. Das entscheiden- de Problem, wie nämlich die Ver- gewaltigung nachgewiesen werden soll, wird immer wieder verdrängt.

Der „klare Fall" ist hier doch die Ausnahme. Für ein rechtlich ver- tretbares Beweisverfahren in Zwei- felsfällen fehlt aber ganz einfach die Zeit. Bei einer gesetzlichen Re- gelung nach dem Indikationsmo- dell, die den Beginn der Schwan- gerschaft auf den 14. Tag nach der Empfängnis festlegt, ist das Be- dürfnis einer Einbeziehung der Vergewaltigungs-Indikation zumin- dest fragwürdig geworden.

Selbstbestimmung

als konkurrierendes Grundrecht Die zwar unbekannte, aber sicher große Zahl illegaler Abtreibungen ist der eigentliche Grund aller Be- mühungen um eine Erweiterung

der legalen Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch. Ob die mehr oder weniger weitgehende Legalisierung das geeignete Mittel zur Reduzierung der Gesamtzahl von Abtreibungen und zur Hebung des Verantwortungsbewußtseins für das werdende Leben ist, wird mit guten Gründen bezweifelt. In der jüngsten Diskussion ist bemer- kenswert, daß die Vertreter einer mehr oder weniger weitgehenden Liberalisierung vorwiegend auf derselben Ebene wie vor 50 Jahren argumentieren. Die grundlegende Veränderung der Problemstellung durch die heutigen Möglichkeiten der Konzeptionsverhütung wird weitgehend ausgeblendet. Der mündigen Staatsbürgerin konze- diert man ein unmündiges Verhal- ten, einen „affektiven Ausnahmezu- stand" mit wenigstens verminder- ter Zurechnungsfähigkeit zur Zeit der Konzeption. Im Falle uner- wünschter Folgen des „unüberleg- ten" Verhaltens soll das — zeitwei- se suspendierte — Selbstbestim- mungsrecht die Möglichkeit der Korrektur durch Beseitigung eben dieser Folgen begründen. Bemüht man sich einmal im Einzelfall um einen Vergleich der Einwilligungs- fähigkeit — und damit der Ent- scheidungsfreiheit — einer Frau zur Zeit der Konzeption und zur Zeit der Entscheidung über Austra- gung und Abtreibung, so kann von einem „selbständigen Entschluß"

nur zu oft keine Rede sein. Nicht verwunderlich, wenn es um eine so ungewohnte und emotional bela- stende Entscheidung wie bei der Abtreibung geht. — Womit wir wie- der vor einem der Interruptio und der Euthanasie gemeinsamen Pro- blem, der Freiwilligkeit, stehen.

Wie die oben zitierte Gesetzge- bung in verschiedenen Staaten be- weist, kann man einen solchen Ent- scheidungskonflikt neutralisieren.

Vielleicht wird sich ein derartiges Vorgehen sogar als partiell

„zweckentsprechend" erweisen.

Damit wäre aber noch gar nichts an der abgrundtiefen Fragwürdig- keit jeder Regelung dieser Art ge- ändert, weder in biologischer noch in juristischer Sicht. Alle „libera-

len" Gesetze und Gesetzentwürfe sind in vielen Detailbestimmungen so verschwommen, unbegrenzt in- terpretationsfähig und leicht um- gehbar, daß sie in der Praxis kaum zu Komplikationen führen. — In ge- nau derselben Situation befinden wir uns bei dem Versuch einer ge- setzlichen Regelung im Bereich der sogenannten Euthanasie.

2. Euthanasie und Vernichtung

„lesensunwerten" Lebens Pearl S. Buck hat als Mutter eines

„Kindes, das niemals wuchs", viel über unser Problem nachgedacht und meint: „Euthanasie ist ein schönes, sanft klingendes Wort; es verbirgt seine Gefahr wie alle sanft klingenden Worte, aber die Gefahr ist nichtsdestoweniger da."

Die Schwierigkeiten mit dem Be- griff Euthanasie — das sanft klin- gende, aber vieldeutige Wort — sind historisch und sachlich be- gründet. Leider sind sie auch im- mer wieder Anlaß für tendenziösen Mißbrauch in der einen oder ande- ren Richtung gewesen. Zunächst erscheint es notwendig, an der grundsätzlichen Unterscheidung im Titel dieses Abschnittes zwischen Euthanasie im Sinne von Sterbehil- fe und Vernichtung „lebensunwer- ten" Lebens festzuhalten. Auch in dem oft zitierten Fall einer schwer- sten Hirnmißbildung, die als „gei- stigtot" oder auch als „seelenlos"

charakterisiert wird, bleibt es ein grundsätzlicher Unterschied, ob ein Arzt durch Verzicht auf „künst- liche" Lebensverlängerung Sterbe- hilfe leistet oder ob er dieses We- sen als lebensunwert „beseitigt"

bzw. „vernichtet".

Im Bereich der eigentlichen Ster- behilfe genügt es nicht, zwischen aktivem und passivem Verhalten zu differenzieren. In der juristischen wie in der moraltheologischen Dis- kussion ist die Lebensverkürzung das entscheidende Kriterium für alle Maßnahmen der Sterbehilfe.

Aufgrund der ärztlichen Erfahrun- gen muß aber gesagt werden, daß hier jedem Versuch einer logi- schen oder rechtlichen Normie-

(6)

rung und Typisierung enge Gren- zen gezogen sind. Das Verhältnis von Arzt und Patient, ganz beson- ders im Sterbezimmer, ist zu kom- pliziert, zu persönlich, um es in ein moralisches oder rechtliches Be- griffsgitter einzufangen. So ist auch der folgende Versuch eines Ord- nungsschemas zu verstehen.

~ A. Euthanasie Im Sinne von Sterbe- hilfe

Gemeinsames Merkmal: Es handelt sich immer um Sterbende, das heißt um Menschen, bei denen nach menschlichem Ermessen der baldige Tod unabwendbar er- scheint, aber kaum einmal auf den Tag oder die Stunde vorausbere- chenbar ist. Die Gewissensent- scheidung des Arztes im konkreten Einzelfall und der sie auslösende - oft sehr komplexe - Sachver- halt entziehen sich weitgehend der Einordnung in moralische und rechUiche Kategorien.

a) Sterbehilfe ohne Lebensverkür- zung,

"reinste" Form der Euthanasie und

selbstverständliche Pflicht des Arz- tes, die ethisch und rechtlich un- problematisch ist.

b) Sterbehilfe durch Sterbenlas- sen,

Verzicht auf eine vielleicht mögli- che, kurzfristige Lebensverlänge- rung; passive Euthanasie.

Rechtliche Problematik: Unterlas- sene Hilfeleistung, Tötung durch Unterlassen (§§ 330 c, 212 ff. StGB).

c) Sterbehilfe mit Lebensverkür- zung als Nebenwirkung,

die - unabhängig von der Inten- tion - mehr oder weniger er- wünscht und mehr oder weniger unvermeidlich sein kann. Auch

"reine" oder "indirekte" Euthana- sie genannt.

Moraltheologisch: actio duplicis ef- fectus. Rechtliche Beurteilung um- stritten.

d) Sterbehilfe mit gezielter Le- bensverkürzung,

auch "direkte" Euthanasie ge- nannt, vom Arzt aktiv oder passiv (durch Unterlassen) bewirkt, vom entscheidungsfähigen Sterbenden

ausdrücklich oder stillschweigend gewollt oder ungewollt, am ent- scheidungsunfähigen Sterbenden mit oder ohne Einwilligung von An- gehörigen durchgeführt.

Rechtlich: Beihilfe zur Selbsttötung (straflos). - Tötung aus Mitleid oder anderen schuldmindernden Beweggründen und Tötung auf Verlangen (§§ 213, 216 StGB).

..,.. B. Vernichtung "lebensunwerten"

Lebens

Gemeinsames Merkmal: Es handelt sich nicht um Sterbende, wenn auch die Lebenserwartung mehr oder weniger begrenzt sein kann.

Da es nicht um Sterbehilfe geht, sind Begriffe wie "Euthanasie im weiteren Sinn" oder "begrenzte Euthanasie" irreführend.

Drei Gruppen:

[> Kinder mit zerebralen Mißbil-

dungen ("Monstren") und Idioten,

[> "unheilbar" Geisteskranke (De-

fekt- Psychosen, schwere hirnorga- nische Defekte nach Verletzung oder im Alter),

[> rassisch, politisch oder ökono-

misch "unerwünschtes" und damit

"unwertes" Ceben.

~ C. "Künstliche" Lebensverlängerung Ein Sonderproblem - auch im Verhältnis zu der unter A. - b) er- wähnten "Sterbehilfe durch Ster- benlassen" - und eine gleichsam

"negative" Form von Euthanasie ist

die "künstliche" Lebens- und Lei-

densverlängerung. Gemeint sind solche Patienten, bei denen der natürliche Tod nur durch einen be- sonderen technischen Aufwand hinausgeschoben wird, obwohl kei- ne Aussicht auf Heilung besteht oder schwerste Defekte und stän- diges Siechtum "bestenfalls" zu er- warten sind.

Sterbehilfe und Lebensverkürzung Euthanasie im Sinne von Sterbehil- fe ist ein durchaus legitimes ärztli- ches Anliegen. Die Linderung von Schmerzen, Atemnot und sonstiger Bedrängnis eines mit dem Tode

1700 Heft23vom6.Juni1974 DEUTSCHESARZTEBLA'IT

ringenden Menschen ist selbstver- ständliche ärztliche Pflicht, auch wenn das Handeln des Arztes nicht mehr von dem Gedanken an die Erhaltung des Lebens bestimmt wird. Ethisch wie rechtlich unpro- blematisch sind aber nur solche Maßnahmen der Sterbehilfe, die weder das Bewußtsein noch die Lebensdauer des Sterbenden be- einträchtigen. Dieser "unkompli- zierte Idealfall" ist für den Arzt in der Praxis nicht so interessant, weil er keine ihn vielleicht bela- stende Gewissensentscheidung ver- langt. Jeder Arzt weiß aber, daß zum Beispiel Art und Dosierung von Medikamenten zur Linderung höhergradiger und längerdauern- der Schmerzen das Bewußtsein und die Lebensdauer eines Ster- benden in einer individuell und si- tuativ ganz unterschiedlichen - meist nur vage oder gar nicht vor- hersahbaren - Weise beeinflussen können.

Während der unvermeidliche Dop- peleffekt von Schmerzlinderung und Bewußtseinstrübung heute auch in der Moraltheologie akzep- tiert wird, scheiden sich die Gei- ster bei der Frage nach der mögli- chen Lebensverkürzung. Sie kann eine unerwünschte, manchmal nicht erwartete, manchmal mit ei- ner gewissen Wahrscheinlichkeit voraussahbare Nebenwirkung der ärztlichen Hilfsmaßnahmen sein.

Auch bei diesem relativ klaren Sachverhalt sind die Juristen ge- teilter Meinung. Die theoretische Relevanz der in diesem Zusam- menhang angestellten juristischen Überlegungen soll nicht bestritten werden. Sie bewegen sich aber in einer ziemlichen Distanz von der konkreten Situation in einem Ster- bezimmer. Nur zu oft fehlt es an überzeugenden Kriterien für die Un- terscheidung zwischen einer Ster- behilfe ohne und einer solchen mit Lebensverkürzung. Hier werden die Grenzen einer nur justizförmigen Betrachtungsweise ärztlichen Han- deins deutlich.

Die Zeitfrage, die Frist, spielt bei jeder rechtlichen Betrachtung der Sterbehilfe eine nicht weniger du-

(7)

biöse Rolle als beim Schwanger- schaftsabbruch. Wann das Leben natürlicherweise verlischt, vermag auch der mit dem Gesundheitszu- stand seines Patienten gut vertrau- te Arzt nicht auf den Tag oder gar die Stunde vorauszusagen. Erhält der Patient Medikamente für Kreis- lauf und Atmung oder gegen Schmerzen, so kann sich dadurch der Eintritt des Todes verschieben, ohne deswegen zeitlich genauer bestimmbar zu werden. Die Aus- nahmefälle, in denen die heutigen Reanimationsmöglichkeiten mit ih- rer ganzen technischen Perfektion zum Einsatz kommen, können hier außer _Betracht bleiben, zumal sie die Problematik nur komplizieren und verschärfen. Generell und grundsätzlich ist festzustellen: Für die Interruptio wie für die Euthana- sie gibt es in den rechtlich wichti- gen Zeitabschnitten keine objekti- ven Beweismöglichkeiten, die eine einigermaßen präzise Terminierung von Anfang und Ende des Lebens erlauben.

Tötung auf Verlangen

Die Tötung auf Wunsch oder mit Einwilligung aus irgendwelchen altruistischen Motiven ist — auch psychologisch gesehen — sicher etwas anderes als die sonst be- kannten Tötungstatbestände des Strafrechts. Ein Vergleich der Strafandrohung für dieses Delikt im Kriminalrecht verschiedener Staa- ten zeigt erstaunliche Divergenzen.

Sie reichen von der — zumindest theoretischen — Möglichkeit der Straflosigkeit, z. B. nach dem 1965 in Kraft getretenen schwedischen StGB, oder einer Mindeststrafe von drei Tagen Gefängnis nach Art. 36, 114 des schweizerischen StGB bis zu einer Gefängnisstrafe von min- destens sechs Jahren nach Art. 579 des italienischen StGB. Diese be- trächtlichen Unterschiede in der Beurteilung der Strafwürdigkeit spiegeln lediglich die Unsicherheit gegenüber einem ärztlichen Ver- halten, das sich in seiner persönli- chen und situativen Einmaligkeit kaum adäquat erfassen läßt. Nach international weitgehend überein- stimmender juristischer Lehre und

Praxis sind aber die richtige Er- kenntnis der Unmöglichkeit wirksa- mer Hilfe im Hinblick auf das Grundleiden oder die akute Todes- not, das noch so begründete Mit- leid oder der ausdrückliche Wunsch des entscheidungsfähigen Sterben- den keine Rechtfertigung für lebensverkürzende Maßnahmen durch den Arzt.

Das ist die Ausgangsposition aller Bemühungen um eine gesetzliche Regelung mit einer mehr oder we- niger weitgehenden Freigabe von lebensverkürzenden Maßnahmen der Sterbehilfe. Nach verschiede- nen, aber resonanzlos gebliebenen Ansätzen führten erst die präzisen Vorschläge von Binding und Hoche kurz nach dem 1. Weltkrieg zu ei- ner breiten und lebhaften Diskus- sion. Binding hatte ein ordnungs- gemäßes Verfahren mit Antragstel- lung, Einwilligungserklärung — so- weit möglich —, Entscheidung durch eine gemischte Kommission usw. vorgesehen. Diese Vorschläge wurden von keinem der seinerzeit maßgeblichen Lehrbücher weder im Strafrecht noch in der Psychia- trie übernommen. Sie konnten sich auch in den Arbeiten zur Straf- rechtsreform weder vor noch nach 1933 durchsetzen.

Angloamerikanische Initiativen

Etwa ein Jahrzehnt später entwik- kelte sich zunächst in England und bald auch in den USA eine starke Bewegung mit dem Ziel einer Le- galisierung des mercykilling. 1932 wurde in England und 1938 in den USA eine Euthanasia-Society ge- gründet. Die Engländer bereiteten einen Gesetzentwurf vor, der 1936 dem House of Lords vorgelegt wur- de. Der Entwurf sah ein ziemlich umständliches Verfahren vor und wurde mit 35 gegen 14 Stimmen abgelehnt. Viele der Peers waren der Meinung, durch das vorge- schlagene Verfahren mit einer Fül- le juristischer Formalitäten würde die Ruhe des Sterbezimmers zu sehr gestört. — Auch in den USA haben sich die Parlamente ver- schiedener Staaten mit entspre-

chenden Gesetzentwürfen, wenn auch ohne Ergebnis, befaßt. 1952 organisierte man eine Petition an die Vereinten Nationen mit 2513 Unterschriften von zum Teil promi- nenten Persönlichkeiten aus den verschiedensten Lebens- und Wis- sensbereichen in den USA und in England. Die Petition verlangt eine Ergänzung der „Erklärung der Menschenrechte" durch Aufnahme des „Rechtes unheilbar Leidender auf freiwillige Euthanasie", bisher aber ohne Erfolg.

Vergleicht man die deutschen Be- strebungen für eine Legalisierung der Euthanasie nach dem 1. Welt- krieg mit den später einsetzenden Bemühungen in England und in den USA, so fällt vor allem auf, daß bei uns — entsprechend den Vor- schlägen von Binding und Hoche

— immer auch „geistigtote" Kinder bzw. Mißgeburten und „hoffnungs- los" geisteskranke Erwachsene in diese Überlegungen einbezogen wurden. Das Programm der Eutha- nasia-Society in England hat sich demgegenüber von Anfang an und bisher unverändert auf die „Sterbe- hilfe mit gezielter Lebensverkür- zung" im rechtlichen Sinne einer

„Tötung auf Verlangen" be- schränkt und konzentriert. Das ur- sprüngliche Programm der Eutha- nasia-Society of America hatte auch das Problem der unfreiwilli- gen Euthanasie durch Einbezie- hung der „hopelessly defective in- fants" aufgegriffen (Williams). Man ist aber offenbar schon bald auf die in England verfolgte Linie ein- geschwenkt, wahrscheinlich in der zutreffenden Erkenntnis der viel größeren rechtlichen Schwierigkei- ten einer Sanktionierung der un- freiwilligen Euthanasie, die man sinngemäß auch auf „hoffnungslos defekte" Alterskranke und Geistes- kranke ausdehnen müßte.

Erst jüngst kam es wieder zu ei- ner weltweiten Diskussion unseres Themas im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen die holländi- sche Ärztin Dr. Postma van Boven.

Sie hatte ihre 78jährige und schwer leidende Mutter, dem wiederholten Wunsch entsprechend, durch eine

(8)

Überdosis Morphin getötet. Nach holländischem Recht sicher kein legitimes Verhalten, das aber von breiten Kreisen der Bevölkerung demonstrativ gebilligt wurde. Der holländische Gesundheitsdienst hat nunmehr neue Richtlinien vor- geschlagen, die von der Königli- chen Gesellschaft zur Förderung der medizinischen Wissenschaften bestätigt wurden, Danach sollen bestimmte Maßnahmen der Eutha- nasie bei unheilbaren Kranken, wenn der Sterbeprozeß begonnen hat und der Tod in absehbarer Zeit zu erwarten ist, gestattet sein (Me- dical Tribune v. 6. Juli 1973).

Grenzen der Gesetzgebung Eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen Vorschläge zu einer gesetzlichen Regelung für die freiwillige Euthanasie zeigt ein- drucksvoll die Fragwürdigkeit und die Grenzen einer solchen Gesetz- gebung. Da ist zunächst das Pro- blem der Diagnose und der Pro- gnose, ganz ähnlich wie bei den Indikationen zum Schwanger- schaftsabbruch. Ob und wann eine Krankheit „unheilbar", „hoffnungs- los" ist, ob und wann sie zum Tode führen wird, läßt sich nun einmal sehr viel schwerer feststellen, als der Laie zu vermuten geneigt ist.

Unerträgliche Schmerzen können bei den heutigen Möglichkeiten der Schmerzbekämpfung in der Regel kein Grund für aktive Euthanasie sein.

Bei den schwersten und scheinbar eindeutigen Krankheitsbildern sieht sich der Arzt mit dem Problem der Freiwilligkeit konfrontiert. Er weiß nur zu gut, daß es erstaunlich we- nig Menschen gibt, die im vollen Bewußtsein der Tragweite ihrer Entscheidung hier und jetzt getötet werden wollen. Frühere Willenser-

klärungen, in juristisch noch so einwandfreier Form, können dabei nicht maßgebend sein. Wenn es

„ernst" wird, denken nun einmal viele Menschen ganz anders als in gesunden Tagen. Das ist ei- ne schlichte Erfahrungstatsache.

Selbstverständlich gibt es Persön- lichkeiten, die zu ihrer früher und

nach reiflicher Überlegung getrof- fenen Entscheidung stehen, die au- ßerdem das Glück haben, im kriti- schen Moment über ihre volle Ein- willigungsfähigkeit zu verfügen.

Aber kann man solche Ausnahmen zur Grundlage einer allgemeinver- bindlichen, einer gesetzlichen Re- gelung machen? Kann der Arzt eine solche Regelung sich wün- schen?

Mit Interesse muß man jetzt einer künftigen Entscheidung des Supre- me Court der USA zur Frage der Rechtmäßigkeit der freiwilligen Eu- thanasie entgegensehen. Wenn es wirklich ein constitutional right to an abortion gibt, dann wird man ein solches Recht auf freiwillige Euthanasie kaum bestreiten kön- nen; im Gegenteil, es läßt sich bes- ser begründen, weil man wenig- stens theoretisch von der Einwilli- gungsfähigkeit des eigentlich Be- troffenen ausgehen kann.

Lebenswert und Lebensqualität Ein Mensch, der sich mit Suizidge- danken trägt, zweifelt offensichtlich an dem Sinn und Wert seines Le- bens, ganz gleich aus welchen Gründen. Lohnt sich das Weiterma- chen, kann mir dieses Leben noch etwas bieten, geht es mit der Qua- lität dieses Lebens weiter bergab, oder kann ich noch auf ein Mehr an Lebensqualität hoffen? Solche und ähnliche Fragen stellt der Sui- zidkandidat sich selbst und manch- mal auch anderen Menschen. Die Fragen können ohne jeden realen Hintergrund lediglich Ausdruck ei- ner depressiven Erkrankung sein, sie können aber auch eine bedrük- kende, ja unerträglich erscheinen- de Wirklichkeit reflektieren. Die Bereitschaft zur Selbsttötung kann also sehr wohl begründet sein. Vie- len Menschen fehlt dazu die Kraft und Entschlossenheit, manche möchten das Vorhaben selbst und wenigstens einen Teil der Verant- wortung an einen Arzt delegieren.

Es entspricht alter Erfahrung, daß viele Menschen gerade in ihrer Hilf- losigkeit ausdrücklich oder still- schweigend erwarten, daß ihnen der Arzt so schwerwiegende Ent-

scheidungen abnimmt. Eben da- durch wird eine Legalisierung der Sterbehilfe mit Lebensverkürzung für das Vertrauensverhältnis zwi- schen Arzt und Patient so proble- matisch. Kann man Patienten mit mehr oder weniger deutlicher Ent- scheidungsunfähigkeit einfach aus einer solchen Regelung ausklam- mern? Sie spielen in der ärztlichen Praxis die größere Rolle, sie appel- lieren in noch höherem Grade an unser menschliches Mitgefühl, sie sind ihrem Arzt „ausgeliefert", der für sie und in ihrem Sinn — den er meist nicht genau kennt — handeln soll. Damit stehen wir schon mitten in der Problematik einer sogenann- ten Vernichtung lebensunwerten Lebens.

Fragen wir uns, wann man sinnge- mäß oder wörtlich von „lebensun- wertem" Leben überall und schon immer gesprochen hat und noch heute spricht, so stoßen wir auf die Mißgeburten und die vollidioti- schen Kinder, die auch als „gei- stigtot" bezeichnet werden. Hier sind es immer „die anderen", die der Existenz dieser Wesen einen eigentlichen Lebenswert abspre- chen, weil die „Geistigtoten" selbst zu einer solchen Frage keinerlei Stellung nehmen können. Die Ver- neinung des Lebenswertes auch bei rein körperlichen Mißbildungen ist für unsere Zeit ein Novum, das 1962 in dem Lütticher Prozeß ge- gen das Ehepaar van de Putt erst- mals und ziemlich überraschend auftauchte (cf. J. Graven). Es ging um die Tötung eines geistig norma- len, aber ohne Arme geborenen Kindes, also um eine Hemmungs- mißbildung nach Thalidomid-Ein- nahme der Mutter während der Gravidität. Dagegen gehören die

„unheilbar" Geisteskranken, die Defekt-Psychosen und die hirnor- ganischen Defekte zu dem „tradi- tionellen" Personenkreis, bei dem der Lebenswert in Frage gestellt wurde und wird.

Diagnose „lebenswert"?

Das Urteil über den Lebenswert in den genannten Fällen und Gruppen stützt sich zunächst einmal auf DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 23 vom 6.Juni 1974 1703

(9)

verbreitete, aber kaum oder gar nicht präzisierbare Vorstellungen von der Erlebnisfähigkeit eines In- dividuums, gleichsam als Voraus- setzung zur Führung eines irgend- wie lebenswerten Lebens. Man könnte von einem psychologischen oder psychopathologischen Krite- rium sprechen, das seiner Eigenart nach stets individuell bezogen ist.

Eine ganz andere Überlegung kommt aber ins Spiel, wenn man den Lebenswert eines Individuums nach seinem Nutzen für die Ge- meinschaft oder umgekehrt seinen Lebensunwert nach dem Kosten- aufwand für seine Erhaltung beur- teilt. Von diesem ökonomischen Argument ist es dann nur noch ein Schritt zu anderen „Gemein- schaftsidealen" als Maßstab für die Beurteilung des Lebenswertes:

Volksgesundheit, Rassereinheit, Herrenmenschentum, Elitezüchtung usw. So ist es zu verstehen, daß in der nationalsozialistischen Ideolo- gie, vor allem während des Krie- ges, die rassische, ökonomische und politische „Erwünschtheit"

zum entscheidenden Kriterium des Lebenswertes wurde. Rassisch, po- litisch oder ökonomisch „uner- wünschtes" Leben war zugleich

„unwertes" Leben und konnte oder mußte gegebenenfalls 'im Interesse

„höherer" Ideale und Zwec.ke ge- opfert werden.

Durch die Identifizierung von „Eu- thanasie" mit „nazistischen Greu- eltaten" — so naheliegend und verständlich sie sein mag — ver- baut man sich den Weg zu einer grundsätzlichen Klärung. Stellen wir die prinzipielle Ablehnung aus der Sicht einer christlichen Ethik einmal zurück und fragen, was sonst gegen die Legalisierung ei- ner „begrenzten Vernichtung le- bensunwerten Lebens" spricht. Da- bei kann man von den Vorschlägen von Binding-Hoche oder neuer- dings von Catel ausgehen.

Theoretisch könnte eine am Legali- tätsprinzip orientierte Staatsord- nung eine ausreichende Garan- tie gegen die Entartung und den Mißbrauch eines solchen Gesetzes

bis zur Vernichtung rassisch, poli- tisch oder ökonomisch „uner- wünschten" Lebens bieten. Ein noch so rechtsstaatliches Verfah- ren könnte aber nicht die Fragwür- digkeit der „Selektion", die Proble- matik des Urteils über den Lebens- wert im Einzelfall beseitigen. Die alten wie die neuen Vertreter einer

„begrenzten Euthanasie" sind sich einig in dem entscheidenden Feh- ler, daß sie den Lebenswert als ei- nen empirisch-wissenschaftlich ab- grenzbaren Sachverhalt betrach- ten. Demgegenüber muß festge- stellt werden, daß der Lebenswert eines Menschen immer nur partiell zum Gegenstand einer medizini- schen Diagnose und Prognose ge- macht werden kann, weil er weit- gehend außerhalb der Erkenntnis- ebene aller Erfahrungswissenschaf- ten liegt. Das bedeutet für den Arzt, daß er mit seinem Gesamtur- teil über den Lebenswert stets die Kompetenzgrenze überschreitet, die ihm in erster Linie durch sein faktisches Wissen gezogen ist. Er sollte die Problematik derartiger Grenzüberschreitungen sehen und sich vor ihnen hüten.

Für die Praxis der Gesetzesanwen- dung sind nicht die scheinbar kla- ren Extremfälle entscheidend, son- dern die gerade in unserem Be- reich viel zahlreicheren „Grenzfäl- le". Die kann man eben nicht von vornherein ausschalten, wenn ein Gesetz auf breiter Basis durchge- führt werden soll. Wenn es um Le- ben oder Tod geht, kann ein Rechtsstaat keine „Unsicherheit in Grenzfällen" in Kauf nehmen. Das kann nur ein Machtstaat, in dem das Persönlichkeitsrecht hinter ir- gendwelchen „Gemeinschaftsidea- len" zurückzutreten hat.

Der „Tötungshelfer"

Unterstellt man einmal die Mög- lichkeit einer vertretbaren „Selek- tion" von Fällen „unwerten Le- bens" als gegeben und gesetzlich geregelt, dann stellt sich die uner- bittliche Frage, wer hier eigentlich als „Tötungshelfer" fungieren soll.

Viele Ärzte, auch solche, die sich religiös keineswegs besonders ge-

bunden fühlen, lehnen eine derarti- ge Tötung grundsätzlich ab. Die wiederholte oder gar regelmäßige Durchführung dieser „Vernichtun- gen" wäre eine unverantwortliche Zumutung. Bei Ärzten, die sich dazu bereit erklären, stellt sich al- len Ernstes die Frage ihrer Be- rufseignung, ihrer charakterlichen Qualifikation.

Damit sind wir wieder bei einem der Abtreibung und der Euthanasie gemeinsamen Problem. Nicht zufäl- lig lehnen so viele Frauenärzte die Freigabe der Abtreibung ab. Ist die Tötung eines Säuglings mit einer schweren Hirnmißbildung so viel verwerflicher als die Tötung eines Embryos, aus dem aller Wahr- scheinlichkeit nach ein gesunder Erwachsener wird? Wie groß ist ei- gentlich der Unterschied zwischen dem heute so verachteten „ge- werbsmäßigen Abtreiber" und dem

„legalen Abtreiber", wenn auch letzterer nicht gar so schlecht da- für bezahlt wird? Wer wiederholt oder regelmäßig „unwertes" Leben tötet, kann in seinem Charakter da- von ebensowenig unberührt blei- ben wie der Frauenarzt, für den die Abtreibung zur täglichen Routine gehört. Bei jeder Lockerung eines Tötungsverbotes wird der „Töter"

zum psychologischen, sozialethi- schen und sozialpädagogischen Problem.

Tötungsverbot und Staat

Wenn alle zivilisierten Staaten ge- genüber jeder Lockerung des Tö- tungsverbotes, jeder Relativierung des gemeinschaftsnotwendigen Le- bensschutzes so zurückhaltend waren, so hatte das seine guten, nicht nur religiösen Gründe. Des- wegen bemüht man sich auch so

krampfhaft, die gesetzliche Libera- lisierung der Abtreibung nicht als ein Weniger, sondern als ein Mehr an Schutz für das werdende Leben zu deklarieren. Eine Argumenta- tion, die in ihrer Dürftigkeit kaum von Bestand sein wird. Der Staat macht es sich bequem. Er delegiert seine Verantwortung an den Arzt, die Schwangere, den Sterbenden.

Wie bei der antiautoritären Erzie-

(10)

Das 7. Internationale Krankenhaus- Symposium, für dessen Durchfüh- rung im Düsseldorfer Messegelän- de das Deutsche Krankenhausinsti- tut (DKI) verantwortlich zeichnete, begann mit einem Paukenschlag:

Professor Dr. 'med. Horst Baier, Or- dinarius für Soziologie und Philo- sophie an der Frankfurter Univer- sität, konfrontierte die rund 800 Hospitalfachleute in seinem mit Spannung erwarteten Festvortrag über „Krankheit und soziale Si- cherheit — aus der Sicht des Arz- tes und des Patienten" mit einer Reihe provozierender Thesen, in einer Weise, wie er sie erst kürz- lich anläßlich der Bundestagung 1974 des Berufsverbandes der Praktischen Ärzte und Ärzte für All- gemeinmedizin (BPA) in Konstanz in leicht variierter Form wiederholte.

Der Soziologe stellte fest: „Die Menschen der Industriegesell- schaft wollen nicht mehr Mündig- keit, sondern soziale Sicherungen.

Die Mündigkeits- und Mitbestim- mungsparolen haben die ideologi- sche Funktion, die Machtkämpfe zwischen den Interessengruppen in Sozialstaat und gesellschaftlichen Großverbänden und ihre An- spruchskämpfe um Versorgungs- klientelen in der existenzverunsi- cherten Bevölkerung zu verdek- ken." Baier begründete seine The- se so: „Mündigkeit, genauer: Mitbe- stimmung und Mittätigkeit in den politischen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Großbereichen wirkt allein als Reizformel für Men- schen, die Mittel suchen, um sich die Selbstverfügung über ihren Le- bensraum zu bewahren oder sie wieder zu erreichen." Und aus der Sicht des Soziologen geißelte Bai- er den sich unbändig ausbreiten-

den Sozial- und Wohlfahrtsstaat westlicher Prägung samt seiner machtvollen Interessenverbände.

Die Rolle der Einzelperson sieht er darin so:

„Statt mehr konkreter Freiheiten erhalten wir nur Chancen, in den unerhört komplizierten Verrech- nungsverfahren der Abstimmungen irgendeinen Stellenwert hinter dem Komma um ein geringes nach un- ten oder oben zu verschieben; statt konkreter Sicherungen unserer Le- bensumstände geraten wir in die Abhängigkeit von denen, die unse- re Lebensläufe mit ihren erwartba- ren, weil durchschnittlichen Zu- stimmungs- oder Ablehnungspo- tentialen in ihrem Machtkalkül ver- rechnen ... Daseinsfürsorge und Daseinsvorsorge werden zu den Leistungen der staatlichen und ge- sellschaftlichen Mächte, wofür wir sie im täglichen Plebiszit ihrer still- schweigenden Hinnahme oder im periodischen Plebiszit der Abstim- mungen über ihre Angebotsalterna- tiven sozialer Sicherung bestätigen und legitimieren müssen."

Die ungezügelte Macht der Interessengroßverbände Die Diagnose des Soziologen und Mediziners zum Sonzialstaat und den darin agierenden gesellschaft- lichen Großverbänden: „Uns wird nicht nur vom Staat, sondern auch von den Interessengroßverbänden

— die sich wiederum jedem gegen- über je nach Machtlage konkurrie- rend, pressiv oder parasitär verhal- ten — als Wirtschafts- und Arbeits- bürger, als Bildungs- und Kulturbe- flissener, als Auto- oder Nahver- kehrsmittelbenützer emphatisch ei- ne Mündigkeit angedient, nach der hung: Die Kinder machen was sie

wollen, und es ist der Eltern gutes Recht, sich um nichts zu kümmern.

Der Dekalog des Alten Testaments wie der hippokratische Eid müssen als Produkte ihrer Zeit und natür- lich der gesellschaftlichen Bedin- gungen ihres Entstehungsortes verstanden werden. So erklären uns die Progressiven in Sachen Abtreibung wie in Sachen Euthana- sie übereinstimmend die Relativität oder Bedeutungslosigkeit tradierter Normenkataloge in unserer heuti- gen Welt. Gegenüber dieser Inter- pretation einzelner Autoren, die hinsichtlich der Abtreibung nun- mehr vom Supreme Court der USA übernommen wurde, hat der Welt- ärztebund im „Genfer Gelöbnis"

von 1948 und in der „Deklaration von Oslo" zur Schwangerschafts- unterbrechung (1970) in der Spra- che unserer Zeit lediglich bestätigt, was der alte Hippokrates gesagt hatte. In der Ärzteschaft ist offen- bar noch immer herrschende Mei- nung, daß die „Ehrfurcht vor dem Leben", die man nicht so weit zu fassen braucht wie Albert Schweit- zer, als sozialethisches Prinzip der besonderen Pflege und Förderung

— auch und gerade durch den Staat — bedarf. Ein Rückzug des Staates im Strafrecht, bei der Ab- treibung oder bei der Euthanasie, belastet den Arzt mit mehr Verant- wortung, zwingt ihn zu immer häu- figeren und schwierigeren Gewis- sensentscheidungen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß so mancher kritische Arzt über einen derartigen Zuwachs an Entschei- dungsfreiheit gar nicht so begei- stert ist.

(Ergänzte Fassung eines Referates anläß- lich des 3. Weltkongresses für Medizini- sches Recht am 21. August 1973 in Gent. — Aus Arch. f. Krim. Bd. 152 H. 5 u. 6 (1973) mit freundl. Genehmigung von Redaktion und Verlag.)

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. phil.

Helmut E. Ehrhardt Institut für Gerichtliche und Sozial-Psychiatrie 355 Marburg (Lahn), Ortenbergstraße 8

Wider den

gesundheitspolitischen Syndikalismus

Perspektiven des Krankenhaus-Symposiums

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 23 vom 6. Juni 1974 1705

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

תולח תחא רואל תחאו ןהכל וניא יכ סא ידכ אלש חכתשת תרות ,הלח שרסמדכ. תורוכבב 1. ןידבו אוה תלחד רואה אל הוה והל

Im Rahmen eines Untersuchungs- ganges ist der jeweils erste indi- zierte Parameter voll berechnungs- fähig; der zweite indizierte Para- meter wird mit 75 Prozent, der dritte und

Der vom Bundestag bechlossene Gesetzestext sieht vor, daß ein Schwangerschaftsabbruch dann nicht strafbar ist, wenn er mit Einwil- ligung der Schwangeren von einem Arzt

Beschr¨anken Sie das Programm auf Funktionen und Intervalle, bei denen die Funktion im angegebenen Intervall die x-Achse genau einmal schneidet.

Klaus Kirsch- ner etwa, der für die SPD von 1998 bis 2005 den Vor- sitz im Gesundheitsausschuss innehatte und jetzt nicht mehr für den Bundestag kan- didierte, sagt: „Ich halte es

Welche N¨aherung ergibt sich damit?. Diese N¨aherung wird in der

1 6 des Spatprodukts gibt das Volumen der Pyramide mit den Eckpunkten A, B, C,

Mult. Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß musste, als er Sch¨uler war, die Zahlen von 1 bis 100 addieren.. Dividend und Divisor beide um etwa ein