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Egal-Bar oder Wie es wirklich war

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Academic year: 2022

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Egal-Bar oder Wie es wirklich war

„Wie ich Anfang der 90er von Budapest nach München gekommen bin, hab ich eine Weile in einer Unterkunft für Bauarbeiter gewohnt. Da waren zwei ... also, die waren zum ersten Mal aus Ungarn über den Eisernen Vorhang nach München gekommen, und jetzt sehen die in der Innenstadt den Karstadt, die großen Schaufenster, voll mit freundlich angestrahlten Sachen. Die haben gesehen, nachts ist da menschenleer, keine Sau auf den Straßen, und haben sich einen Hammer besorgt, und hin da. Der eine drischt also mit dem Vorschlaghammer auf die Scheibe, hat aber noch nie was von Sicherheitsglas gehört, der Hammer federt zurück und seinem Kollegen voll auf die Zwölf. Nix wie weg, Fersengeld, ab in die U-Bahn, dort sind sie schon aufgefallen, weil der eine aus der Fresse geblutet hat wie ein abgestochenes Schwein. Zum Schaffner haben sie gesagt, wir sind beide Hammerwerfer und hatten beim Training ein Missgeschick. Hat man sie laufen lassen. Dann wurden sie aber am nächsten Tag doch noch geschnappt, weil sie der Polier angezeigt hat, weil ausm Container Werkzeug verschwunden war."

„Oder Pavel, wie der 89 das erste Mal aus Moskau da war, wie er im Kaufhaus große Augen gekriegt hat: Achtzehn Sorten Scheißhauspapier!"

„Bei uns in Polen gabs auch nur selten Klopapier, da hatte man immer ein Stück Schnur in der Tasche dabei, damit man sich gegebenfalls rasch in die Schlange einreihen und soviele Rollen wie möglich auf die Schnur auffädeln konnte. Wenn man bei jemandem eingeladen war, hat man als Gastgeschenk Klopapier mitgebracht.“

„Und dann haben sich alle gefreut, oder was? Endlich mal wieder richtig kacken!

Kollektive Scheißparty!"

„Sonst hat man ja Zeitungen genommen, da hat man die Seiten so lange hin und her gerubbelt und geknittert, bis das Papier schmiegsam war."

„Was die Leute auf der Straße so alles von sich geben ... neulich lauf ich durch die Wohlwillstraße, vor mir geht n Mädchen, die brüllt volle Lautstärke in ihr Handy rein, erzählt ihrer Freundin von irgendnem Typen, mit dem sie was gehabt hat: ‚Und dann hat er abgespritzt, und dann hat er gesagt Ich liebe dich!'"

„Macht man das nicht eigentlich umgekehrt?"

„Das ist noch gar nix. Vor kurzem fahr ich am Grindelberg aufm Fahrrad hinter so nem Typen her, älterer Typ, Angestellter, Aktentasche aufm Gepäckträger, und vor ihm läuft mitten aufm Fahrradweg so ein Waldschrat, höchstens so groß. Der Typ

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vor mir bremst ab, fährt ganz langsam, hüstelt, der Alte weicht nicht, sagt der Typ ganz leise, höflich: ‚Achtung, Fahrradweg' ... da dreht sich das Männchen um, rudert mit den Armen und brüllt, eine Stimme wie ein Nebelhorn: ‚Du Fotzenlecker! Dich hol ich gleich vom Rad runter! Hast wohl schon lange keine mehr gelangt gekriegt!' Noch n halben Kilometer hat er hinter uns hergezetert, ganz großes Kino."

„Karl ist tot."

„Hast du schon gesagt. Elendiglich an Lungenkrebs."

„Und dass Pavel gestorben ist, weißt du auch schon?"

„Ich war damals sein Trauzeuge. Ich kann mich noch genau erinnern, wie er damals an Bord kam, aus Petersburg. Wir haben gerade im Laderaum 4 die Treppe gebaut, die ganze Nacht durch, weil die ja fertig werden musste für den GL, und wenn wir Pause gemacht haben, hab ich mit Pavel in der Metallwerkstatt ne gepflegte Pilsette gepichelt. Da hat er sich immer so komisch die Hand vor den Mund gehalten, wenn er lachen musste, und dann hab ich immer versucht, ihn die ganze Zeit zum Lachen zu bringen, weil er gerade deshalb so ein hübsches Lachen hatte, weil er sich für seine schlechten Zähne geschämt hat. Und später fuhr er wieder nach Russland und kam zurück mit einem strahlenden breiten Grinsen, die ganze Fressleiste pures Gold.“

„Ja, sein Vater war doch Holzbegutachter, nicht, der ist doch in Sibirien rumgereist und hat das frisch geschlagene Holz begutachtet, in Qualitätsklassen eingeteilt."

„Kannst du dich noch an den Kerl erinnern, der im ersten Jahr Hamburg an Bord kam, war der von der Seemannsmission oder was“ –

„Nein, Unsinn! Der wollte uns auf irgend so einen Ball einladen, einen Heizerball, so hat er gesagt. Alte Schokolade hatte er mitgebracht, schon ganz weißlich, und irgendwelche Wimpel, auf denen das Abzeichen vonner Reederei drauf war, das aussah wie das Kreuz von der Viking-Jugend, und hat uns vollgesabbelt, und wir haben stundenlang ganz fasziniert zugehört, weil dem ein unglaublicher Busch von schwarzen Haaren aus der Nase wuchs, dass es aussah wie ein Hitlerbart, dem Alten wuchs original ein Hitlerbart ausm Nasenloch.“

„Und der junge Seemann erst, den wir für die Überfahrt angeheuert hatten. Der war zu DDR-Zeiten Ringer, hat in seiner aktiven Zeit auf Wettkämpfen eine Goldmedaille nach der anderen gewonnen. Aber jetzt kommt’s: Er hat nur deshalb gewonnen, meinte er, weil er den Kampf so verabscheute. Er wollte ihn einfach immer so schnell wie möglich beenden und hinter sich bringen. Deshalb ist der den Muskelprotzen immer sofort in die Beine gegangen, die dann auf den Rücken fielen wie hilflose Käfer. Bald steckte er bis zum Hals in der Sportler-Zucht-Maschine. Aber

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das Gefühl des Abscheus hörte nie auf. Er empfand kein bisschen Freude über seine Siege. Drei Jahre hielt er das durch, und als er sich endlich zu dem Entschluss durchgekämpft hatte, damit aufzuhören, kamen natürlich die Trainer, die Funktionäre, und machten Druck. Aber er ist trotzdem einfach nicht mehr hingegangen. Wegen seiner Bärenstärke, seiner Gestalt hatte er dann aber immer noch das Gefühl, irgendwie sei er ja von Natur her geradezu verpflichtet, sich in der Richtung zu betätigen, und machte deshalb zwei Jahre Taekwondo bis zum blauen Gürtel. Dann kam die Wende, und in der Bundeswehr steckten sie ihn zu den Feldjägern, ein Milieu, in das er auch überhaupt nicht reinpasste. Dann entdeckte er durch einen Bekannten seine Freude am Singen. Als er bei uns anheuerte, sang er aktiv im Kirchenchor und seine Leidenschaft waren Gesangswanderungen durch die freie Natur.“

„Das erinnert mich an die Hure, die ich neulich kennengelernt hab, und die mir erzählte, dass sie sich vor Sperma furchtbar ekelt. Das ist doch tragisch, nicht, wenn man beruflich zur Aufgabe hat, nach allen Regeln der Kunst genau das hervorzulocken, wovor man den allergrößten Widerwillen hat.“

Die Kneipengeschichte ist eine Form der mündlichen Überlieferung, freilich eine äußerst flüchtige. Ihr Stoff reicht zeitlich nicht über die Schicksale und Erfahrungen eines individuellen Menschenlebens hinaus, sie stirbt mit ihren Protagonisten, aber dafür strotzt sie von konkreten Einzelheiten, Momentaufnahmen, Situationen und Zusammenhängen: sprachliche Schnappschüsse, die mehr Wirklichkeit enthalten können als der ganze Herodot oder Aristophanes.

Wenn sich abends oder am Wochenende nach ein paar Gläsern Bier oder Wein unter Freunden die Zunge und die innere Selbstzensur ein Stück weit gelöst hat, brennt zuweilen in der Euphorie des Augenblicks ein jähes Feuerwerk des inneren Lebens ab, das jedoch am nächsten Morgen meist schon wieder vergessen ist. Vielleicht kommt einem am Frühstückstisch der eine oder andere Satz wieder in den Sinn, eine gelungene Wortschöpfung, die eine oder andere unglaubliche Behauptung, man schmunzelt, während man sich die Marmelade aufs Brot streicht, kriegt aber schon die Zusammenhänge durcheinander, und dann muss das Kind in die Krippe, das Telefon klingelt, noch rasch mit dem Fahrrad zur Post.

Die Kneipengeschichte ist ein soziales Produkt, das keinen Autor hat, sondern nur einen Erzähler. Dabei gibt es jedoch keine Rampe, die Erzähler und Zuhörer voneinander trennt, jeder kann wechselweise oder auch komplett durcheinander den einen oder anderen Part dabei übernehmen. Wichtig ist, wer die lautere Stimme hat,

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wer mit dem größten Maul von allen auf sein Recht pocht, den anderen mitzuteilen, wie es wirklich war. Aber meistens ist die Kneipengeschichte ein kollektives Konstrukt, das aus einer konkreten Gesprächssituation heraus improvisiert und, je öfter man sie erzählt, kollektiv immer weiter variiert und abgerundet wird, bis sie einmal die endgültige Form einer Anekdote angenommen hat. Und nicht zuletzt fordert jede Geschichte immer auch dazu heraus, die eben erzählte Geschichte mit einem noch drastischeren Erlebnis zu toppen.

Wenn also Freunde, die sich schon seit langem kennen, vertraut und gesellig beisammen sitzen, kann der Kneipentisch nach den Regeln der Mengenlehre manchmal eine gemeinsame Schnittmenge bilden, einen geistigen Raum, in dem aus der Tiefe der Zeit plötzlich Erinnerungen an Situationen und Ereignisse nach oben gespült werden: zunächst verschwommen wie eine tote Qualle in einem trüben Hafenbecken, dann immer präziser wie eine Fotografie in der Entwicklerschale unter der roten Funzel in der Dunkelkammer, Alchemie, die Wasseroberfläche fängt an sich zu kräuseln, Schaum bildet sich, und plötzlich steigt schillernd eine Seifenblase in die Luft, der alle einen Augenblick nachsinnen –

„Dem Zdenek sollte man doch auf die Hand scheißen!“

Die dralle Wirtsperson tritt an den Tisch, sie trägt die Suppenterrine vor sich her wie einen Rennpokal.

„Hundertsechsundzwanzig Mal am Tag hab ich ihm gesagt, dass die Temperaturanzeige am Ofen falsch geht, jetzt sind die Buchteln wieder schwarz!“

Sie geht nicht gleich wieder weg, sondern bleibt stehen, die Hände in die Seiten gestützt, und schaut zu, wie ich den ersten Löffel behutsam in mich reinschlürfe, dicken heißen Brei, ohne Geruch oder Geschmack zu empfinden. Glühendes Magma rinnt mir die Kehle runter durch die Speiseröhe in den Magen.

Triumphierend schaut sie in die Runde:

„Tak dobrou polívku v Nemecku nemáte, ze ne?! So ne gute Suppe gibt's in Deutschland nicht, was!“

In Norddeutschland ist die gut erzählte, mitreißend vorgetragene Kneipengeschichte eine Kunstform, die selten anzutreffen ist, und wenn, dann stößt sie oft auf Unverständnis. Eine gewisse Steifheit gehört hier zum guten Ton, zumal bei der jeunesse dorée, unter Intellektuellen und Akademikern. Man schaffts nicht, aus sich herauszugehen, hat Angst, sich zu blamieren. Deshalb ist die Kneipengeschichte eher die Literatur des vierten Standes, der es jedoch auch nicht mehr nötig hat, in der Kneipe zum Besten zu geben, was einem im Leben so alles zustößt; zu Hause

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berieselt einen der Fernseher oder das Radio viel bequemer mit künstlichen Schicksalen, als wenn man sich in der Kneipe gegenseitig was erzählt.

Die Kneipengeschichte lebt nicht vom Denken und Bescheidwissen, sondern vom

„diamantenen Auge der Inspiration“, von der unvoreingenommenen Erfahrung, die einen jeden Tag mit neuer Ratlosigkeit zurücklässt. Für eine gute Kneipengeschichte ist deshalb Bildung geradezu hinderlich, denn die Kneipengeschichte will nicht belehren, sie will zum Lachen bringen, zum Staunen oder zum Erschrecken. Die gute Kneipengeschichte lässt sich auf keinen Nenner bringen, auf keine Weisheit am Schluss reduzieren, sie oszilliert als Ganzes im Niemandsland zwischen Realität und Traum. Sie transponiert ihr Material, die empirische Realität aus konkreten Situationen, Erfahrungen und Erlebnissen, auf die Ebene der Groteske, des Mythos, des surrealen Traums. Die Kneipengeschichte ist die poetische Levitation der Lebensnöte, eine auf wenige Sekunden reduzierte Komödie, ein Tremolo aus Mutterwitz und schwarzem Humor, und ihre Schlusskadenz zielt nicht auf Erkenntnis, sondern auf das Irrationale. Die Kneipengeschichte vermag den empirisch erfahrenen, alltäglichen, ganz normalen Irrsinn in die Transzendenz zu fabulieren, sie schafft unvermittelt, oft zum eigenen Erstaunen des Erzählers, aus einem gewöhnlichen Auffahrunfall im Handumdrehen Metaphysik.

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