250 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 14⏐⏐3. April 2009
M E D I Z I N
Perzentile kann verwirren
Die Autoren haben mit dem kindlichen Übergewicht eines der wichtigsten aktuellen Themen der Gesund- heitsprävention untersucht und Einflussfaktoren über- zeugend dargestellt. Interessant waren die in der Unter- suchung dargestellten Einflüsse von Muttersprache, Be- wegung, Ernährungsverhalten und Medienkonsum. Für die Untersuchung dieser Einflussfaktoren ist im Quer- schnittsvergleich die gewählte Definition von Überge- wicht und Adipositas anhand der Perzentilenmethode akzeptabel (oberhalb der 90. beziehungsweise der 97.
alters- und geschlechtsspezifischen Perzentilen) und Unterschiede wie zum Beispiel nach nationaler Her- kunft werden sichtbar.
Im Längsschnitt kann die Perzentilenmethode jedoch zu Verwirrung führen. Selbst wenn jedes Einschulungs- kind im Untersuchungszeitraum von 2005/6 im Vergleich zu den Altersgenossen der Jahre 2003/4 (theoretisch) 10 kg mehr wiegt, wird sich an der Prävalenz des Überge- wichts berechnet nach der Perzentilenmethode (trotz mas- siver Gewichtszunahme der Kinder) nichts Grundsätzli- ches ändern. Für gesundheitliche, zum Beispiel kardiovas- kuläre Risikofaktoren ist die Perzentilenmethode sehr pro- blematisch. Bei den über 60-Jährigen besteht beispiels- weise in Deutschland zurzeit eine Hochdruckprävalenz von etwa 60 %. Also ist aufgrund des am kardiovas- kulären Risiko orientierten Grenzwertes von 140/90 mm- Hg schon oberhalb der 40. Perzentile der Blutdruckvertei- lung von einer arteriellen Hypertonie auszugehen.
Auch beim kindlichen Übergewicht sollten wie beim Blutdruck Grenzwerte definiert werden, die sich am ge- sundheitlichen Risiko und nicht an einer statistischen Ver- teilung orientieren. Möglicherweise liegt auch bei diesem Risikofaktor eine Gefährdung bereits bei deutlich niedri- geren Perzentilen vor. In jedem Fall sollten die absoluten Werte für Körpergewicht oder Body-Mass-Index ermittelt werden, ab denen das Gesundheitsrisiko ansteigt.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0250a
LITERATUR
1. Weber E, Hiebl A, Storr U: Overweight and obesity in children starting school in Augsburg—prevalence and influencing factors. [Prävalenz und Einflussfaktoren von Übergewicht und Adipositas bei Einschulungskin- dern: Eine Untersuchung in Augsburg.] Dtsch Arztebl Int 2008; 105 (51–52): 883–9.
Prof. Dr. med. Burkhard Weisser Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Sport und Sportwissenschaft Olshausenstr. 74, 24098 Kiel
Schlusswort
Die alters- und geschlechtsspezifischen Perzentile dienen primär der Einteilung in Untergewicht, Normalgewicht, Übergewicht beziehungsweise Adipositas. Dieser Festle- gung liegt eine statistische Verteilung einer Referenzpopu- lation zugrunde. Die Perzentile geben eine Orientierung über die Gewichtsentwicklung beim Individuum oder den Trend in einer Population. Damit sind sie relevant zur Schätzung und zum Vergleich von Prävalenzen auf Bevöl- kerungsebene. Wenn die Body-Mass-Index-Werte in der Population ansteigen, sind die Referenzdaten nicht mehr repräsentativ. Prävalenzdaten zu Übergewicht und Adipo- sitas fallen dann niedriger aus. Dies muss bei einer Dis- kussion um geeignete Referenzdaten berücksichtigt wer- den. Für Erwachsene gelten Grenzwerte, die auf Studien zu Risikowahrscheinlichkeiten für Morbidität und Morta- lität basieren. Wegen der geringen Inzidenz von Adiposi- tas-abhängigen Erkrankungen und mangels ausreichender longitudinaler Untersuchungen zum Gesundheitsrisiko der Adipositas im Kindes- und Jugendalter gibt es keine Grenzwerte für das gesundheitsgefährdende Ausmaß der Körper-Fett-Masse in diesem Altersbereich (1). In den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter wird zur Frage von Grenzwerten empfoh- len, das Überschreiten des 90. Perzentils und des 97. Per- zentils als auffällig beziehungsweise sehr auffällig zu be- zeichnen (1). Für die Bestimmung von Grenzwerten für kindliches Übergewicht ist eine intensive Forschung mit klar definierten Endgrößen, langem Beobachtungszeit- raum und großen Kohorten erforderlich. International gibt es einzelne epidemiologische Studien bei Kindern und Ju- gendlichen zum Zusammenhang von Adipositas und Mor- bidität im Erwachsenenalter. In Deutschland liegen aktu- elle Daten aus dem KiGGS-Survey und aus der Kieler Adipositas Prevention Study als Langzeitbeobachtung vor. Eine Verwendung der Ergebnisse dieser Untersu- chungen und eine Erweiterung im Sinne einer Weiterbe- obachtung einer KIGGS-Kohorte ließen vertiefende Fra- gestellungen zu Übergewicht als Risikofaktor für Folgeer- krankungen zu (2). DOI: 10.3238/arztebl.2009.0250b
LITERATUR 1. www.a-g-a.de
2. Kurth BM, Schaffrath Rosario A: Die Verbreitung von Übergewicht und Adi- positas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des bun- desweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS). Bundesgesund- heitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2007; 50: 736–43.
3. Weber E, Hiebl A, Storr U: Overweight and obesity in children starting school in Augsburg—prevalence and influencing factors. [Prävalenz und Einfluss- faktoren von Übergewicht und Adipositas bei Einschulungskindern: Eine Un- tersuchung in Augsburg.] Dtsch Arztebl Int 2008; 105 (51–52): 883–9.
Dr. med. Elisabeth Weber MPH Gesundheitsamt Stadt Augsburg Hoher Weg 8, 86152 Augsburg E-Mail: gesundheitsamt.stadt@augsburg.de
Interessenkonflikt
Die Autoren beider Beiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
zu dem Beitrag
Prävalenz und Einflussfaktoren von Übergewicht und Adipositas bei Einschulungskindern –
Eine Untersuchung in Augsburg
von Dr. med. Elisabeth Weber, MPH, Dipl.-Oecotroph. (univ.) Alexandra Hiebl, Dr. med. Ulrich Storr in Heft 51–52/2008