M E D I Z I N
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A1354 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2016. Mai 2003
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ie Adipositas stellt mit einem An- teil von 25 Prozent der US-Bevöl- kerung und einer sich dieser Zahl annähernden hohen Prävalenz in Deutschland, insbesondere in der her- anwachsenden Generation, ein unter- schätztes gesundheitspolitisches Pro- blem dar. Mit der Diagnose Adipositas gehen ein erhöhtes Risiko für Diabe- tes mellitus, Hypertonus, Herzinfarkt, Schlaganfall und anderen Erkrankun- gen einher. Diese Folgeerkrankungen verursachen Kosten, die auch noch von zukünftigen Generationen getragen werden müssen.Ursache dieser Erkrankung ist – ne- ben einer kleinen Gruppe von monoge- netisch bedingter Adipositas – fast im- mer eine für den Energieverbrauch des Patienten inadäquat hohe Nahrungsauf- nahme über lange Zeiträume. Hierbei gibt es genetisch bedingt Menschen, die die Nahrung gut in Fettspeicher anlegen können („gute Futterverwerter“ – „easy gainer“), und solche, die trotz Aufnahme gleicher Mengen wenig oder keine Fett- depots ansetzen. Letztere wären – evolu- tionär gesehen – benachteiligt, da die
„gute Futterverwertung“ in Zeiten der Nahrungsmittelknappheit vorteilhaft ist.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Adipositas in allen Gesellschaften im Übergang von Nahrungsmangel zum - überfluss stark zunimmt. Obwohl Gene in bis zu 70 Prozent das Gewicht beein- flussen, ist die sprunghafte Zunahme der Adipositas höchstwahrscheinlich weder durch genetische Veränderungen noch durch hormonelle Ursachen erklärbar, wenngleich oftmals die „Drüsen“ von den Patienten verantwortlich gemacht werden. Dennoch sollte insbesondere bei allen nicht durch die Lebensweise erklär- baren Formen des Übergewichts die Su- che nach sekundärer Adipositas auch ei- ne endokrinologische Basisdiagnostik (Schilddrüse, Nebenniere) einschließen.
Bei allen Adipösen mit normalen
Nüchternglucosewerten sollte ein Gluco- setoleranztest durchgeführt werden, denn die erfolgreiche Therapie der pa- thologischen Glucosetoleranz kann vas- kuläre Komplikationen verhindern.
In der Regel beginnt das Übergewicht bereits in der Jugend oder sogar schon bei Kindern. Hier wird in der Familie, in der die Nahrungsaufnahme und das Aus- maß körperlicher Betätigung vorgelebt und gemeinsam gepflegt werden, der Grundstein für die weitere Lebens- führung gelegt. Ess- und Bewegungskul- tur sind Ausdruck einer gesunden Le- bensführung, die sich in den meisten Fa- milien nur unter großer Mühe erhalten lässt.Auch im Schulsport werden Defizi- te der Bewegungs- und körperlichen Ko- ordinationsfähigkeit bei einer zuneh- menden Zahl von Kindern erkennbar.
Der Übergang vom Normal- zum Übergewicht bis zur Adipositas ist flie- ßend. Die Stigmatisierung der adipösen Menschen beginnt früh und kann über ei- nen Teufelskreis der sozialen Isolation krankheitsverstärkend wirken. Diese Stigmatisierung führt auch zum Ignorie- ren des Problems bei Betroffenen, An- gehörigen und – wegen fehlender klini- scher Konsequenzen – bei Haus- und Fachärzten. Erst bei der morbiden Form (WHO Adipositas Grad III, Bodymass- Index [BMI] > 40 kg/m2oder BMI > 37 bei Komorbidität) kommt es zu einer Ko- stenübernahme der chirurgischen The- rapie, wohingegen in früheren Stadien ei- ne Lifestyle-Modifikation vorgenommen wird, die nicht zu einer garantierten Leistung der Krankenkassen gehört.
Strategien der Gewichtsreduktion zielen auf ein Kaloriendefizit, wobei ein tägliches Defizit von 500 Kcal unterhalb des tatsächlichen Bedarfs zu einer durchschnittlichen Gewichtsreduktion von 500 g pro Woche führt. Dazu
gehören Veränderungen der Lebens- weise (Ernährung und Bewegung er- reicht durch eine Adipositasschulung), eine Verhaltensänderung durch Psy- chotherapie und Behandlungsansätze wie Pharmakotherapie und chirurgi- sche Eingriffe.Allerdings sind randomi- sierte und prospektive Langzeitstudien über die verschiedenen Formen der Adipositastherapie erforderlich, um ih- re Indikationen zu belegen.
Dennoch kann schon jetzt bei einigen Ansätzen eine zumindest kurz- bis mittel- fristige Erfolgswahrscheinlichkeit festge- stellt werden. Eine Pharmakotherapie (Si- butramin als Appetithemmer und Orlistat als Fettresorptionshemmer zum Teil bei Formen der Adipositas mit einem BMI >
30 < 40 effektiv) ohne Änderung der Le- bensweise ist in der Regel wenig erfolg- reich, Langzeitstudien fehlen. Auch die Magenbandplastik erfordert eine psycho- logische Begleitung beziehungsweise Nachbetreuung. Deshalb muss ein Stufen- therapiekonzept erarbeitet werden, begin- nend mit Adipositasschulungen, ähnlich den Schulungen bei Diabetes mellitus vom Typ 2,in dem die verschiedenen Therapien aufeinander aufbauen, sodass chirurgische Maßnahmen vermieden werden können.
Die rechtzeitige Behandlung der Adipositas wird bisher durch die Ab- lehnung der Kostenübernahme einer ambulanten Behandlung und Schulung durch die Krankenkassen verhindert.
Solange hier keine Leistung vor dem Ausbruch von morbider Adipositas an- erkannt wird, wird sich das Problem weiter ausbreiten.
Manuskript eingereicht: 25. 3. 2003, angenommen:
26. 3. 2003
Anschrift der Verfasser:
Prof. Dr. med. Klaus Badenhoop Prof. Dr. med. Klaus-Henning Usadel Medizinische Klinik I
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt/Main
Adipositas: unterschätztes
gesundheitspolitisches Problem
Klaus Badenhoop, Klaus-Henning Usadel Editorial
Medizinische Klinik I (Direktor: Prof. Dr. med. Klaus- Henning Usadel), Klinikum der Johann Wolfgang Goethe- Universität, Frankfurt/Main