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Die Letten

von

Garlieb Merkel

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Garlieb Merke!

D i e L e t t e n

(4)

D r u c k e r e i G e s e l l s i h a f t ..SaJan a u d i j " v o r m . GrotLu.-s) ttitra. A l t s t a i t Kr. S.

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G A R L I E B M E R K E L

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DIE LETTEN

Nach der zweiten Fassung wortgetreu neu herausgegeben

Mit einer Einführung von

Georg Wihgrabs

1924

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VERLAGS-AKT-GES. «RIGNA», RIGA

(6)

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1924 by Verlags-Akt.-Ges. „Rigna" Riga

(7)

Einführung

von

G e o r g W i h g r a b s

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I.

Merkels Leben.

G а r 1 i e b Helwig Merkel ist am 1. November 1769 als Sohn des Pastors zu Loddiger in Livland Daniel Merkel aus dessen dritter Ehe geboren worden. Daniel Merkel, geb. 1712, Pastor zu Loddiger seit 1741, stammte aus Riga, hatte im Ausland studiert und war dort zu einem überzeugten Anhänger d e r Aufklärungsphilosophie d e s XVIII Jahrhunderts geworden. Seine liebsten Schriftsteller waren Bayle u n d Voltaire.

-Im J a h r e 1770 wurde Daniel Merkel vom Konsistorium für amtsunfähig erklärt und zur A b d a n k u n g verurteilt. Kränklichkeit (Steinleiden, Schwerhörigkeit u. a.) hatten auf seinen schon von Natur verschlossenen und herben Charakter; einen s o schlimmen Einfluss gehabt, d a s s er in Streitigkeiten mit seiner Gemeinde geriet und nicht mehr im S t a n d e war, den Pflichten seines Amtes nachzukommen. Die Gemeinde musste i h m eine lebenslängliche Pension auszahlen.

Anfang 1771 b e g a b er sich mit seiner Familie in Kost zum Alt-Pebalgschen Pastor Linde, der früher sein Adjunkt gewesen war. Hier wuchs der kleine Garlieb auf, g a n z

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— Viil —

allein, ohne gleichaltrige Spielgenossen. Die Kunst des Lesens und Schreibens und die ersten Grundzüge verschiedener Wissens­

gebiete brachte ihm sein Vater bei. D a s war kein regelrechter Schulunterricht nach einem bestimmten P r o g r a m m ; e s waren dies Gespräche und Unterhaltungen, auch Erzählungen, sowohl im Zimmer als im Freie., auf Spaziergängen, in denen der

\ ter dem Knaben blosse Anregungen und Hinweise g a b , d i e dieser d a n n allein auf G r u n d von selbständigem Nachdenken und Beobachten verarbeitete und die d a s nächste Mal durchsprochen und weiter­

geführt wurden. U m die Entwicklung d e s frühreifen und einsamen K n a b e n nicht i n u n g e s u n d e Bahnen gelangen zu lassen, beschlossen die Eltern im J a h r e 1776 i h n in Rign. die Schule besuchen z u lassen.

Er kam in eine kleine private äusserst primitive „Leseschule", d a n n in die „Schreib­

schule'' d e s Waisenhauses, die Merkel e i n e

„Kinderhölle" nennt, und nach einem halben J a h r etwa auf die Domschule.

Des Knaben Vater, der 1778 ein G u t in Arrende ü b e r n o m m e n hatte, s t a r b im Dezember 1782. Infolge seines T o d e s

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— IX —

verschlechterte sich die materielle Lage der Familie so sehr, dass der junge Garlieb die Schulbildung unterbrechen und zur Mutter aufs Gut zurückkehren musste. Hier verbrachte er gegen zwei und ein halbes J a h r in völliger Abge­

schlossenheit, in der Bibliothek d e s Vaters lebend und mit Eifer sich dem Studium der dort vorhandenen Bücher hingebend, die vorzüglich a u s den Werken d e r Vertreter d e s Rationalismus bestanden. Im J a h r e 1785 trat Merkel wieder in die Dom­

schule ein. Da aber die Mittel zum Universitätsbesuch fehlten, und d e r Schul­

betrieb dem J ü n g l i n g nur wenig zusagte, verliess er, noch nicht 17 J a h r e alt, d i e Schule, o h n e sie beendet zu haben, um sich selbständig d e n Lebensunterhalt zu verdienen. Er erhielt nach einiger Zeit eine Stelle als Schreiber in der Kanzlei einer Regierungsbehörde. In seiner freien Zeit widmete er sich der Lektüre und dem Studium. Doch die tote Kanzleiarbeit konnte den jungen Merkel nicht befriedigen, s o d a s s er die Stelle aufgeben und sich mit Privatstunden durchschlagen musste.

In dieser Zeit s c h l o s s er sich einer G r u p p e

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- X —

von jungen Leuten aus der damaligen rigaschen ,Boheme", dem „Prophetenklub", a n . E s waren dies ausländische junge Gelehrte, die in Riga eine Anstellung suchten, Künstler, geistig interessierte Beamte u. a . Niemand von den jungen Leuten hatte noch seine Existenz fest b e g r ü n d e t ; fast alle lebten sie in bedrängten Verhältnissen, Hessen aber unbekümmert ihren Lebensmut überschäumen.

Durch mehrere handschriftliche Aufsätze hatte Merkel inzwischen einige Aufmerk­

samkeit auf sich gelenkt, und s o wurde er dem Pastor J . Chr. Cleemann in Pernigel (Livland) als Hauslehrer empfohlen. Hier verbrachte er vier J a h r e (1788 — 1792).

Stark regt sich in dieser Zeit Merkels Produktionsbetrieb: er schreibt über alles Mögliche, widmet sich aber vor allem poetischen Versuchen.

Hier in Pernigel macht Merkel eine Bekanntschaft, die g e m ä s s seinen eigenen Worten die „wichtigste" für seine „Bildung"

ist, die er „seit seiner Kindheit" gemacht hat. E s handelt sich um Friedrich von Meck, den jugendlichen Besitzer d e s G u t e s Pernigel, der während Merkels Aufenthalt

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— XI . —

in Pernigel aus Deutschland nach Beendi­

g u n g seiner Studien auf den dortigen Universitäten in die Heimat zurückkehrte, Meck war überzeugter Anhänger der neuen Ideen jener Zeit und einer der edelsten u n d vornehmsten Vertreter der wenigen fortschrittlich gesinnten Elemente unter dem damaligen livländischen Adel. Er starb jedoch bald eines frühen Todes. Durch Meck kam Merkel in einen „Gesellschafts­

zirkel ähnlicher Geister-, der vor allem a u s Mecks akademischen Freunden bestand, von d e n e n viele ebenfalls Hauslehrer waren, und die sich zu Weihnachten und Ostern bei Meck versammelten.

Im J a h r e 1792 zieht Meck nach R i g a ; Merkel folgt ihm, kann aber in der Stadt nicht festen F u s s fassen, verbringt dort neun „verlorene" Monate und nimmt im J a h r e 1793 wieder eine Hauslehrerstelle an;

Diese führt in die „abgeschlossenste, länd­

liche Einsamkeit" zum Kreisrichter A. von Transehe in Annenhof (Kirchspiel Nitau).

Hier schreibt Merkel sein Hauptwerk, d a s vorliegende B u c h : „Die Letten vorzüglich in Liefland am E n d e d e s philosophischen Jahrhunderts". Im April 1796 - verlässt

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— XII —

Merkel seine Stelle, begibt sich nach Riga und von dort nach Leipzig, einer unge­

wissen Zukunft e n t g e g e n , nur, um seine Schritt zu veröffentlichen, w a s in Riga natürlich unmöglich gewesen wäre.

Die „Letten" erschienen in Leipzig im Herbst 1796. Auf d e m Titelblatt d e s Buches steht allerdings d a s J a h r 1797 — aber das die übliche k ü h n e buchhändlerische V o r a u s ­ n a h m e d e s Kommenden. D a s Buch erregte d a s allergrösste Aufsehen, fand in weitesten Kreisen begeisterten Beifall u n d machte seinen Verfasser mit einem S c h l a g e zu einem berühmten Mann. Nachdem Merkel in Leipzig und J e n a Studien obgelegen hatte, Hess er sich 1797 in Weimar nieder.

Im Herbst desselben J a h r e s erhielt er die Stelle eines Sekretärs d e s dänischen Finanz­

ministers Graf Schimmelmann, die er jedoch schon im Dezember verHess, um nach Weimar zurückzukehren, wo er bis zum Jahre 1799 lebte. In dieser Zeit entstanden

„Humes und Rousseaus A b h a n d l u n g e n über den Urvertrag nebst einem Versuch ü b e r Leibeigenschaft, den livländischen Erbherren gewidmet" ; „Die Rückkehr i n s V a t e r l a n d "

ein Halbroman, und „Die Vorzeit Livlands".

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— XIII

Im Herbst 1799 siedelte Merkel nach Berlin ü b e r ; hier lebte er mit Ausnahme e i n e s kur'zen Aufenthaltes in Frankfurt a / 0 . , wo e r d e n Doktorgrad erwarb, bis zum J a h r e 1806. In Berlin widmet sich Merkel vor allem der Literaturkritik und Journalistik.

Der neueste Autor, der über Merkels Aufent­

halt in Deutschland handelt, Müller-Jabusch, spricht sich über Merkels Berliner Zeit folgendermassen a u s : „ . . . in den Jahren 1799 — 1806 hat er (Merkel) eine Rolle ge­ spielt, die für d a s öffentliche Leben der Stadt von höchster Bedeutung war". (Siehe:

„Thersites". Die Erinnerungen Garlieb Merkels 1796 — 1817, herausgegeben von M. Müller-Jabusch, 1921.)

Durch seinen Bildungsgang war e s Merkel fast unmöglich g e m a c h t worden, ein richtiges Verständnis für die damalige neue Richtung in d e r deutschen Literatur (Goethe, Schiller, Romantiker) zu gewinnen ; e r erkannte nur den schon überwundenen Klassizismus a n ; Wieland war ihm Deutschlands grösster Dichter. Dazu war Merkel in Weimar gleich in die Netze der Feinde Goethes geraten.

In Berlin schloss er sich daher leiden­

schaftlich dem Feldzug gegen Weimar a n .

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— XIV —

Dieser Kampf hat Merkel Feindschaft und Hass, Hohn und Spott eingebracht, ist geradezu zu einem Kainszeichen für ihn geworden, kann aber als vernichtend n u r für d e n Kritiker, nicht für d e n Publizisten und Menschen Merkel angesehen werden.

In vollem Glänze zeigten sich in Berlin Merkels journalistische G a b e n . Anfang Juli 1803 gründete er die Zeitschrift „Ernst u n d Scherz", die 1804 mit Kotzebues „ F r e i m ü ­ tigem" zum „Freimütigen o d e r Ernst u n d Scherz" verschmolz, und deren faktische Leitung in den HändenMerkels lag. E i n e g a n z ausserordentliche Bedeutung erwarb sich d e r

„Freimütige" durch seinen Kampf g e g e n Napoleon. Müller-Jabusch schreibt d a r ü b e r :

„Alle patriotischen Nachrichten und S t i m m e n der Zeit drängten sich allmählich in eine Zeitschrift z u s a m m e n : d e n Freimü­

tigen", der zur „ E r h e b u n g d e r g a n z e n Nation", zu „allgemeiner Volksbewaffnung"

aufrief. Dieser Kampf erforderte „eine ge­

hörige Portion Zivilkourage". S o kam d e n n Merkel auf die französische Proskrip­

tionsliste und musste nach der Schlacht bei J e n a und Auerstädt Deutschland ver­

lassen. Er kehrte nach Riga zurück.

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W ä h r e n d d e s Berliner Aufenthalts ent­

s t a n d e n Merkels „Briefe a n ein Frauen­

zimmer über die neuesten Produkte der schönen Literatur in Deutschland" und

„Wannem Ymanta", eine lettische Sage, deren Grundstock Merkel bereits in seiner ersten Hauslehrerzeit niedergeschrieben hatte.

In Riga setzte Merkel den Kampf gegen Napoleon fort. Im Juli 1807 gründete er die Zeitschrift (später Zeitung) — „Zu­

s c h a u e r " . 1812 trägt er d a s seinige zur Konvention von Tauroggen, dem Uebertritt der preussischen Truppen von den F r a n ­ zosen zu den Russen, bei.

1816 b e g a b sich Merkel zurück nach Deutschland. Sein Versuch in Berlin die alte Stellung wiederzuerwerben misslang und 1817 kehrte er endgültig nach Riga zurück. Nach d e r Aufhebung der Leib­

eigenschaft schrieb Merkel „Die freien Letten und Esten. Eine Erinnerungsschrift zu dem a m 6 . J a n u a r 1820 in Riga gefeierten Freiheitsfeste'', 1820. Das Werk war Kaiser Alexander I gewidmet, der dem Autor wegen seiner Verdienste um die Befreiung d e r Bauern eine lebenslängliche Pension von 3 0 0 Silberrubeln aussetzte.

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— XVI —

Von nun an lebte Merkel auf dem kleinen Gute Depkinshof, nicht weit von Riga, das er sich schon früher gekauft hatte. In den 30-er Jahren g a b e r d i e journalistische Tätigkeit wegen Zensurschwierigkeiten auf.

In den Jahren 1839 u n d 1840 erschienen die autobiographischen „Darstellugen und Charakteristiken a u s meinem L e b e n " . Merkel s t a r b am 9. Mai 1850. Am T a g e der hundertsten Wiederkehr seines Geburts­

t a g e s wurde auf dem Katlakalnschen Kirch­

hof bei Riga von dem Rigaschen Lettischen Verein auf Merkels G r a b e ein Denkmal errichtet.

II.

Die Beurteilung Merkels.

Die Meinungen über Merkels Persönlichkeit und sein Hauptwerk „Die Letten" wider­

sprechen einander auf d a s Entschiedenste.

In der Masse der adligen Grossgrundbesitzer Livlands rief d a s Erscheinen des Buches die äusserste E m p ö r u n g hervor. Als erster begann d e n Kampf gegen Merkel der „Hofrat und Ritter" G . S . Brasch. Doch wie der nächste Vorkämpfer d e s livländischen Adels •

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- XVII -

Pastor H . F. Tiebe in seinem Buch „Liv- und Estlands Ehrenrettung gegen Herrn Merkel und Petri" 1804 zu berichten weiss, wurde es Brasch durch „höhere Befehle" verboten, g e g e n Merkel zu schreiben. Andererseits erzählt wieder Merkel in seinem „Supplement zu d e n Letten" 1798, d a s s der damalige Gouverneur, selbst ein Gutsbesitzer, alle in Riga vorrätigen Exemplare der „Letten"

konfiszierte und bloss Edelleuten gestattete, s i c h vom Regierungsarchivar eines holen zu lassen. In späteren Zeiten existierte die Ueberlieferung, d a s s „Die Letten" in Riga aufgekauft u n d verbrannt worden wären.

Wieviel a n all diesen Mitteilungen wahres ist, lässt sich schwer ermitteln. Tatsache ist jedenfalls, d a s s erst im J a h r e 1804, nach d e m Erscheinen der zweiten Auflage der

„Letten" 1800, der Kampf gegen Merkel nachdrücklich forgesetzt wird.

G . F . von Fircks schreibt ein Büchlein :

„Die Letten in Kurland oder Verteidigung meines Vaterlands gegen die Angriffe von G . Merkel in dessen Letten". Ausserdem erscheint d a s schon angeführte Buch von Tiebe nebst einem „Nachtrag" im Jahre 1805. Fircks spricht von „schmähsüchtigen

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— XVIII -

Angriffen", „brandmarkenden Verleum­

d u n g e n " u n d „Unwahrheiten". Ungleich reichhaltiger ist Tiebe. Seiner Ansicht nach ist Merkel ein „einseitiger, parteiischer, liebloser, schmähsüchtiger T a d l e r " , ein

„arglistiger Verleumder", „ein Lästerer".

Nach Tiebes Meinung hat „Herr Merkel wirklich triftige Ursache, n u r leider nicht die, die er selbst angibt, g e g e n Liv- lands Adel u n d Geistlichkeit zu F e l d e zu ziehen"; „aus Bescheidenheit" will T i e b e diese Ursachen „verschweigen", um Merkel selbst und „mehr noch seinen verstorbenen Vater zu s c h o n e n " . Merkel hat „in Deutsch­

land Aufmerksamkeit erregt, u n d keiner vermutet, d a s s er a u s Rache s c h r i e b " .

Im „Nachtrag" zu seiner „ E h r e n r e t t u n g "

hat Tiebe die Stimmen verschiedener I n ­ ländischer Edelleute über Merkels „Letten"

gesammelt. Im folgenden eine Blütenlese d e s Charakteristischsten. Merkel schöpft

„aus den unreinsten Quellen" u n d zieht den

„Unwillen" über „fehlgeschlagene Hoffnun­

g e n " und „ a u s eigener Schuld verfehlte Beförderung" zu rate. Nicht „Menschen­

liebe" entwirft „ein ähnliches Bild", sondern

„Bosheit und heftiger H a s s gegen Livlands

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— XIX -

Adel und Geistlichkeit", von deren einigen Merkel sich „zurückgesetzt" glaubt, eine

„zurückschreckende Karrikatur".. — „ D a s hiesige Publikum" ist berechtigt zu glauben,

„dass entweder Privathass, Rache oder ü b e r s p a n n t e Neuerungssucht d e n Verfasser verleitet h a b e n müsse, der S a m m l e r . . . . lächerlicher Anekdoten zu werden, die e r in dem gehässigsten Lichte und oft falsch vorträgt, vermutlich um einen im Auslande in Achtung stehenden Adel verächtlich zu m a c h e n " . — „Livlands Gutsbesitzer sahen daher . . . die „Letten" als d i e hämische Ausgeburt eines exzentrischen Kopfes und gallsüchtigen Herzens a n " . — „Merkel g e - n o s s allerwärts Höflichkeiten, Zutrauen und die beste B e g e g n u n g von dem hiesigen Adel und Predigern, die zu seiner Bekannt­

schaft gehörten, wie er selbst gesteht. Der Dank dafür ist eine Lästerung". Das Buch ist entstanden „entweder a u s einem unwi­

derstehlichen H a n g e zur Schmähsucht, oder a u s Feindschaft gegen einige Güterbesitzer und besonders gegen seinen Herrn Prinzipal, dessen Brot e r ass . . . , oder a u s Lust Aufsehen durch eine recht auffallende Schmähschrift über einen neuen Gegenstand

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— XX —

zu machen, oder aus Langeweile, da er sich keiner nützlicheren Beschäftigung widmen wollte".

Und e s sei schon hier g e s a g t : g e n a u diese selbe Meinung ü b e r Merkel ist auch e b e n noch im baltischen Deutschtum herr­

s c h e n d — ein missratener Pastorensohn, der als Hauslehrer schlecht behandelt wurde, nimmt Rache!

Im Jahre 1818- schreibt G. v. Rennenkampf in seinem Buche „Bemerkungen über d i e Leibeigenschaft in Livland und ihre Aufhe­

b u n g " über Merkels Schriften folgendes: „Wer von u n s kennt nicht jene sophistischen Schmähschriften eines ehemals m e h r gele­

s e n e n Schriftstellers, welche unsere Leib­

e i g e n e n a l s eine durchaus tyrannisierte, unglückliche Menschenklasse darstellte deren T a g e nur durch eine ununterbrochene Reihe von Misshandlungen, Greuelszenen u n d Druck bezeichnet wird, u n d d i e d e n livländischen Gutsbesitzer als einen d u r c h a u s hartherzigen Tyrannen darstellt, dessen F r e u d e — Misshandlung seiner Unterge­

benen, dessen Dichten und Trachten nur auf egoistisches Aussaugen der frommen getretenen Bauern gerichtet i s t ; Schriften,

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— XXI -

deren verleumderische Darstellungen um so leichter bei den Menschen Eingang finden, wann sie unter heuchlerischer Maske der Menschenliebe, mit dem Schmuck leichten Witzes erscheinen. Wir haben es verachtet, den Verleumder öffentlich zu widerlegen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. W e r hätte e s sich jemals vorstellen k ö n n e n , d a s s dergleichen Vorstellungen als Wahrheit aufgenommen werden w ü r d e n ; leider lehrt u n s aber die Erfahrung, wie s e h r man die S c h m ä h u n g als Wahrheit aufnahm und welchen bösen Ruf der Heuchler u n s . . . allgemein bereitet hat." Auch Rennenkampf ist der Meinung, nur „gekränkte Eitelkeit oder Rachsucht" k ö n n e „dergleichen Ver­

l e u m d u n g gebären, um die Klasse d e r Gutsbesitzer einer g a n z e n Provinz . . . . zu erniedrigen".

Auf die Angriffe, d i e g e g e n Merkel infolge seiner literarisch - kritischen Tätigkeit ge­

richtet wurden und die d e n obigen a n Kraft nicht nachstehen, g e h e n wir hier nicht ein.

Ausserhalb Livlands wurde Merkels Buch, wie schon hingewiesen, ganz anders aufge­

nommen. In der damals massgebenden

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- XXII —

,, Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung"

wurden die „Letten" äusserst g ü n s t i g be­

sprochen. In kurzer Zeit erschienen Ueber- setzungen ins Französiche u n d Dänische.

Der Abbe Sieyes. 1799 französischer Ge­

s a n d t e r in Berlin, der die „Letten" kannte, Hess einst Merkel zu sich bitten und for­

derte ihn auf, nach Frankreich überzusie­

deln und in d e n Dienst der dortigen Re­

gierung zu treten.

Aber auch in d e r Heimat fand Merkel begeisterte Anhänger unter den fortschritt­

lich gesinnten und von den h u m a n e n Ideen jenes Zeitalters durchdrungenen reform­

freundlichen Vertretern d e s Grossgrund­

besitzes. Elisa von der Recke, eine der gebildetsten und bemerkenswertesten Frauen ihrer Zeit, sucht Merkel in Weimar auf und korrespondiert mit ihm. Der spätere Landrat Baron K. Chr. von Bruiningk, der als Schüler des Hallischen P ä d a g o g i u m s im Oktober 1797 a n Merkel ein begeistertes Schreiben gerichtet hatte, schreibt im J a h r e 1840 folgendes: „Wohl unvergesslich bleibend ist der Eindruck gewesen, den Ihre „Letten" auf mich gemacht haben . . . Wenn ich als J ü n g l i n g Ihnen Zeugnis davon

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— XXIII —

ablegte, dass mein Herz für Recht und Wahrheit glühte und für Ihre Lehre empfäng­

lich war, s o darf ich — jetzt dem Greisen­

alter n a h e — es aussprechen, dass ich diese Gesinnung treu bewahrt habe und in diesem Sinne, wenn auch mit geringen Kräften, zu leben und zu wirken, bemüht gewesen bin. Mit den Gefühlen der Hochachtung, mit welchen ich mich 1797 unterzeichnete — wiederhole ich's als Ihr ergebenster Diener Bruiningk."

R. J. L. vonSamson-Himmelstjerna, der erste unter den Kämpfern für die Aufhebung der Leibeigenschaft und einer d e r bedeutendsten Männer Livlands, studierte 1796 in Halle u n d fühlte sich „lebhaft" vom Inhalt der Letten ergriffen. „Unter den akademischen Freunden und Landsleuten," schreibt er 6 0 J a h r e später, „kam eine Verbindung zu Stande, deren Zweck war, in Zukunft möglichst für die Besserung der Bauern- zustände in Livland beizutragen."

Gewichtig sind die Worte, die derselbe S a m s o n im J a h r e 1838 in dem Vorwort zu seiner Schrift „Historischer Versuch über d i e Aufhebung der Leibeigenschaft in den Ostseeprovinzen" schreibt: „Einige dieser

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— XXIV —

(gegen die Leibeigenschaft gerichteten) Schriften wurden überhört und ü b e r s e h e n ; anderen begegnete man von Anfang her mit einer Feindseligkeit, die weder Miss­

kennen der Absicht d e s Verfassers, noch Geringschätzung seines Schriftstellertalentes, sondern, aufrichtig g e s a g t , d a s beschämende Gefühl der Wahrheit dessen, w a s e r im Feuereifer geschrieben und g e d a c h t hatte, bezeichnete." Unter diesen letzten Autoren meint S a m s o n Merkel. „Die Zeit der Anklagen und Fehden ist vorüber, u n d niemand mehr wird verdächtigt wegen seiner politischen oder patriotischen Ansicht über die Geltung d e s Herrn Dr. Merkel, Man hat, soviel ich weiss, keinen Tadel z u befürchten, wenn man — abgesehen von etwanigem Widerspruch — unverhohlen bekennt, dass der Herr Dr. Merkel ein grosses Verdienst um die Umgestaltung der Dinge in betreff der Bauern habe.

Er sprach mit Leidenschaft, aber mit Wahrheit. Die Leidenschaft war Eifer für die gute Sache und ist daher nicht allein zu entschuldigen, sondern auch voll­

kommen zu rechtfertigen; . . . . hätte Herr Dr. Merkel nicht mit der Leidenschaft

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— XXV —

gesprochen . . . . , so würde e r gewiss mit seinen Vorgängern gleiches Schicksal g e h a b t haben. Seinem Freimut verdankten im J a h r e 1796 — als die Letten erschienen —

manche Jü n g l i n g e edle heilbringende Ab­

sichten für die Zukunft."

D a s deutschbaltische Bürgertum, speziell die literarischen Kreise Rigas, m a g sich von anfang a n zu Merkel wohl anders gestellt haben, als d e r Adel, zu dem e s sich d a m a l s d u r c h a u s nicht hingezogen fühlte. Als Merkel schon 1806 nach Riga zurückkehrt, gelingt e s ihm bald in der Heimat festen F u s s zu fassen und dort den zweiten Teil seines Lebens unter allgemeiner Achtung zu verbringen. Hierzu vergleiche man d i e nach Merkels T o d e in d e n baltischen Presseorganen erschienenen Nachrufe. Der

„Zuschauer" z. B. schreibt in seiner N u m ­ mer vom 1. Juli 1850 über die „Letten"

folgendes: „ . . . ein Werk, das an manchen Uebertreibungen leidet und im Farbenglanz einer jugendlichen Phantasie manche An­

sichten enthüllt, d i e mit dem gereifteren Nachdenken d e s M a n n e s sich nicht mehr vertragen konnten, aber dennoch durch Anregung und Bekanntwerdung viele Uebel-

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— XXVI —

stände beseitigt, mit den entschiedensten Impuls zu d e r erst 25 J a h r e s p ä t e r i n s Leben gerufenen Bauernfreiheit g e g e b e n hat . . D a s „Inland" (1850, Nr. 19) g i b t folgende Charakteristik von M e r k e l : er ist

„einer der bekanntesten und geschätztesten Schriftsteller Livlands, d e r um die Frei­

l a s s u n g der Bauern, wie um die Geschichte d e r Zeit" sich Verdienste erworben h a t . . . ; diese ,,sichern seinem Namen einen ehren­

vollen Platz in der allgemeinen Kulturge­

schichte. Die Widersacher und Spötter s i n d v e r s t u m m t ; . . . . Livland betrauert a b e r d e n Verlust eines M a n n e s , der auf seine innere Entwicklung in den letzten J a h r ­ zehenden einen entscheidenden Impuls durch Wort und Tat g e ü b t h a t . "

E s ist von Interesse, hiermit d a s Verhalten d e r deutschbaltischen Presse zur 50. Wieder­

kehr von Merkels Todestag zu vergleichen:

d e s T a g e s gedenkt bloss d a s ,,Rigaer Tage­

blatt" (1900, Nr. 95) und zwar, indem e s — den eben erwähnten Nekrolog des ,,Zu­

s c h a u e r s " wieder abdruckt Damals war e s dem Adel bereits gelungen, d a s gesamte Deutschbaltentum zum Glauben zu bringen, a l s o b d a s Fortbestehen d e r Privilegien

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— XXVII —

des Adels notwendige Voraussetzung für die weitere Existenz aller baltischen Deutschen

überhaupt wäre.

D e n ersten Versuch einer ruhigen, beinahe wissenschaftlichen Bewertung von Merkels Bedeutung macht der bekannte baltische Publizist J u l i u s Eckardt. Seine Schluss­

folgerungen s i n d : Merkel „gebührt die E h r e a m stärksten unter d e n Bürgern Liv- lands eine Empfindung für die Schmach g e h a b t zu h a b e n , welche dem Lande a u s d e r Aufrechterhaltung d e s entwürdigenden Z u s t a n d e s der leibeigenen Letten und Esten erwachsen musste, — die Ehre, diese Empfindung auch auf die Gefahr hin, seine gesamte Existenz aufs Spiel zu setzen, zur energischen kecken Tat werden zu lassen.

Schlimm genug, dass dieses Verdienst nie bei uns zur vollen und freu­

digen A n e r k e n n u n g gelangt ist." („Erinne­

rungen a n G . Merkel" in den „Baltischen Provinzen Russlands"). „Das Verdienst Merkels, durch diesen Alarmruf den Anstoss z u einer Reform unleidlich gewordener Zu­

s t ä n d e gegeben und d a s Gewissen d e s deutschen Adels der russischen Ostseepro- yinzen geweckt zu haben, war und blieb

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— XXVIII —

ein grosses und unbestreitbares." Als Merkels Hauptfehler bezeichnet Eckardt:

„massloses Selbstgefühl, kindische Eitelkeit und rücksichtslose Rechthaberei". (Garlieb Merkel über Deutschland zur Schiller- Goethe-Zeit 1797—1806). Andererseits stellt aber Eckardt fest, dass Merkel das Lob gebü h r e , „seine U e b e r z e u g u n g zu allen Zeiten mit Unerschrockenheit und o h n e die Rücksicht auf die G u n s t o d e r U n g u n s t äusserer Verhältnisse verfochten zu h a b e n "

(„York und Paulucci" 1865).

Eckardt findet sein Gegenstück a n d e m baltischen Geschichtsforscher H . Diederichs.

In einem in der „Baltischen Monatsschrift"

1870, Band 19 ( = N. F . Bd. I) veröffent­

lichten Artikel über „Garlieb Merkel a l s Bekämpfer d e r Leibeigenschaft und s e i n e Vorgänger" will Diederichs »eine rein ge­

schichtliche Würdigung" Merkels zu g e b e n versuchen. Diese W ü r d i g u n g fällt aber recht absonderlich aus. Diederichs findet, d a s s e s damals „nicht s c h w e r " (!!) war,

„die grelle Unnatur der herrschenden Zu­

stände zu erkennen und zu verurteilen".

Merkels Darstellung musste „unwiderleglich erscheinen". — „Und in gewisser Hinsicht,1'

(30)

- XXIX -

meint Diederichs, „ist sie e s auch. — Aber furchtbar einseitig und bis zur Un­

wahrheit absichtsvoll zugespitzt ist den­

noch d a s Ganze. Man darf nie vergessen, d a s s hier nicht bloss ein Angreifer der Sache, sondern a u c h ein Ankläger der Personen u n d d e s S t a n d e s spricht . . . " —

„ O b bei der Abfassung und Veröffentlichung seines Buches", fährt Diederichs fort, „ihn (Merkel) auch persönliche Misstimmung g e g e n einzelne Personen a u s d e m Adel geleitet, wie man damals allgemein glaubte, l ä s s t sich nicht beweisen, wenn e s auch m a n c h e U m s t ä n d e wahrscheinlich machen.

. . . . Merkels „Letten" geben n u r ein Zerrbild d e r Wirklichkeit, sie sind oft mehr e i n e perfide und höhnische Anklageschrift, a l s eine wahrheitsgetreue S c h i l d e r u n g ; alles darin ist mit gehässiger Absicht zu­

sammengestellt und willkürlich zugestutzt.

D e n n o c h haben sie eine heilsame Wirkung a u s g e ü b t (!!)." Diederichs dichtet Merkel

„blinde Beschränktheit d e s Parteieifers" an, d e r kein Mittel verschmäht „sein Ziel zu erreichen", und m u s s dennoch g e s t e h e n :

„für Livland waren d i e „Letten" damals . . ein nicht zu überhörender Warnungsruf*.

(31)

— xxx —

Sonderbarer Weise wertet Diederichs die Schilderung der Geistlichen durch Merkel viel hö h e r e i n ; e r s c h r e i b t : „ E s fehlt a u c h hier nicht a n s t a r k e n U e b e r t r e i b u n g e n u n d d e m l e i d i g e n G e n e r a l i s i e r e n A b e r i m G a n z e n s p r i c h t M e r k e l hier • ruhiger und unbefangener und der vielfache scharfe Tadel gegen das Leben und Treiben der Geistlichkeit ist nicht ungegrü n d e t . . . . ; s o g i b t d i e s e r A b s c h n i t t e i n e k u l t u r h i s t o ­ r i s c h e S c h i l d e r u n g v o n b l e i b e n d e m W e r t e u n d ist e i n e r d e r l e h r r e i c h s t e n d e s g a n z e n B u c h e s . "

N o c h e i n m a l k o m m t D i e d e r i c h s auf M e r k e l z u r ü c k u n d z w a r in s e i n e r R e z e n s i o n d e s v o n u n s s c h o n e r w ä h n t e n B u c h e s v o n J u l i u s E c k a r d t „ G a r l i e b M e r k e l ü b e r D e u t s c h l a n d " usw. „ G l ü h e n d e n H a s s e s voll h a t M e r k e l n u r e i n m a l g e s c h r i e b e n . . . . in d e n L e t t e n " ; s o n s t k a n n i h m D i e d e r i c h s n i c h t e i n m a l d i e s , s o n d e r n b l o s s „ m a s s l o s e Eitelkeit u n d oft w a h r h a f t l ä c h e r l i c h e S e l b s t ­ ü b e r s c h ä t z u n g " , s o w i e „kleinliche S c h e e l ­ s u c h t " z u s p r e c h e n . F ü r D i e d e r i c h s g e h ö r t

Merkel „völlig d e r V e r g a n g e n h e i t " a n ( „ R i g a s c h e Z e i t u n g " 1887, N r . 93).

J e g o r v. Sievers l ä s s t e s sich n i c h t

(32)

— XXXI -

nehmen, in seinem Bü c h l e i n „Zur G e s c h i c h t e d e r Bauernfreiheit in L i v l a n d " , 1878, z u b e ­ h a u p t e n , Merkel h a b e „ m i t s e i n e n d e k l a ­ m a t o r i s c h e n E r g i e s s u n g e n auf d e n G a n g d e r A n g e l e g e n h e i t e n b i s 1 8 1 6 ver­

l a n g s a m e n d u n d vielfach h e m m e n d g e w i r k t " . N a c h T o b i e n („Die A g r a r g e s e t z g e b u n g L i v l a n d s im 19. J a h r h u n d e r t " Bd. 1 , 1899) e n t h a l t e n D i e d e r i c h s A u s f ü h r u n g e n „ d i e b e s t e Kritik d e r schriftstellerischen T ä t i g k e i t M e r k e l s " . T o b i e n findet, d a s s M e r k e l „Mäs- s i g u n g , O b j e k t i v i t ä t " , v o r a l l e m a b e r „ S a c h ­ k e n n t n i s " f e h l e n . „ S e i n e Leidenschaft Hess i h n . . . . e i n s e i t i g w e r d e n , verleitete i h n z u U e b e r t r e i b u n g e n u n d V e r a l l g e m e i n e r u n g e n u n d in d e r b l i n d e n B e s c h r ä n k t h e i t d e s Parteieifers w u r d e e r u n g e r e c h t W i e ­ wohl M e r k e l s Schriften in Livland viel B e a c h t u n g u n d z u s t i m m e n d e A n e r k e n n u g g e f u n d e n , ja B e g e i s t e r u n g hervorgerufen h a b e n , s o k a n n i h n e n e i n wirklicher Einfluss auf d e n G a n g d e r Agrarreform n i c h t beige­

m e s s e n w e r d e n . " In d e n g e g e n Merkel g e r i c h t e t e n Schriften s i e h t T o b i e n „ein­

g e h e n d e u n d s a c h g e m ä s s e W i d e r l e g u n g e n "

Im J a h r e 1 9 1 6 e r s c h e i n t in d e n „ S i t z u n g s ­ b e r i c h t e n d e r K ö n . Bayer. A k a d e m i e d e r

(33)

- XXXII —

Wissenschaften" eine kleine Schrift ü b e r d e n „Kampf u m d i e L e i b e i g e n s c h a f t i n L i v l a n d " v o n H a n s P r u t z , P r o f . e m e r . Ü b e r M e r k e l s „Letten" s c h r e i b t e r f o l g e n d e s : d a s Bild, d a s M e r k e l v o n d e n V e r h ä l t n i s s e n auf d e m L a n d e entwirft, „ m u s s t e g e r a d e z u a b s c h r e c k e n d wirken, z u m a l m a n c h e r d a d u r c h z u e r s t erfuhr, w a s für U n m e n s c h l i c h k e i t e n d a n o c h im S c h w a n g e w a r e n . D a s s s e i n Bericht im w e s e n t l i c h e n d e r W a h r h e i t e n t s p r a c h , i s t nicht z u bezweifeln, z u m a l e r sich n i c h t s e l t e n auf z u v e r l ä s s i g e G e ­ w ä h r s m ä n n e r beruft. D a s B u c h w u r d e s c h o n d a d u r c h e p o c h e m a c h e n d , d a s s e s z u m e r s t e n M a l scharf d a s P r o b l e m b e z e i c h ­ n e t e , v o n d e s s e n L ö s u n g d i e Z u k u n f t L i v l a n d s a b h i n g . . . . S o e i n d r i n g l i c h , ja g e l e g e n t l i c h heftig d i e S p r a c h e war, d i e M e r k e l a l s begeisterter A n w a l t d e r L e t t e n . . . f ü h r t e , im g a n z e n b l e i b t s i e d o c h s a c h l i c h u n d e n t h ä l t s i c h ü b e r d a s Ziel h i n - a u s s c h i e s e n d e n S c h m ä h e n s u n d S c h e l t e n s . "

D a s n e u e s t e B u c h ü b e r M e r k e l e n t s t a m m t d e r F e d e r d e s R e i c h s d e u t s c h e n Müller- J a b u s c h ( s i e h e o b e n S . X I I I ) . M ü l l e r - J a b u s c h b e h a n d e l t vor allem M e r k e l s Aufenthalt i n D e u t s c h l a n d . E r s c h r e i b t d a r ü b e r f o l g e n d e s :

(34)

— XXXIII -

„ als ä s t h e t i s c h e n Richter m ü s s e n w i r M e r k e l g a n z u n d g a r a b l e h n e n . S e i n e V e r d i e n s t e l i e g e n auf g a n z a n d e r e m G e b i e t e , auf politischem u n d auf d e m d e s J o u r n a ­ l i s m u s , u n d z w a r e i n e s J o u r n a l i s m u s i m

m o d e r n e n S i n n e . " — Merkel ist zum „Vater d e r T h e a t e r t a g e s k r i t i k " in d e r d e u t s c h e n Z e i t u n g s p r e s s e g e w o r d e n . A u s d e m „ g e ­ l e h r t e n Artikel" m a c h t e e r „ d a s e r s t e Zeitungsfeuilleton i n g a n z m o d e r n e m S i n n e " , i n d e s s e n L e i t u n g e r s i c h „als e i n J o u r n a l i s t v o n g l ä n z e n d e r redaktioneller B e g a b u n g "

erwies. V o m M e r k e i s c h e n „ F r e i m ü t i g e n "

s t a m m e n „ d i e Familienzeitschriften s o g u t w i e d i e l i t e r a r i s c h e n R e v u e n a b

B e m e r k e n s w e r t ist M ü l l e r - J a b u s c h s M e i n u n g ü b e r d i e o b e n a n g e f ü h r t e Rezension von D i e d e r i c h s : „ H i e r s p r i c h t sich klar a u s , d a s s d e r D e u t s c h b a l t e , d e r nie v e r g e s s e n h a t , d a s s d e r Lette, d e r U n d e u t s c h e , a u c h e i n m a l e i n Unfreier war, Merkel i m G r u n d e s e i n e s H e r z e n s für e i n e n Verräter a n d e r d e u t s c h e n S a c h e hält. Ich b r a u c h e nicht b e s o n d e r s zu b e t o n e n , d a s s ich D i e d e r i c h s g r ä m l i c h e A n s i c h t ü b e r Merkel nicht teile. . "

Interessant ist auch M ü l l e r - J a b u s c h s Urteil ü b e r M e r k e l s „ L e t t e n " : „ N o c h h e u t e

(35)

— XXXIV —

bewirkt dieses Buch, dass man seinem Verfasser in seiner Heimat nicht gerecht wird. Er hat zuerst die wohl von vielen gefü h l t e D i s k r e p a n z v c r aller W e l t a u s g e ­ s p r o c h e n , d i e d a r i n liegt, d a s s e i n e z a h l - m ä s s i g k l e i n e S c h i c h t ü b e r ein a n d e r e s Volk u n e i n g e s c h r ä n k t herrscht, m a g e s n u n d i e s e m V o l k s e i n e K u l t u r g e b r a c h t h a b e n o d e r nicht, u n d s e i n M e n s c h h e i t s g e f ü h l e m p ö r t sich ü b e r d i e A e u s s e r u n g e n d i e s e r T a t s a c h e d e s H e r r s c h e n s . M a n h a t d e n

„ L e t t e n " m i t R e c h t Einseitigkeit, U e b e r - t r e i b u n g u n d s o n s t n o c h m a n c h e s v o r g e ­ worfen, a b e r d a s ä n d e r t nichts a n d e r T a t ­ s a c h e , d a s s Merkel, a l s e r d i e s B u c h s c h r i e b , z u e r s t d e n F i n g e r auf e i n e s c h w ä r e n d e W u n d e legte."

M ü l l e r - J a b u s c h hält M e r k e l f ü r e i n e n v o n d e r Rechtlichkeit s e i n e r A n s c h a u u n g e n ü b e r z e u g t e n M e n s c h e n ; d a h e r ist e r a u c h d e r M e i n u n g , d a s s Merkel b e i s e i n e m K a m p f e g e g e n G o e t h e „ e h r l i c h " g l a u b t e ,

„ S c h w ä c h e n e i n e s g r o s s e n M a n n e s z u s e h e n " . W a r u m M ü l l e r - J a b u s c h n a c h all d i e s e n A u s f ü h r u n g e n Merkel m i t T h e r s i t e s , d e m t r a u r i g e n h o m e r i s c h e n H e l d e n , in e i n e R e i h e stellt, bleibt u n v e r s t ä n d l i c h .

(36)

— xxxv — III.

Merkels „Letten".

H a t M e r k e l s e i n e „Letten" wirklich a u s eitel „ H a s s u n d R a c h s u c h t " g e g e n d e n Adel g e s c h r i e b e n ? L a s s e n wir z u n ä c h s t Merkel s e l b s t z u W o r t e k o m m e n . In d e n „Darstel­

l u n g e n u n d C h a r a k t e r i s t i k e n a u s m e i n e m L e b e n " s c h r e i b t e r : „Mein e r s t e s r e g e l m ä s ­ s i g e s G e d i c h t g e h ö r t e d e m G e f ü h l e a n , d a s m i c h seit m e i n e r K i n d h e i t a m m e i s t e n u n d l e b h a f t e s t e n beschäftigte, d e m d e r h o h e n U n g e r e c h t i g k e i t d e r B a u e r n . " E s war d i e s ein Lied m i t d e r Ueberschrift

„Klageruf d e s l e i b e i g e n e n L e t t e n " , e n t s t a n ­ d e n i n d e r e r s t e n H a u s l e h r e r z e i t M e r k e l s .

D i e „ L e t t e n " verfasst M e r k e l w ä h r e n d s e i n e r zweiten S t e l l e b e i H e r r n v. T r a n s e h e . H i e r ü b e r s c h r e i b t e r f o l g e n d e s : „ E i n G e ­ d a n k e füllte m e i n e g a n z e Seele, überwäl­

t i g t e m i c h g a n z . E r e n t s p r a n g u r s p r ü n g l i c h a u s e i n e m tiefen E i n d r u c k e , d e n ich s c h o n i n m e i n e r K i n d h e i t e m p f a n g e n hatte, u n d d e r , b e i j e d e m n e u e n A u f e n t h a l t e auf d e m L a n d e e r n e u e r t u n d verschärft, mich jetzt u n w i d e r s t e h l i c h z u r T a t t r i e b . " M e r k e l h a t t e n ä m l i c h a l s k l e i n e r K n a b e g e s e h e n ,

(37)

— XXXVI —

wie der Pebalgsche Pastor Linde, bei dem die Familie Merkel damals lebte, einen alten Bauern, den der Knabe gut kannte, prü g e l n Hess, weil e r „ v e r d ä c h t i g " war, u m e i n e n D i e b s t a h l g e w u s s t z u h a b e n .

W e l c h e s ist n u n n a c h M e r k e l d e r Z w e c k d e r „ L e t t e n " ? W ä h r e n d s e i n e s Aufent­

h a l t e s i n Riga 1 7 9 2 / 9 3 fasst M e r k e l d e n E n t s c h l u s s , „nicht d e n A n k l ä g e r E i n z e l n e r z u m a c h e n , s o n d e r n d e s g a n z e n Verhält­

n i s s e s , d u r c h d a s s o l c h e A b s c h e u l i c h k e i t e n u n d d a s a l l g e m e i n e E l e n d zweier V ö l k e r m ö g l i c h w u r d e " . In d e n „ L e t t e n " e r k l ä r t e r :

„ M e i n e Absicht ist n u r u n p a r t e i i s c h d i e L a g e d e r B a u e r n z u s c h i l d e r n . "

Merkel will d i e „Rechte e i n e r u n g l ü c k s e l i g e n N a t i o n " vertreten u n d „ d i e A u f m e r k s a m k e i t d e r L a n d e s r e g i e r u n g " auf s i e h i n l e n k e n ,

„ d a m i t g r e i s e u n d u n m e n s c h l i c h e Miss­

b r ä u c h e e n d l i c h abgeschafft" w ü r d e n . E r g e d e n k t n i c h t „ g e g e n d i e e i n z e l n e n F e h ­ l e n d e n " , s o n d e r n g e g e n „ d i e u n m e n s c h l i c h e n Vorrechte-' zu k ä m p f e n . „ W e r b e h a u p t e n wollte, ein g a n z e r S t a n d s e i u n m e n s c h l i c h u n d hartherzig, w ü r d e e i n e u n s i n n i g e Ver­

l e u m d u n g v o r b r i n g e n . " D a h e r ist Merkel

„weit entfernt" d a v o n , „ d e n Adel Livlands

(38)

— XXXVII —

einer allgemeinen Bösartigkeit beziehten z u w o l l e n " .

M e r k e l g i b t z u , d a s s e r d i e in d e n

„ L e t t e n " e n t h a l t e n e n T a t s a c h e n „in e i n e r oft heftigen S p r a c h e v o r g e t r a g e n " u n d

„ m i t H i t z e für d i e Millionen unglücklicher B r ü d e r g e r e c h t e t " h a t . Aber „ o h n e S c h o n u n g , o h n e R ü c k s i c h t " m u s s t e e r s p r e c h e n , u m ü b e r h a u p t g e h ö r t z u w e r d e n (vergleiche h i e r ü b e r o b e n S a m s o n s Worte). T r o t z - a l l e d e m v e r s p r i c h t Merkel s e i n e n L e s e r n

„ U n p a r t e i l i c h k e i t " u n d erklärt, e r h a b e n u r „ a u t h e n t i s c h e F a k t a " a n g e f ü h r t . „Vater­

l a n d s l i e b e ist m e i n Beruf u n d W a h r h e i t s ­ l i e b e m e i n T a l e n t .u

N e h m e n wir z u all d e m A n g e f ü h r t e n h i n z u , d a s s in M e r k e l s Schriften keinerlei A n ­ d e u t u n g e n ü b e r „ s c h l e c h t e B e h a n d l u n g "

v o n s e i t e n d e s A d e l s u n d d e r Geistlichkeit u n d ü b e r e i n e a n g e b l i c h e R a c h e dafür z u finden s i n d ; d a s s M e r k e l s Kampf g e g e n d i e Leibeigenschaft e i n e n prinzipiellen C h a ­ rakter h a t u n d v o n tiefstem sittlichem E r n s t g e t r a g e n w i r d ; d a s s d i e F a b e l e i e n v o n M e r k e l s „ B o s h e i t u n d H a s s g e g e n L i v l a n d s Adel u n d Geistlichkeit" w e g e n i r g e n d w e l c h e r

„ Z u r ü c k s e t z u n g e n " u n d v o n s e i n e r A b s i c h t

(39)

— XXXVIII —

nun dafür h e i m z u z a h l e n , u n s n u r i n d e n S c h m ä h s c h r i f t e n d e s A d e l s u n d d e s s e n A n ­ h a n g s , a l s b l o s s e B e h a u p t u n g e n , o h n e jeg­

liche B e w e i s g r ü n d e e n t g e g e n t r e t e n ; d a s s s e l b s t D i e d e r i c h s b l o s s k o n s t a t i e r e n k a n n , d i e Ansicht, Merkel h a b e s i c h „ a u c h-' v o n

„ p e r s ö n l i c h e r M i s s t i m m u n g g e g e n e i n z e l n e P e r s o n e n a u s d e m A d e l " leiten l a s s e n , n i c h t zu „ b e w e i s e n " sei. o b w o h l s i e „ m a n c h e r U m s t ä n d e " w e g e n „ w a h r s c h e i n l i c h " w ä r e , u n d d a s s T o b i e n schliesslich h i e r v o n v ö l l i g schweigt, — wenn man all das zusam­

m e n f a s s e s o m u s s m a n d e n n d o c h wohl z u g e b e n , d a s s e s s i c h h i e r u m v ö l l i g u n b e ­ g r ü n d e t e B e s c h u l d i g u n g e n u n d V e r l e u m ­ d u n g e n M e r k e l s d u r c h s e i n e G e g n e r h a n d e l t .

D i e s e s wird a u c h d a d u r c h b e s t ä t i g t , d a s s M e r k e l s e h r wohl begriff, w a s i h m i m F a l l e d e r Veröffentlichung s e i n e s B u c h e s bevor­

s t a n d . „Ich weiss," s a g t er, „ d a s s m e i n e R u h e u n d vielleicht alles, w a s i c h verlieren k a n n , auf d e m S p i e l s t e h e . Ich s e h e v o r a u s , d a s s m a n m i r V e r l e u m d u n g , Bosheit, vielleicht Verrat wird a n d i c h t e n wollen; a b e r e s s e i ! " D a s s Merkel hierbei nicht ü b e r ­ treibt, beweist a u c h s e i n G e g n e r T i e b e , d e r d a offen erklärt, Merkel m ü s s e infolge d e r

(40)

— XXXIX —

Herausgabe der „ L e t t e n " Livland „mit d e m R ü c k e n a n s e h e n " u n d h a b e sich s e l b s t

„ d i e R ü c k k e h r i n s Vaterland v e r s c h e r z t " . - N u n k ö n n t e e s ja d u r c h a u s s e i n , d a s s trotz d e r e d e l s t e n Absichten M e r k e l s s e i n e

„ L e t t e n " z u g u t e r l e t z t d o c h e t w a s a n d e r e s g e w o r d e n s i n d , a l s i h r Verfasser e s s i c h z u n ä c h s t s e l b e r g e d a c h t hatte. A m b e s t e n k a n n ein derartiger Zweifler v o n d e r U n r i c h ­ tigkeit s e i n e r M e i n u n g natürlich d u r c h u n v o r e i n g e n o m m e n e L e k t ü r e d e s B u c h e s s e l b s t ü b e r z e u g t w e r d e n . D e s h a l b s e i e n hier b l o s s e i n i g e H i n w e i s e g e g e b e n . Merkel ist wirklich n i c h t „Ankläger d e r E i n z e l n e n "

g e w o r d e n ; e b e n s o w e n i g bezichtigt er e i n e n

„ g a n z e n S t a n d " d e r U n m e n s c h l i c h k e i t u n d d e r Hartherzigkeit. N e b e n d e n F ä l l e n , i n d e n e n d i e G u t s h e r r e n i h r e R e c h t e ü b e r d i e l e i b e i g e n e n B a u e r n m i s s b r a u c h e n , f ü h r t e r j e d e s m a l e n t g e g e n g e s e t z t e Beispiele a n u n d k a r g t d a b e i m i t s e i n e m L o b e nicht.

E r s a g t z . В.: „Ich h a b e soviel B ö s e s v o n d i e s e m S t a n d e s a g e n m ü s s e n , d a s s ich froh bin z u r E h r e n r e t t u n g d e s s e l b e n a u c h e n d l i c h G u t e s v o n i h m a n f ü h r e n zu k ö n n e n . "

S c h u l d a n d e n M i s s b r ä u c h e n u n d Gewalt­

t a t e n d e r G u t s h e r r e n s i n d nicht s o s e h r

(41)

— XL —

diese, als die Gesetze, die einem jeden von ihnen, wenn es ihm gerade einfällt, d i e Möglichkeit unbestrafter A u s s c h r e i t u n g e n d e n B a u e r n g e g e n ü b e r g e b e n .

W e r d a b e h a u p t e t , d i e v o n M e r k e l a n g e ­ f ü h r t e n T a t s a c h e n s e i e n f a l s c h , m ü s s t e s i c h s c h o n b e m ü h e n , d a s z u b e w e i s e n , d e n n Merkel n e n n t d i e betreffenden P e r s o n e n u n d O r t e e n t w e d e r d i r e k t o d e r v e r s c h l e i e r t s i e s o leicht, d a s s s i e für e i n e n j e d e n d e n Verhältnissen N a h e s t e h e n d e n o h n e M ü h e z u e r k e n n e n s i n d . D i e s a b e r h a t k e i n e r v o n M e r k e l s G e g n e r v e r s u c h t ; s e l b s t T i e b e erklärt, e r wolle nicht M e r k e l s Letten

„ W o r t für W o r t w i d e r l e g e n " . E s k a n n g e w i s s m ö g l i c h s e i n , d a s s e i n z e l n e d e r v o n M e r k e l e r z ä h l t e n F ä l l e v o n G r a u s a m k e i t , Roheit, rücksichtsloser A u s b e u t u n g d e r B a u e r n u s w . in d i e s e m o d e r j e n e m d e r Wirklichkeit n i c h t e n t s p r e c h e n , d e n n s o m a n c h e s d a v o n h a t t e M e r k e l a u s z w e i t e r o d e r g a r a u c h a u s dritter H a n d . — aber das hat wenig zu bedeuten; denn nicht wegen dieser oder jener Ausschreitung dieses oder jenes Gutsherrn bekä m p f t M e r k e l d i e Leibeigenschaft, s o n d e r n weil s i e s c h o n i n i h r e n a l l g e m e i n e n G r u n d l a g e n , o h n e jede

(42)

— XLI —

Auswü c h s e , d e r Idee d e r M e n s c h e n r e c h t e w i d e r s p r i c h t u n d speziell in Livland e i n e m g a n z e n Volk — Lette und Leibeigener waren damals gleichwertige Begriffe — die Mö g l i c h k e i t e i n e r s e l b s t ä n d i g e n n a t i o n a l e n E n t w i c k l u n g n i m m t .

Vielleicht widerlegt a b e r d i e B e s c h r e i b u n g der G r u n d l a g e n d e r Leibeigenschaft d u r c h m o d e r n e F o r s c h e r M e r k e l s S c h i l d e r u n g ? T o b i e n s a g t in s e i n e m W e r k „ D i e Agrar­

g e s e t z g e b u n g Livlands i m 19. J a h r h u n d e r t "

f o l g e n d e s : „ D i e B e s t i m m u n g e n v o m J a h r e 1 7 6 5 ( z u m B e s t e n d e r B a u e r n ) w u r d e n in d e r F o l g e g a n z u n d g a r n i c h t e i n g e h a l t e n " . . •

„ D a s g u t s h e r r l i c h - b ä u e r l i c h e V e r h ä l t n i s g e s t a l t e t e sich u n g ü n s t i g e r a l s z u v o r . "

. . . „ Die gutsherrlichen Gerechtsame ü b e r d i e P e r s o n d e r U n t e r t a n e n (waren) n a h e z u u n b e s c h r ä n k t , d i e b ä u e r l i c h e n Besitzrechte a m G r u n d u n d B o d e n n i c h t gesichert, d i e F r o n d i e n s t e u n g e m e s s e n " „ Der Verkauf einzelner Hö r i g e r war d u r c h a u s üblich, ja e s k a m s o g a r vor, d a s s L e i b e i g e n e öffentlich versteigert w u r d e n . " G e n a u d i e s e l b e Schil­

d e r u n g g i b t A. v. T r a n s e h e in s e i n e m B u c h

„ G u t s h e r r u n d B a u e r i n Livland i m 17. u n d 1 8 . J a h r h u n d e r t " . E r findet, d a s s d i e L a g e

(43)

— XLII —

„ s i c h v e r s c h ä r f t e " u n d zuletzt „ u n e r t r ä g l i c h w u r d e " .

D a s s d i e Z u g e h ö r i g k e i t d e r H e r r e n u n d d e r B a u e r n zu v e r s c h i e d e n e n V ö l k e r s c h a f t e n d i e Leibeigenschaft verschärfte, g i b t T r a n s e h e z u : „ D e r B a u e r g e h ö r t e e i n e r f r e m d e n , u n t e r d r ü c k t e n u n d v e r a c h t e t e n N a t i o n a n . e r w a r i n d e n A u g e n d e r D e u t s c h e n e i n P a r i a , a u s g e s t a t t e t m i t all d e n Übeln C h a r a k ­ tereigenschaften e i n e s s o l c h e n . "

Z u d e n b e s t e n z e i t g e n ö s s i s c h e n Z e u g n i s s e n ü b e r d e n C h a r a k t e r d e r L e i b e i g e n s c h a f t i n Livland i m 18. J a h r h u n d e r t g e h ö r e n d i e

„ P r o p o s i t i o n e n " (d. h . Anträge), d i e d e r d a m a l i g e G e n e r a l g o u v e r n e u r Graf G e o r g e B r o w n e d e m L a n d t a g v o m J a h r e 1 7 6 5 i m N a m e n d e r Kaiserin K a t h a r i n a IL z u r B e r a t u n g vorlegte. D e r dritte P r o p o s i t i o n s ­ p u n k t betrifft „ d e n e l e n d e n Z u s t a n d d e r B a u e r n in dieser P r o v i n z u n d d i e Mittel, w i e d i e s e m a m f ü g l i c h s t e n a b z u h e l f e n " .

„Soviel i c h e n t d e c k e n k o n n t e , " f ü h r t B r o w n e a u s , „lässt s i c h alle B e s c h w e r d e auf drei H a u p t s t ü c k e r e d u z i e r e n :

1) wird d e m B a u e r n d u r c h a u s k e i n E i g e n t u m , a u c h s e l b s t in d e n S t ü c k e n , d i e e r d u r c h s e i n S c h w e i s s u n d B l u t e r w o r b e n , z u g e s t a n d e n ;

(44)

- XLII! —

2) seine Abgaben und seine Prä s t a n d a1) s i n d g a n z u n b e s t i m m t , u n d e r m u s s täglich n e u e Auflagen u n d z w a r s o l c h e g e w ä r t i g e n , z u d e n e n w e d e r s e i n Körper, n o c h s e i n e H a b e u n b Vieh h i n l a n g e n ;

3) Bei s e i n e m V e r b r e c h e n w i r d e r zu h a r t g e z ü c h t i g t u n d öfters auf e i n e Art h a n t i e r e t - ) . d i e s e i n e n V e r g e h u n g e n s o w e n i g a n g e ­ m e s s e n , a l s mit d e n E m p f i n d u n g e n e i n e s C h r i s t e n z u k o n z i l i i e r e n3) s i n d .

D i e Richtigkeit d e s e r s t e n G r a v a m i n i s4) i s t n o t o r i s c h . D e r B a u e r ist n i c h t n u r in d e m Besitz s e i n e s L a n d e s u n d d e r v o n i h m e r b a u t e n K a t e n5) s o u n s i c h e r a l s d e r V o g e l auf d e m D a c h e , s o n d e r n a u c h i n A n s e h u n g s e i n e s g e r i n g e n M o b i l i a r v e r m ö g e n s noch u n s i c h e r e r . F i n d e t d e r H e r r w a s bei i h m , s o i h m gefällt, e s sei Pferd, Vieh, F a s e l0) o d e r s o n s t w a s : s o wird e s e n t w e d e r für e i n e n s e l b s t b e l i e b i g e n g e r i n g e n P r e i s o d e r g a n z u m s o n s t g e n o m m e n . S e l b s t d i e jährlichen Feldfrüchte, d i e d e r B a u e r s o s a u e r u n d m ü h s a m a u s d e r E r d e , zu s e i n e m u n d d e r S e i n i g e n dürftigen Unterhalt hervorsucht,

x) P f l i c h t l e i s t u n g e n ; 2) b e h a n d e l t ; 3) v e r e i n b a r e n ;

4) B e s c h w e r d e ; 5) H ü t t e n ; 6) i m b a l t i s c h e n D e u t s c h

— Federvieh.

(45)

— XLIV -

sind nicht vor dem Herrn sicher. Wie ist's mö g l i c h , d a s s d i e a r m e n M e n s c h e n , i n e i n e r s o u n g l ü c k l i c h e n S i t u a t i o n , d a s g e ­ r i n g s t e z u e r w e r b e n s u c h e n s o l l t e n , d a s i e a l l e s d e s s e n , w a s s i e vor sich b r i n g e n:) , n i c h t e i n e r S t u n d e sicher s i n d ?

D i e zweite B e d r ü c k u n g ist n o c h h ä u f i g e r . . . . A u s s e r d e r o r d i n ä r e n Arbeit u n d G e r e c h ­ tigkeit'-), d i e auf d e m L a n d e haftet, s i n d d i e N e b e n p r ä s t a n d a u n b e s t ä n d i g u n d o h n e E n d e . S o billig d i e L a n d e s m e t h o d e ist, d a s s d e r B a u e r d e m E r b h e r r n b e i d e r E r n t e , bei d e m Mistführen, bei E r b a u u n g d e r n ö t i g e n G e b ä u d e , b e i R e i n i g u n g d e r H e u ­ s c h l ä g e , F ä l l u n g u n d A b f l ö s s u n g d e s H o l z e s , a n d e n O r t e n , w o d e r g l e i c h e n s t a t t h a t , u s w . h e l f e : s o n ö t i g ist e s d o c h , d a s s d i e s e s b e s t i m m t sei u n d mit d e m V e r m ö g e n d e r

x B a u e r n in e i n e m V e r h ä l t n i s s e s t e h e ; d a s s z. B. z u jeder Arbeit, n a c h d e r G r ö s s e d e r Gesinde3), g e w i s s e T a g e a u f e r l e g t w e r d e n , u n d d a s s d i e s e Arbeit n u r z u d i e s e n Erfor­

d e r n i s s e n a n g e w e n d e t , u n d w e n n s o l c h e nicht nötig, d e r B a u e r n i c h t a n d e r e n S t e l l e z u a n d e r e n F r o n d i e n s t e n a n g e s t r e n g t w e r d e ; s o a b e r g e h e t a l l e s hierin willkürlich z u .

M e r w e r b e n ; 2) A b g a b e n ; 3) B a u e r n h o f .

(46)

— XLV -

Den Bauern werden ausser seiner Arbeit Stü c k e i n d e n Hofsfeldern z u g e m e s s e n , d i e e r v o n H a u s e b e a r b e i t e n m u s s , u n d z w a r a l l e s o h n e e i n i g e Bonifikationen1). D i e F u h r e n w e r d e n g a n z indeterminat-J g e n o m ­ m e n , u n d nicht n u r z u r V e r f ü h r u n g d e r Hofsgefälle: i), s o n d e r n a u c h f r e m d e r W a r e n , d i e zuweilen vielfach jene a n M e n g e u n d S c h w e r e übertreffen, z u aller J a h r e s z e i t n a c h B e l i e b e n a u s g e t r i e b e n . . . .

D i e d r i t t e B e d r ü c k u n g d e r B a u e r n ist d e r Exzess4) in i h r e r B e s t r a f u n g . Dieser ist s o e n o r m , d a s s d a s G e s c h r e i d a v o n z u m e i n e m e m p f i n d l i c h e n K u m m e r b i s a n d e n T h r o n g e d r u n g e n . D i e kleinsten V e r g e h u n g e n w e r d e n m i t z e h n p a a r R u t e n g e a h n d e t , mit ' welchen n i c h t n a c h d e r g e s e t z l i c h e n Vor­

schrift mit j e d e m P a a r d r e i m a l , s o n d e r n s o ­ l a n g e g e h a u e n wird, a l s e i n Stumpf d e r R u t e n ü b r i g ist, u n d b i s H a u t u n d Fleisch herunterfallen. D i e B a u e r n w e r d e n w o c h e n - u n d m o n a t e l a n g , u n d öfters in d e r g r o s ­ s e s t e n Kälte, in d e n Kleten"') in E i s e n u n d Klötzen auf W a s s e r u n d Brot g e h a l t e n . L a u t e r Strafen, d i e a l l e S c h r a n k e n e i n e r

4 V e r g ü t u n g ; 2) u n b e g r e n z t ; ? !) l a n d w i r t s c h a f t l i c h e P r o d u k t e d e r G ü t e r ; 4) Ü b e r m a s s ; 5) K o r n k a m m e r .

(47)

— XLVI -

Privatziichtigung ungebü h r l i c h übersteigen,, u n d m i t d e n e n n u r d i e G e r i c h t e i n s c h w e r e n V e r b r e c h e n u n d a u c h a l s d a n n g e l i n d e r verfahren, i n d e m s i e w e n i g s t e n s d i e Incul- p a t o s1) i n w a r m e n G e f ä n g n i s s e n a u f b e ­ w a h r e n .

W a s k a n n a u s s o vielen B e d r ü c k u n g e n u n d g e w a l t s a m e n P r o z e d u r e n n a t ü r l i c h fol­

g e n . a l s d a s s d i e B a u e r n , d e n e n s e l b s t d a s L e b e n d a b e i z u r Last w i r d , a l l e L u s t z u m E r w e r b e n u n d Wirtschaften v e r l i e r e n , s i c h d e r Verzweiflung u n d L ü d e r l i c h k e i t ü b e r ­ l a s s e n , u n d w e n n s i e d u r c h d i e s e , w i e d u r c h d i e E r p r e s s u n g e n g ä n z l i c h e r s c h ö p f t s i n d , n i c h t n u r i h r e väterlichen W o h n s t e l l e n verlaufen, s o n d e r n g a n z u n d g a r a u s d e m L a n d e f l ü c h t e n ? W a s k a n n a b e r a u c h nachteiliger für d a s I n t e r e s s e publicum'2) s e i n , a l s e i n e s o l c h e Destruction3) e i n e s s o u n e n t b e h r l i c h e n S t a n d e s ?

I n d e s s e n ist d a s U e b e l n o c h völlig z u remedieren4), w e n n e i n e e d l e Ritter- u n d L a n d s c h a f t s i c h d a h i n wie billig vereinbart, d a s s :

! ) A n g e s c h u l d i g t e n ; 2) A l l g e m e i n i n t e r e s s e ; 3) Z e r ­ s t ö r u n g , Z e r r ü t t u n g ; 4) h e i l e n , a b s t e l l e n .

(48)

— XLVII -

1) das Eigentum der Bauern in ihrem Mobiliar-Vermögen, s o n d e r l i c h in d e m , w a s s i e s e l b s t e r w o r b e n , fest g e s e t z t ;

2 ) i h r e P r ä s t a n d a , w i e s i e N a m e n h a b e n m ö g e n , b e s t i m m t u n d d e n Kräften d e r B a u e r n p r o p o r t i o n i e r t1) ;

3 ) d e n Ausschweifungen d e r H a u s z u c h t billige G r e n z e n g e s e t z t w e r d e n . " —

Im siebenten Propositionspunkt ä u s s e r t s i c h B r o w n e ü b e r d e n Verkauf d e r B a u e r n :

„ F e r n e r w ü r d e e s h ö c h s t z u t r ä g l i c h s e i n , d a s s d a s g a n z u n e i n g e s c h r ä n k t e V e r k a u f e n d e r M e n s c h e n restringiert-) w ü r d e . . . . E s i s t m i t d i e s e m H a n d e l , d u r c h w e l c h e n K i n d e r v o n i h r e n E l t e r n u n d z u w e i l e n s o g a r M ä n n e r v o n i h r e n W e i b e r n g e t r e n n t w e r d e n , s o weit g e d i e h e n , d a s s E r b h e r r e n , d i e i h r e m R u i n e n t g e g e n e i l e n , i h r e L e u t e teils e i n z e l n , teils i n g a n z e n F a m i l i e n mit ihrer H a b ­ seligkeit ( s o viel s i e n ä m l i c h i h n e n z u l a s s e n f ü r g u t g e f u n d e n ) öffentlich d e n M e i s t b i e t e n d e n feilstellen, ja zuweilen ü b e r d i e G r e n z e verkaufen E i n e e d l e Ritter- u n d L a n d s c h a f t w ü r d e a u c h s i c h

l) i n d a s r i c h t i g e V e r h ä l t n i s g e s e t z t ; 2) e i n ­ g e s c h r ä n k t .

(49)

— XLVIII —

selbst und ihrem Rufe prospizieren1). wenn in diesem Stü c k e e i n e h e i l s a m e M ä s s i g u n g b e l i e b e t u n d festgesetzt w ü r d e . "

J . E c k a r d t b e m e r k t z u d e n P r o p o s i t i o n e n d e s G r a f e n B r o w n e : „ U n d d o c h l ä s s t s i c h n i c h t n a c h w e i s e n , d a s s d i e v o m G r . B r o w n e g e b r a u c h t e n F a r b e n allzu grell o d e r allzu d i c k a u f g e t r a g e n g e w e s e n . " ( „ Z u r Ii v i . L a n d t a g s ­

g e s c h i c h t e " ; Balt. Monatsschrift, 1 8 6 9 , B . 18.. S . 442). T r a n s e h e m e i n t , e s e r s c h e i n e

„ n i c h t s e h r ü b e r t r i e b e n " , w e n n d e r L a n d t a g v o n 1 7 6 5 d i e B a u e r n „servi"-) u. s. w.

nenne.

Brownes Schilderung der Verhä l t n i s s e s t i m m t b i s auf E i n z e l h e i t e n m i t d e r v o n M e r k e l in s e i n e n „ L e t t e n " g e g e b e n e n ü b e r e i n . D a s g l e i c h e k ö n n e n wir a u c h v o n d e n s o n s t i g e n z e i t g e n ö s s i s c h e n Beschrei­

b u n g e n d e r Leibeigenschaft k o n s t a t i e r e n . D e r Verfasser einer v o n d i e s e n wird v o m L a n d t a g d e n n a u c h n a t ü r l i c h „boshafter I n s i n u a t i o n " bezichtigt.

D e r L a n d t a g b e a n t w o r t e t e d i e P r o p o s i ­ t i o n e n d e s G e n e r a l g o u v e r n e u r s m i t e i n e r a u s f ü h r l i c h e n E r k l ä r u n g u n d fasste e i n m ü t i g

V o r s o r g e t r e f f e n i m I n t e r e s s e j e m a n d e s . . .

2) S k l a v e n .

Referenzen

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