Kleine Welt
Garrison Keillor: Lake Wobegon, Die wahre Ge- schichte einer kleinen Stadt, die auf keiner Landkarte steht, Paul Zsolnay, 1987, 378 Seiten, 38 DM
Das junge Mädchen und der junge Mann aus dem
Mittleren Westen, die es in die Großstädte zieht, sind klassische Figuren des ameri- kanischen Romans Was treibt sie zur Flucht aus den gestaltlosen Orten, deren
Wahrzeichen das große Silo ist?
Ein Ort in Minnesota. Die Einwohner: Nachkommen norwegischer Protestanten und deutscher Katholiken.
Eherne Vorurteile gegenüber den Katholiken oder den sau- fenden Norwegern werden vererbt, Familienzwiste, de- ren Ursache niemand mehr kennt, eisern durchgehalten.
Zugleich gehören aber auch die Feinde in das Mosaik des vertrauten Lebens.
Lassen sich Vorurteile überhaupt überwinden, fragt sich der Leser oft, und er ris- kiert auch einen Blick in die eigene Umwelt. Der Autor überwindet sie mit liebevoll- wehmütiger Gelassenheit: so waren nun mal die Menschen seiner Kindheit. Es sind rüh- rende und lustige Geschich- ten, aber auch beklemmende Anklagen. Zumeist fehlt den Anekdoten der Knalleffekt, sie laufen einfach so aus, wie die echten Geschichten im Leben, die gewöhnlich auch keine Pointe haben. NJ
Spiel- sucht:
eine Fehl- diagnose?
Ist übermäßiges Automatenspiel eine lustvolle Leidenschaft, Ausdruck von persönlichen Problemen oder eine unheilbare Sucht?
Dirk Rohwedder, freier Medizin- journalist, vergleicht zum ersten Mal alle reißerischen Schlagzeilen und populärwissenschaftlichen Thesen mit fundierten wissenschaftlichen Er- kenntnissen.
Das Ergebnis dieser Analyse: Der Automat macht nicht süchtig. Men- schen, die ausufernd spielen, sind nicht süchtig! Menschen, die übermäßig an Automaten spielen, haben persönliche Probleme, die nichts mit dem Spiel oder dem Automaten zu tun haben.
Das Buch belegt eindrucksvoll, wie aus der wissenschaftlich wider- legten These von der „Spielsucht" in der öffentlichen Diskussion langsam der falsche Eindruck von ihrer „wah- ren" Existenz entsteht. So wird Wirk- lichkeit „gemacht".
Dirk Rohwedder Das Automatenspiel Moderne Freizeit-Gestaltung 9,80 DM
Zu bestellen bei:
Mittelstandsverlag-GmbH, Postfach 120370, 5300 Bonn 1.
Flucht aufs Land
Horst Karasek: Das Haus an der Grenze, eine Flucht- geschichte, Luchterhand, Darmstadt 1987, 9,80 DM
Bereits der Titel mit den Reizwörtern „Grenze" und
„Flucht" verrät die Thema- tik vorab in groben Zügen:
nicht die deutsch-deutsche Vergangenheitsbewältigung wird hier in erster Linie ange- sprochen, wenn auch die Grenze zur DDR gemeint ist, sondern die Flucht vor den eigenen Grenzen. Die Angst vor der Machtlosigkeit, der Unfähigkeit, sich gegen Kon- ventionen durchzusetzen, ist gemeint, wenn Maria eines Tages den Wunsch äußert, aus der Enge der Großstadt auf das Land in ein Bauern- haus an der Grenze zu ziehen.
Nach erfolgreichem Wie- deraufbau des zum Teil nie- dergebrannten Hauses und der Gewöhnung an die neue Umgebung stellen sich aber Dt. Ärztebl. 84, Heft 49,
auch hier bald unvorherseh- bare Schwierigkeiten ein.
Nachdem bereits Loki, das Stadtkätzchen, an den Tük- ken der Natur zugrunde ge- gangen ist, wird auch für die Städter das Leben in der ländlichen Umgebung immer mühsamer. Nicht zuletzt der Niveauunterschied zwischen den Zugereisten und den Dorfbewohnern führt zu Zwischenfällen und Span- nungen in dem kleinen Grenzort. Von BGS-Hub- schraubern und der blinden Nachbarin fühlen sie sich be- obachtet. Als die Barriere aus Mißtrauen, Intrige und Mißgunst unüberwindbar schien, bleibt dem Erzähler schließlich nur noch die Flucht zurück in die Groß- stadt. „Wir sind Verfolgte im eigenen Land" stellt der Er- zähler resignierend fest, als er aus dem Dachfenster auf den Belagerungsring des Amerikanischen General- konsulats schaut, nicht ah- nend, daß auch die Freiheit ihre Grenzen hat. UF 3. Dezember 1987 (89) A-3411