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Einleitung. Juden im Generalgouvernement im Herbst 1941

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Einleitung

Im August 1941 deutete vieles darauf hin, dass das nationalsozialistische Deutschland den Krieg in der Sowjetunion gewinnen und anschließend eine dauerhafte Herrschaft in Europa errichten würde. Für die Juden im besetzten Polen war diese Perspektive kata- strophal. Viele von ihnen lebten schon seit geraumer Zeit eingepfercht in einem der zahl- losen von der Beatzungsmacht geschaffenen Gettos, doch nur wenige ahnten, dass ihre totale Vernichtung, die Ermordung nahezu jedes Einzelnen, drohte. Das Generalgouver- nement war das Gebiet unter deutscher Herrschaft, in dem zu Beginn des Holocaust die größte jüdische Minderheit ansässig war – insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen – und in dem das dichteste Netz jüdischer Gemeinden in Europa bestand.

Der vorliegende Band dokumentiert die Verfolgung und Ermordung der Juden vom 1. August 1941, als das zuvor sowjetisch besetzte Ostgalizien dem Generalgouvernement zugeschlagen wurde, bis zum Beginn des Jahres 1945, als die Rote Armee den größten Teil des Gebiets einnahm und die Überlebenden befreite. Fast zwei Millionen Menschen wur- den in diesem Zeitraum ermordet, die meisten in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ (Belzec, Sobibor und Treblinka), in denen die Opfer in eigens für diesen Zweck errichteten stationären Tötungseinrichtungen mit Motorabgasen erstickt wurden.

Zehntausende Juden starben außerdem in vielen anderen Lagern, u. a. dem Konzentra- tionslager Lublin-Majdanek, sowie in den Gettos.

Dieser Band ist ausschließlich der Entwicklung im Generalgouvernement gewidmet, während die Judenverfolgung in den vom Deutschen Reich annektierten polnischen Ge- bieten (Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland, Regierungsbezirke Zichenau und Kattowitz sowie der Bezirk Bialystok) im selben Zeitraum, zwischen Sommer 1941 und 1945, in Band 10 der Edition behandelt wird. Das Geschehen in beiden Regionen während der ersten beiden Kriegsjahre stellt Band 4 der Edition dar. Die Verbrechen, die an den ostgalizischen Juden im Juni/Juli 1941 während der ersten Wochen des Kriegs gegen die Sowjetunion und vor dem Anschluss Ostgaliziens an das Generalgouverne- ment begangen wurden, werden in Band 7 dokumentiert.

Juden im Generalgouvernement im Herbst 1941

Die meisten polnischen Juden lebten im Jahr 1941 in dem Gebiet, das die deutschen Be- satzer als eine Art koloniales „Nebenland des Reiches“ im Oktober 1939 in Zentral- und Südpolen geschaffen hatten und als Generalgouvernement bezeichneten.1 Dagegen waren Ostgalizien und das gesamte Ostpolen 1939 von sowjetischen Truppen besetzt worden.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurde das Gebiet von

1 Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reichs gegenüber dem Generalgouvernement 1939 – 1945, unveröffentlichte Diss. Phil. Univ. Frankfurt a.  M. 1969; Czesław Madajczyk, Poli- tyka III Rzeszy w okupowanej Polsce, Warszawa 1970, gekürzt dt.: Die Okkupationspolitik Nazi- deutschlands in Polen 1939 – 1945, Berlin 1987.

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den Deutschen erobert und Ostgalizien dem Generalgouvernement zugeschlagen, das sich nun aus den fünf Distrikten Krakau, Lublin, Radom, Warschau und Galizien zusam- mensetzte.

An der Spitze stand Generalgouverneur Hans Frank; als Franks Staatssekretär fungierte Josef Bühler, der im Januar 1942 das Generalgouvernement auf der Wannsee-Konferenz vertrat. Frank war Adolf Hitler direkt unterstellt, musste aber hinnehmen, dass SS und Polizei in seinem Herrschaftsgebiet im Laufe der Zeit immer mehr Kompetenzen an sich zogen und ihre Weisungen nicht von ihm aus Krakau, sondern direkt aus Berlin vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler erhielten. Die Zivilverwaltung wie auch der Apparat von SS und Polizei waren im Generalgouvernement für die Verfolgung und Ermordung der Juden verantwortlich.2

Die Lage der Juden im Generalgouvernement war deutlich schlechter als in den anderen deutsch besetzten Gebieten.3 Zwar hatte es im Generalgouvernement bis Anfang August 1941 noch keine systematischen Massenmorde gegeben, wie sie nach dem deutschen Überfall von Juni 1941 an in der besetzten Sowjetunion verübt wurden. Dennoch hatte die deutsche Besatzungsmacht in den nicht einmal zwei Jahren seit Kriegsbeginn die jüdische Bevölkerung vollständig entrechtet, enteignet und weitgehend isoliert. Gegen die besonders gering geschätzten „Ostjuden“4 ging die deutsche Verwaltung in Polen erbarmungslos und erheblich gewalttätiger vor als etwa gegen die Juden im besetzten Mittel- und Westeuropa. Anders als dort wurden in Polen von Oktober 1939 an die er- sten Gettos eingerichtet, zunächst in einigen großen Städten im Distrikt Warschau, im Frühjahr 1941 dann auch in den anderen Distrikten.5 Aus dem Westteil des Distrikts Warschau mussten sogar alle Juden ins Warschauer Getto ziehen, wo sie als Vertriebene noch schlechtere Bedingungen vorfanden als die Mehrheit der dort ansässigen Getto- bewohner.

2 Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939 – 1944, Stuttgart 1999; ders., Verfolgung und Vernichtung der Juden im Generalgouvernement. Die Zivilverwaltung und die Shoah, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 187 – 203; Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen – Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009.

3 Artur Eisenbach, Hitlerowska polityka zagłady Żydów, Warszawa 1961; Faschismus – Getto – Mas- senmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des 2.  Weltkrieges, hrsg. vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau, Berlin 1961; Manfred Blank, Zum Beispiel: Die Ermordung der Juden im „Generalgouvernement“ Polen, in: NS-Pro- zesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglichkeiten – Grenzen – Ergebnisse, hrsg. von Adalbert Rückerl, Karlsruhe 1971, S. 35 – 64; Frank Golczewski, Polen, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimen- sion des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 411 – 497; Christopher Browning, Mehr als Warschau und Lodz. Der Holocaust in Polen, in:

ders., Der Weg zur „Endlösung“. Entscheidungen und Täter, Bonn 1998, S. 127 – 148; Dieter Pohl, Die Ermordung der Juden im Generalgouvernement, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozia- listische Vernichtungspolitik 1939 bis 1945, Frankfurt a. M. 1998, S. 100 – 126; Dieter Pohl, Die „Ak- tion Reinhard“ im Licht der Historiographie, in: Bogdan Musial (Hrsg.), Die „Aktion Reinhardt“, Osnabrück 2004, S. 15 – 47.

4 Zur Begriffsgeschichte und -problematik vgl. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918 – 1933, Hamburg 1986, S. 11 ff.

5 Die Gettoisierung in dieser ersten Phase der deutschen Besatzung wird in der Einleitung von VEJ 4, S. 46 – 48, zusammenfassend dargestellt.

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15 Juden im Generalgouvernement im Herbst 1941

Die beengten Verhältnisse in dem viel zu kleinen Gebiet, vor allem aber die unzurei- chende Versorgung mit Lebensmitteln, Heizmaterial und Medikamenten hatten zur Folge, dass zahlreiche Juden hier bereits vor Beginn der systematischen Massenmorde umkamen. Vom Frühjahr 1941 an starben jeden Monat Tausende, vor allem die Schwäch- sten unter ihnen, Kinder und alte Menschen.6

Die Errichtung der Gettos folgte keinem detailliert vorgegebenem Plan, sondern hing von der Entscheidung der regionalen Behörden wie der Bürgermeister oder Kreishaupt- leute ab. Oft erklärte die lokale Besatzungsverwaltung ein bestimmtes Stadtviertel mit besonders schlechter Infrastruktur zum Getto, das alle nichtjüdischen Polen verlassen und in das alle Juden aus anderen Stadtteilen umziehen mussten. Aus Mangel an Bau- material und Bewachungspersonal waren viele dieser Gettos aber nicht hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, vor allem nicht an den Stadtgrenzen. Den Insassen war es jedoch bei Androhung der Todesstrafe verwehrt, das ihnen aufgezwungene Wohnviertel zu ver lassen.7

Die Nachricht vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 löste bei vielen Juden zunächst Freude und die vorsichtige Hoffnung auf Befreiung nach einem sowjeti- schen Sieg über Hitler-Deutschland aus. Im Krakauer Getto notierte Halina Nelken in ihrem Tagebuch: „Wieder ist Krieg (mit Rußland). Alle freuen sich, sogar solche Pessi- misten wie unsere Nachbarn.“8 Die Gettobewohner diskutierten kontrovers über die Be- deutung dieser neuen Entwicklung, und bald verbreiteten sich Gerüchte über eine angeb- liche deutsche Niederlage. Doch schon wenig später erfuhren die Menschen durch ins Getto geschmuggelte Zeitungen und ausländische Radiosender, dass die deutsche Kriegs- maschinerie anscheinend unaufhaltsam immer weiter nach Osten vordrang und dass von einer baldigen Befreiung keine Rede sein konnte. Zudem sickerten auch erste Informatio- nen über die Gräuel in den neu besetzten Gebieten durch, in denen viele Juden aus dem Generalgouvernement Verwandte und Freunde hatten.9

Auch der Beginn der systematischen Massenmorde im weiter westlich gelegenen Warthegau, der Region um Posen und Lodz, blieb im Generalgouvernement nicht un- bemerkt. So erreichte im Februar 1942 der Bericht eines aus dem Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) geflüchteten Juden das Untergrundarchiv „Oneg Schabbat“ (hebrä- isch: Schabbatfreude) des Historikers Emanuel Ringelblum und seiner Mitarbeiter im

6 Yisrael Gutman, The Jews of Warsaw, 1939 – 1943. Ghetto, Underground, Revolt, Bloomington 1982;

Ruta Sakowska, Menschen im Ghetto. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau 1939 – 1943, Osnabrück 1999; Barbara Engelking, Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven, London 2009; Markus Roth, Andrea Löw, Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2013.

7 Zu den Gettos vgl. Gustavo Corni, Hitler’s Ghettos. Voices from a Beleaguered Society, 1939 – 1945, London 2002; Im Ghetto 1939 – 1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, hrsg. von Chris- toph Dieckmann, Babette Quinkert, Göttingen 2009; Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust, hrsg. von Guy Miron u. a., Göttingen 2013; The United States Holocaust Memorial Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933 – 1945, Bd. 2: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe, hrsg. von Martin Dean, Bloomington 2012.

8 Halina Nelken, Freiheit will ich noch erleben. Krakauer Tagebuch, Gerlingen 1996, S. 116 (Eintrag vom 22. 6. 1941).

9 Emanuel Ringelblum, Kesovim fun geto, Bd. 1: Togbukh fun varshever geto, Warszawa 1961, S. 342 (Eintrag vom 26. 2. 1942); Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939 – 1942, München 1986, S. 235 (Eintrag vom 13. 3. 1942).

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Warschauer Getto. Doch nur wenige der in den Gettos Eingeschlossenen verfügten über vergleichbare Informationsquellen, und die Berichte über Massenmorde bezogen sich in jenen Wochen und Monaten zunächst noch nicht auf das Generalgouvernement selbst und wurden dementsprechend überwiegend mit großer Skepsis aufgenommen, weil Verbrechen solchen Ausmaßes völlig unvorstellbar waren.10

Im Generalgouvernement war die Gewalt gegen Juden ein alltägliches Phänomen. Ende August 1941 wurden, um eine dort ausgebrochene Seuche einzudämmen, 50 Häftlinge des Zwangsarbeitslagers Osowa erschossen (Dok. 6). An der Jahreswende 1941/42 be- schlagnahmten die Besatzer bei den Gettobewohnern Unmengen von Pelzen zugunsten der deutschen Soldaten an der Ostfront (Dok. 28). In zahllosen Fällen bedurfte es nicht einmal mehr eines vorgeschobenen Anlasses, um Juden zu töten. Deutsche Gettowachen machten sich ein Vergnügen daraus, wahllos auf Juden im Getto zu schießen.

Bei den Fleckfieberepidemien im Generalgouvernement machten die Besatzungsfunk- tionäre wiederholt die Juden als „Seuchenträger“ verantwortlich. Ausgerechnet die deut- sche Medizinalverwaltung, die den Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der gesundheitlichen Schwächung der Verfolgten selbstverständlich kannte, plädierte nun dafür, die Gettos hermetisch abzuriegeln und die Flucht von dort mit der Todesstrafe zu ahnden, um so die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern (Dok. 14).11 Am 15. Oktober 1941 erließ die Regierung des Generalgouvernements eine entsprechende Verordnung (Dok. 13). Kurz darauf begannen die deutschen Sondergerichte, Juden, die nach der Flucht aus dem Getto aufgegriffen worden waren, im Schnellverfahren zum Tode zu verurteilen (Dok. 25). Angesichts der Vielzahl der Verhaftungen häuften sich jedoch die Beschwerden der deutschen Justiz, sie sei mit diesen Verfahren überlastet. Deshalb er- ließen Ordnungs- und Sicherheitspolizei im Generalgouvernement Befehle, wonach alle Juden, die außerhalb von Ortschaften aufgegriffen wurden, ohne weitere Gerichtspro- zesse erschossen werden sollten (Dok. 17; vgl. Dok. 26).

Im Sommer 1941 waren im Generalgouvernement riesige sogenannte Stammlager für sowjetische Kriegsgefangene errichtet worden, etwa in Chełm, Lemberg oder Siedlce;

auch das Konzentrationslager Lublin-Majdanek war zunächst als Kriegsgefangenenlager geplant worden. In diesen Lagern grassierten Seuchen, deren Übergreifen auf die Gettos die Besatzer fürchteten. Zwischen Oktober 1941 und Mai 1942 starben allein in den Stammlagern im Generalgouvernement etwa 270 000 Rotarmisten an Unterernährung und Krankheiten.12 Zudem wurden auch in diesen Lagern bestimmte Gruppen von Ge- fangenen, vor allem jüdische Rotarmisten und Politfunktionäre, von Offizieren der Wehrmacht aussortiert und anschließend von Polizeieinheiten erschossen. Dies war der erste große Massenmord im Generalgouvernement, der in seinen Dimensionen den Verbrechen glich, die SS- und Polizeieinheiten in der besetzten Sowjetunion verübten:

10 Der Bericht ist abgedruckt in Ruta Sakowska, Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspoli- tik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer, Berlin 1993, S. 159 – 185; Yitzhak Zuckerman, A Surplus of Memory. Chronicle of the Warsaw Ghetto Uprising, Berkeley, Los An- geles, Oxford 1993, S. 156 f.

11 Willi Dreßen, Volker Rieß, Ausbeutung und Vernichtung. Die Gesundheitspolitik im General- gouvernement, in: Norbert Frei (Hrsg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, Mün- chen 1991, S. 157 – 171.

12 Wiesław Marczyk, Jeńcy radzieccy w niewoli Wehrmachtu na ziemiach polskich w latach 1941 – 1945, Opole 1987.

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17 Der Alltag in den Gettos

In der Zeit vom 21. bis 28. September erschoss beispielsweise das Polizeibataillon 306 etwa 5000 sowjetische Kriegsgefangene, die die Sicherheitspolizei im Stammlager Biala Podlaska selektiert hatte.13

Der Alltag in den Gettos

Vor allem in den großen, in der Regel stärker abgeschotteten Stadtgettos war die Lage katastrophal. Mehrere Familien lebten in kleinen Wohnungen auf engstem Raum und unter zumeist miserablen hygienischen Bedingungen; auch auf den Straßen drängten sich die Menschen. Roma Ligocka beschrieb dies in ihren Erinnerungen an das Getto in Krakau, das Ende 1941 mit mehr als 18 000 Bewohnern vollkommen überfüllt war: „Alle reden und drängeln und schubsen und fassen mich an. Immer sind viele Menschen um mich. Draußen, auf den engen Gassen. Drinnen, in der schmutzigen kleinen Küche, wo die Frauen kochen und um den Platz am Herd streiten.“14

Die offiziellen Lebensmittelrationen waren derart niedrig, dass die meisten Gettobewoh- ner nie genug zu essen hatten. Die Bestimmungen der Besatzer sahen 1941 eine reguläre Tageskalorienzahl für Deutsche von 2310 kcal, für Polen von 654 kcal, für Juden jedoch von gerade einmal 184 kcal vor.15 Der Hunger war dramatisch und beherrschte den All- tag – es gibt kaum ein Selbstzeugnis, in dem er nicht thematisiert würde. Marcel Reich- Ranicki beschreibt in seinen Erinnerungen das Bild, das sich ihm tagtäglich im War- schauer Getto bot: „Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte.“16 Im Warschauer Getto notierte der Lehrer Michał Zylberberg, ein Weggefährte des Pädagogen Janusz Korczak, in sein Tagebuch, dass während der Beisetzung der Toten auf dem Jüdischen Friedhof stets einige Hundert deutsche Soldaten anwesend waren:

„Sie fotografierten gut gelaunt die Toten, begleiteten Angehörige und gingen sogar so weit, Schnappschüsse von den Toten zu machen, die in der Leichenhalle aufgebahrt waren. Besonders eifrig waren die Nazis damit an Sonntagen, wenn sie den Friedhof mit ihren Freundinnen aufsuchten. Mehr als das Kino war dies ein Ort der Unterhaltung.“17 Zur Mangelernährung kamen Kälte und Krankheiten: Im Winter 1941/42 froren Leitun- gen und Abflussrohre ein, die Toiletten – häufig gab es ohnehin nur offene Latrinen in den Hinterhöfen – konnten nicht mehr benutzt werden. Heizmaterial war wenig vorhan- den, so dass es in den Wohnungen oftmals kaum wärmer war als draußen. Die Menschen liefen in Decken gehüllt durch die Straßen oder verkrochen sich frierend in den Betten;

13 Jan Piętrzykowski, Stalag 367. Obóz jeńców radzieckich w Częstochowie, Katowice 1976; Edward Kopówka, Stalag 366 Siedlce, Siedlce 2004; Tadeusz Mencel (Hrsg.), Majdanek 1941 – 1944. Lublin 1991; Stefan Klemp, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegs justiz – ein Handbuch, Essen 2005.

14 Roma Ligocka, Das Mädchen im roten Mantel, München 2000, S. 14.

15 Czesław Pilichowski, Verbrauch von Nahrungsmitteln durch jüdische Bevölkerung und Häftlinge der Okkupationslager im besetzten Polen, in: Studia Historiae Oeconomicae 17 (1982), S. 205 – 215, hier S. 208.

16 Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 212.

17 Michael Zylberberg, A Warsaw Diary 1939 – 1945, London 1969, S. 31.

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sie trugen alles am Leib, was sie noch besaßen. Bettler bevölkerten die Straßen. Doch konnten sie angesichts der allgemeinen Verarmung und der Abstumpfung gegenüber dem Elend immer weniger mit Almosen rechnen. Emanuel Ringelblum stellte im Okto- ber 1941 in seinem Tagebuch fest: „Seit einiger Zeit macht sich das furchtbare Schwinden von Mitleid bemerkbar. Die Leute gehen auf der Straße und sehen Kinder, abgemagert wie Skelette, barfuß und nackt, die ihre blau gefrorenen Füße ausstrecken, und niemand nimmt davon Notiz. Menschen sind zu Stein geworden.“18

Sophie Lewiathan erinnerte sich kurz nach dem Krieg, im Warschauer Getto habe pha- senweise nahezu jedes dritte Haus die Aufschrift „Fleckfieber, Eintritt verboten“ getragen, und die Menschen seien buchstäblich gestorben „wie Fliegen“.19 Ärzte und Kranken- schwestern versuchten zu helfen, doch konnten sie, da es an Krankenhäusern und Medi- kamenten fehlte, nur wenig ausrichten. Wer überleben wollte, war angesichts viel zu ge- ringer offizieller Rationen auf den erheblich teureren Schwarzmarkt angewiesen. Die dort gekauften Lebensmittel und Medikamente erreichten das Getto vor allem durch Schmug- gel. Diejenigen, die über einen Arbeitsplatz außerhalb des Gettos verfügten, hatten durch den Kontakt mit Nichtjuden mitunter die Möglichkeit, Lebensmittel zu besorgen. Andere suchten geheime Wege, um das Getto zu verlassen bzw. bestachen deutsche und polni- sche Wachen an den Gettotoren. Im Warschauer Getto wurden Kinder, die sich durch Lücken der Abriegelungen und Mauern hindurchzwängten, durch Schmuggel mitunter zu den Ernährern ganzer Familien20 – dies jedoch stets unter Lebensgefahr, denn bei Entdeckung drohte die sofortige Erschießung. Zahlreiche Schmuggler kamen bei dem Versuch ums Leben, Lebensmittel oder Medikamente ins Getto zu holen.21

Die Gettobewohner bemühten sich nach Kräften um Arbeitsplätze, am besten außerhalb des Gettos. Arbeit sicherte ihnen eine zumindest karge Existenz durch eine geringe Bezahlung in Form von Geld oder, was unter den gegebenen Bedingungen zumeist von Vorteil war, den Zugang zu Lebensmitteln. Mit dem Beginn der Deportationen 1942 schützte die Arbeit nicht nur vor Hunger: Die als arbeitsunfähig eingestuften Juden wa- ren in der Regel die Ersten, die die Züge in die Vernichtungslager besteigen mussten.

Neben den kurz nach Kriegsbeginn auf deutschen Befehl hin gebildeten Judenräten ar- beitete die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS) in den Gettos. Sie war die einzige von den Deutschen anerkannte jüdische Hilfsorganisation im Generalgouvernement, hatte ihren Sitz in Krakau, unterhielt zahlreiche Zweigstellen in anderen Städten und war für die ansonsten völlig auf sich gestellten Judenräte oftmals der einzige Ansprechpartner.22 Mit- arbeiter der JSS und der Judenräte unterstützten die Menschen im Getto dabei, ihr Leben zu organisieren, Strukturen der Selbsthilfe aufzubauen und unter den äußerst schwieri- gen Bedingungen einen Restbestand kulturellen und geistigen Lebens aufrechtzuerhal- ten. In öffentlichen Küchen und Krankenhäusern kämpften sie um das physische Über- leben der Gettobewohner. Daneben waren ungezählte private Initiativen tätig, sowohl im

18 Ringelblum, Kesovim fun geto (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 307 f. (Okt. 1942).

19 Sophie Lewiathan, Der Krieg von innen: AŻIH, 302/231, Bl. 33.

20 The Children Accuse, hrsg. von Maria Hochberg-Mariańska und Noe Grüss, London, Portland, Or. 1996 (die polnische Erstausgabe erschien in Kraków 1946).

21 Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto (wie Anm. 6), S. 446 – 459.

22 Zur Bildung der Judenräte sowie der Geschichte der JSS siehe die Einleitung von VEJ 4, S. 41 – 43.

Vgl. Samuel D. Kassow, Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Reinbek bei Hamburg 2010.

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19 Der Weg zum systematischen Massenmord

kulturellen wie im Fürsorgebereich. Vor allem in den größeren Gettos gab es Theater und Orchester, Menschen organisierten Lesezirkel oder Musikkreise, sogar ganze Or- chester, sie boten Unterricht für Kinder und Jugendliche an. Zehntausende Kinder er- hielten in den Gettos eine Schul- oder Berufsausbildung. Die Judenräte organisierten auch Waisenhäuser, Altenheime und Suppenküchen für die rapide wachsende Zahl der Bedürftigen.23 Hier bildete sich auch eine Untergrundpresse heraus;24 soweit die Juden- räte dies nicht unterbanden, wurden auch politische Parteien aktiv. So entstand eine Gegenwelt, die für viele von zentraler Bedeutung war. Ein namentlich nicht bekannter Redner bezeichnete diese Bemühungen im November 1941 auf einer literarischen Ver- anstaltung im Warschauer Getto treffend als „Triumph der Menschlichkeit über alles, was unmenschlich ist“.25

Der Weg zum systematischen Massenmord

Schon unmittelbar nach dem Angriff auf die Sowjetunion begannen deutsche SS- und Polizeieinheiten Ende Juni 1941 in den östlich des Generalgouvernements gelegenen Ge- bieten mit Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung. Zunächst wurden fast aus- schließlich Männer getötet. Innerhalb weniger Wochen, das heißt bis Anfang Oktober, gingen die Mordkommandos dazu über, die gesamte jüdische Bevölkerung, also auch Frauen, Alte und Kinder, in jenen Gebieten zu töten, die östlich der früheren polnischen Grenze lagen und im Herbst 1941 besetzt wurden. In der Senke Babij Jar in Kiew erschos- sen sie Ende September 1941 innerhalb von drei Tagen 33 771 Menschen. In Ostgalizien töteten die deutschen Mordeinheiten im Juli 1941 etwa 10 000 jüdische Männer, Tausende weitere fielen Pogromen zum Opfer, die überwiegend von deutscher Seite initiiert, aber von ultranationalistischen ukrainischen Milizen ins Werk gesetzt wurden.26 Die Mord- aktionen gegen die Juden wurden von den zentralen Stellen in Berlin angeordnet und forciert, und auch in den anderen Besatzungsgebieten nahmen die deutschen Funktio- näre von den Massenmorden Kenntnis.

Schon im Vorfeld des Angriffs auf die Sowjetunion hatte Hitler Generalgouverneur Frank im März 1941 zugesichert, dass dessen Herrschaftsraum in absehbarer Zeit „judenfrei“

werden würde. Zunächst war beabsichtigt, einen Teil oder gar die Gesamtheit der Juden unter deutscher Herrschaft in die neu besetzten Gebiete zu deportieren.27 Frank selbst hatte sich zuvor vergeblich darum bemüht, die Pripjat’-Sumpfgebiete im Süden Weißruss- lands an das Generalgouvernement anzuschließen, um die Juden in eigener Regie in diese unwirtlichen Territorien vertreiben zu können. Da das Gebiet aber dem Reichs- kommissariat Ukraine zugeschlagen wurde, waren Franks Pläne hinfällig. Die Besat- zungsverwaltung, die sich in den besetzten sowjetischen Gebieten etablierte, war eben-

23 Martyna Grądzka, Przerwane dzieciństwo. Losy dzieci Żydowskiego Domu Sierot przy ul. Dietla 64 w Krakowie podczas okupacji niemieckiej, Kraków 2012.

24 Ittonut ha-mahteret ha-yehudut be-Warsha, Bd. 6, hrsg. von J. Kermish u.a., Jerusalem 1997; Geto warsha – sipur itonai. Reportage from the Ghetto. A Selection from the Jewish Underground Press in Warsaw, 1940 – 1943, hrsg. von Daniel Blatman, Jerusalem 2002.

25 Zit. nach Sakowska, Etappe (wie Anm. 10), S. 142 f.

26 VEJ 7/11.

27 VEJ 4/260.

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falls eifrig bestrebt, die Zahl der Juden in ihrem Machtbereich möglichst rasch zu reduzieren – auch durch Massenmord. Alle Planungen der Besatzungsfunktionäre in Po- len, Juden in die neu besetzten sowjetischen Gebiete abzuschieben, gerieten ins Stocken, zumal sich nun abzuzeichnen begann, dass der Krieg gegen die Sowjetunion nicht, wie es den optimistischen Prognosen der Staats- und Wehrmachtführung entsprochen hätte, nach acht bis zwölf Wochen gewonnen sein würde. Die Eroberer konnten die Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet nicht nach Osten deportieren, und zugleich mussten sie sich darauf vorbereiten, dass weitere Juden aus dem Westen ins Generalgouvernement ver- schleppt würden, denn im Herbst 1941 mehrten sich die Stimmen, die das Reich bereits während des Kriegs „judenfrei“ machen wollten.28

Im Juni 1941 lebten etwa 540 000 Juden in Ostgalizien. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion durchlebten sie dasselbe Schicksal wie jene in den anderen neu besetz- ten Gebieten. Bereits in den letzten Junitagen begannen deutsche SS- und Polizeieinhei- ten hier mit der Ermordung der „jüdischen Intelligenz“, damit waren vor allem Gemein- devertreter, Lehrer und andere Staatsangestellte gemeint. Auch nachdem Ostgalizien dem Generalgouvernement angegliedert worden war, setzten die deutschen Besatzer das Morden fort. Anfang Oktober 1941 wurden auch die an das Generalgouvernement gren- zenden Gebiete, die jetzt unter Zivilverwaltung standen, Schauplatz großräumig ange- legter Massenmorde an Juden, also der Westen Weißrusslands und Westwolhynien.

Diese parallel durchgeführten Mordaktionen standen vermutlich in direktem Zusam- menhang mit der deutschen Offensive auf Moskau Anfang Oktober, von der ein baldiger Sieg über die Sowjetunion und damit eine dauerhafte Konsolidierung der Besatzung erwartet wurden.

Im neuen Distrikt Galizien berieten die deutschen Machthaber bereits seit August 1941 über das weitere Vorgehen gegen die Juden. Da mit deren Abschiebung nach Osten jeden- falls vorerst nicht zu rechnen war, entschieden die Deutschen, auch in Galizien Gettos einzurichten, so unter anderem in der Stadt Stanislau (Stanisławów) im Karpatenvorland.

Allerdings hatten ungarische Behörden zuvor damit begonnen, Juden aus der von Ungarn annektierten Karpato-Ukraine in diese Gegend abzuschieben, und die Zahl der Juden im Raum Stanislau damit noch vergrößert. Um das geplante Getto nicht erweitern zu müssen, sollte die Zahl der Juden durch eine Mordaktion reduziert werden. Die Sicherheitspolizei- Stelle Stanislau führte am 6. Oktober 1941 eine Massenerschießung in dem nahe gelegenen Städtchen Nadworna und am 12. Oktober ein großes Massaker am Stadtrand von Stanislau durch. Als die jüdischen Einwohner morgens die Anweisung bekamen, sich zu versam- meln, wussten sie nicht, was sie erwartete. „Es wurde gesagt“, erinnerte sich später Fry- deryk Nadler, „dass dies eine Aussiedlung sei. Die Menschen nahmen Lebensmittel für einige Tage und was sie sonst nur tragen konnten mit sich.“29 Tatsächlich jedoch wurden sie auf den Jüdischen Friedhof geführt, wo bereits Massengräber vorbereitet waren. Etwa 10 000 bis 12 000 Juden, Männer, Frauen und Kinder, wurden ermordet – ursprünglich sollte die Zahl noch höher sein, aber die Sicherheitspolizei brach die Erschießungen bei Einbruch der Dunkelheit ab. Im Schutz der Nacht retteten sich einige nicht tödlich Ver-

28 Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frank- furt a. M. 1995, S. 317 f.; Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, hrsg. von Peter Witte u. a., Hamburg 1999, S. 203 (Eintragung vom 2. 9. 1941).

29 Bericht von Fryderyk Nadler von April 1946: AŻIH, 301/1734, Bl. 4.

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21 Der Weg zum systematischen Massenmord

letzte aus den Massengräbern und schleppten sich ins Jüdische Krankenhaus, wo ein unbeschreibliches Chaos herrschte. Der „Blutsonntag“ von Stanislau markierte den Be- ginn der „Endlösung“ im Generalgouvernement. Nach dieser Mordaktion mussten die Überlebenden in einen zum Getto umfunktionierten engen und ärmlichen Stadtteil um- ziehen. Hier hausten bis zu zehn Menschen in einem Raum und lebten unter denselben katastrophalen Bedingungen wie die jüdische Bevölkerung in den zuvor errichteten Get- tos der anderen vier Distrikte des Generalgouvernements.30

Ähnlich ging die deutsche Polizei an vielen Orten im Süden des Distrikts Galizien vor, so etwa in Rohatyn (Dok. 50) und im Dezember 1941 in Lemberg, wo Juden etwa ein Drittel der Bevölkerung stellten. Auch dort hatten die deutschen Behörden damit begonnen, ein Getto einzurichten, und wie in Stanislau nutzte die Polizei dies, um die Zahl der Juden zuvor durch eine Erschießungsaktion zu reduzieren. Bei der Übersiedlung der Juden aus den anderen Stadtvierteln in das als Getto ausgewiesene Gebiet sortierten Polizeiposten solche Personen aus, die kränklich oder schwach aussahen, brachten sie vor die Stadt und erschossen sie. Da aber die Behörden befürchteten, dass sich durch die Einrichtung des Gettos das ohnehin in der Stadt grassierende Fleckfieber noch weiter ausbreiten würde, wurde der Ausbau des Gettos vorerst gestoppt, so dass nicht alle Juden Lembergs in das Getto umziehen mussten (Dok. 34). Erst im September 1942, im Kontext der großen Massendeportationen, wurde ein Areal abgeriegelt und zum Getto erklärt.31

Am 13. Oktober 1941, also unmittelbar nach dem Massaker an den Juden von Stanislau, trafen sich Himmler, der SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin, Odilo Globocnik, und dessen Vorgesetzter, der Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Wilhelm Krüger, in Ber- lin. Vermutlich beschlossen sie bei diesem Treffen, im Generalgouvernement Vernich- tungszentren zu errichten.32 Nachdem die Führer der Einsatzgruppen der Sicherheits- polizei und des SD sowie der Mordkommandos der Polizei berichtet hatten, dass die oft stunden- und tagelangen Massaker die Angehörigen der Erschießungskommandos psy- chisch stark belasten würden, sollten Massenmorde an Juden fortan nicht mehr durch Erschießen, sondern in stationären Vernichtungslagern mit Hilfe von Giftgas ausgeführt werden. Der Auftrag zur Errichtung solcher Lager erging jedoch nicht an die Führung der Sicherheitspolizei des Generalgouvernements in Krakau, die eigentlich für die „Be- kämpfung der Juden“ zuständig war, sondern an Globocnik, einen Vertrauten Himm- lers.33 Globocnik war schon früh mit Deportations- und Besiedlungsplänen für sein Zustän digkeitsgebiet hervorgetreten; im Juli 1941 hatte Himmler ihn beauftragt, mit den Vor bereitungen für SS-Siedlungsstützpunkte in Polen und in der Sowjetunion zu

30 Vgl. die Berichte von Horacy Safrin und Salomon Günsberg: AŻIH, 302/175, Bl. 26, und AŻIH, 302/136, Bl. 8 – 10; Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 – 1944.

Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996; Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941 – 1944, Bonn 1996.

31 Eljachu Jones, Evrej L’vova v gody Vtoroj Mirovoj voiny i katastrofy evropejskogo evrejstva 1939 – 1944, Moskau, Jerusalem 1999.

32 Dienstkalender Heinrich Himmlers (wie Anm. 28), S. 233.

33 Peter R. Black, Odilo Globocnik, Himmlers Vorposten im Osten, in: Die Braune Elite II, hrsg. von Ronald Smelser, Enrico Syring, Rainer Zitelmann, Darmstadt 1993, S. 103 – 115; Joseph Poprzeczny, Odilo Globocnik, Hitler’s Man in the East, Jefferson, NC 2004; Berndt Rieger, Creator of Nazi Death Camps. The life of Odilo Globocnik, London u. a. 2007.

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begin nen,34 aber auch den Aufbau eines großen Konzentrationslagers voranzutreiben.

Ob Himmler bereits bei dieser Gelegenheit Weisungen über die Ermordung der Juden in Globocniks Herrschaftsbereich erteilt hatte, ist ungeklärt.35

Vieles deutet darauf hin, dass diese Entscheidungen im September und Oktober 1941 fie- len. Globocnik selbst stilisierte die „Judenfrage“ zu einer Gefahr für den Distrikt, da das Fleckfieber von den sowjetischen Kriegsgefangenen auf die Gettos überzugreifen drohe, eine Abschiebung nach Osten jedoch nicht möglich sei. In den Vernichtungszentren sollte das „Expertenwissen“ des Mordpersonals der „Euthanasie“-Aktion genutzt werden, das in den vorangegangenen Monaten in Deutschland mehrere zehntausend Kranke und Behin- derte in Gaswagen oder Gaskammern getötet hatte. Obwohl dieses Mordprogramm mit anderen Tötungsarten fortgeführt wurde, waren im Sommer 1941 zumindest die Morde mittels Giftgas eingestellt worden, so dass das Personal für die Einrichtung der Vernich- tungszentren im Generalgouvernement herangezogen werden konnte.36 Anfang No- vember 1941 traf ein deutsches Kommando in der Kleinstadt Bełżec an der Bahnstrecke zwischen Lublin und Lemberg ein und begann mit dem Aufbau der ersten Vernichtungs- einrichtung. Eine zweite wurde bald darauf in der Nähe des Dorfs Sobibór an der Ost- grenze des Generalgouvernements am Grenzfluss Bug geplant.

Nun begannen auch in der Regierung des Generalgouvernements Diskussionen über Pläne für den systematischen Massenmord an den Juden. Hans Frank berichtete darüber seinen Beamten am 16. Dezember in einer Rede (Dok. 26). Einen Monat später, am 20. Ja- nuar 1942, erklärte sein Stellvertreter Josef Bühler auf der Wannsee-Konferenz in Berlin sein volles Einverständnis mit den Mordplänen – „daß das Generalgouvernement es be- grüßen würde, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde, weil einmal hier das Transportproblem keine übergeordnete Rolle spielt und ar- beitseinsatzmäßige Gründe den Lauf dieser Aktion nicht behindern würden. Juden müß- ten so schnell wie möglich aus dem Gebiet des Generalgouvernements entfernt werden, weil gerade hier der Jude als Seuchenträger eine eminente Gefahr bedeutet und er zum anderen durch fortgesetzten Schleichhandel die wirtschaftliche Struktur des Landes dau- ernd in Unordnung bringt. Von den in Frage kommenden etwa 2½ Millionen Juden sei überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig. Staatssekretär Bühler stellt weiterhin fest, daß die Lösung der Judenfrage im Generalgouvernement federführend beim Chef der Sicherheitspolizei und des SD liegt und seine Arbeiten durch die Behörden des General- gouvernements unterstützt würden.“37

34 Von Frühjahr 1941 an entwickelte Frank zudem die Idee, das Generalgouvernement mittelfristig zu

„germanisieren“. Für die Ansiedlung Volksdeutscher im Raum Zamość, in deren Folge Tausende Polen deportiert wurden, zeichnete ebenfalls Globocnik verantwortlich. Vgl. Czesław Madajczyk (Hrsg.), Zamojszczyzna – Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich i niemieckich z okresu okupacji hitlerowskiej, 2 Bde., Warszawa 1977.

35 Bogdan Musial, The Origins of „Operation Reinhard“. The decision-making process for the mass murder of the Jews in the Generalgouvernement, in: Yad Vashem Studies 28 (2000), S. 113 – 153;

Dieter Pohl, Die Rolle des Distrikts Lublin im Völkermord an den Juden, in: Musial (Hrsg.), „Ak- tion Reinhardt“ (wie Anm. 3), S. 87 – 107.

36 Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas: Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, hrsg. von Günter Morsch, Bertrand Perz, Ber- lin 2011.

37 „Wannsee-Protokoll“, zit. nach Norbert Kampe, Peter Klein (Hrsg.), Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Wien, Köln, Weimar 2013, S. 40 – 54, Zitat S. 53 f.

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Die erste Phase der Massenmorde in den Vernichtungslagern von März bis Juni 1942

Anfang März 1942 war der Bau des ersten Vernichtungslagers in Belzec weitgehend ab- geschlossen. Wie später Sobibor und Treblinka war Belzec eine reine Mordstätte, in der die Opfer unmittelbar nach ihrer Ankunft umgebracht wurden. Als „Lager“ dienten Bel- zec, Sobibor und Treblinka über einen längeren Zeitraum hinweg nur dem SS-Personal, dem aus „fremdvölkischen Hilfswilligen“ zusammengesetzten Wachpersonal und insge- samt einigen Tausend jüdischen Funktionshäftlingen, die nach einiger Zeit ebenfalls er- mordet und durch Deportierte aus neu eintreffenden Transporten ersetzt wurden. Kurz nach einem Besuch Himmlers im Generalgouvernement am 13./14. März 1942 begannen die Deportationen aus den Gettos nach Belzec und damit in den Tod.

Die deutsche Besatzungsmacht bemühte sich, diese Verbrechen möglichst reibungslos und mit wenig Personal durchzuführen, und erzwang hierfür die Kooperation der loka- len Judenräte. In Lemberg erhielt der dortige Judenrat den Auftrag, 30 000 Menschen für den Abtransport, angeblich in neue Siedlungsgebiete in der Ukraine, bereitzustellen (Dok. 49 und 57). Und tatsächlich meldeten sich für die ersten Transporte, die am 16.

März 1942 Lemberg in Richtung Belzec verließen, unter den Gettobewohnern genügend Freiwillige, meist völlig mittellose Menschen ohne Angehörige und Familie, die nichts von ihrem bevorstehenden Schicksal ahnten. Als aber die Lemberger wenige Tage später gewahr wurden, dass die Züge schon nach kurzer Zeit leer wieder zurückkehrten, ver- breiteten sich rasch Gerüchte über das Schicksal der Deportierten. Fortan meldete sich kaum noch jemand freiwillig. Daraufhin schaltete sich der SS- und Polizeiführer in Lem- berg, Friedrich Katzmann, ein und ordnete eine systematische Durchkämmung des Judenviertels an.38

In Lublin hingegen war von Anfang an ein großes Polizeiaufgebot im Einsatz, als am Abend des 16. März 1942 das Getto umstellt wurde. Dort verliefen die Razzien mit äußers- ter Brutalität, so dass den Opfern sehr bald klar wurde, dass es keinesfalls um eine Re- krutierung zur Arbeit ging. Allein in der ersten Woche erschossen deutsche Polizeikräfte im Getto 126 Menschen.39

Auch durch die Auswahl der Deportierten wurde offensichtlich, dass keine Zwangsarbei- ter, sondern Mordopfer gesucht wurden. So zielten die Deutschen darauf ab, möglichst viele Juden in den Tod zu deportieren, die von der Fürsorge abhängig waren und als nicht arbeitsfähig galten. Um die anvisierten Opfergruppen zu isolieren und zugleich kenntlich zu machen, gaben die Arbeitsämter mitunter neue Arbeitsausweise in unterschiedlichen Farben aus.40 An manchen Orten unterteilte die Besatzungsverwaltung die Gettos in räumlich getrennte, sogenannte A- und B-Gettos (arbeitsfähig – nicht arbeitsfähig) oder

38 Friedrich Katzmann, Rozwiązanie kwestii żydowskiej w dystrykcie Galicja, bearb. von Andrzej Żbi- kowski, Warszawa 2001 (mit fotomechanischer Wiedergabe des Originalberichts).

39 Halbjahresbericht KdO Lublin [1942], Archiv IPN CA 156/44, Bl. 93. Siehe auch Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung (wie Anm. 2); Dieter Pohl, Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939 – 1944, Frankfurt a. M. u. a. 1993;

Tadeusz Radzik, Lubelska dzielnica zamknięta, Lublin 1999; David Silberklang, Holocaust in the Lublin District, unveröffentlichte Diss. phil. Hebrew Univ. Jerusalem 2003.

40 Stephan Lehnstaedt, Die deutsche Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement und die Juden, in:

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 409 – 440.

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A-, B- und C-Gettos (kriegswichtig – arbeitsfähig – nicht arbeitsfähig). Damit war bereits eine Vorauswahl über die Abfolge der Deportationen getroffen. Im Mai 1942 verfügte die Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement eine Zählung aller Juden und die Ein- stufung ihrer Arbeitskraft – ein weiterer Schritt zur Vorbereitung der Massenmorde (Dok. 72).

Im Distrikt Lublin hatte die Besatzungsverwaltung zugestimmt, dass Juden aus dem Reich, dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie aus der Slowakei in diese Region verschickt und in den dortigen Gettos untergebracht wurden (Dok. 3 und 53). Um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen, sollten an nähernd so viele einheimische Juden die Gettos verlassen, wie jeweils neue aus dem Wes ten hinzukamen. So wurden, ähnlich wie zuvor in Riga und Minsk, nun auch polnische Juden mit Verweis auf die von Deutschen tatsächlich erst geschaffene Raumnot ermordet. Wenn es nicht gelang, die polnischen Juden vor der Ankunft der Transporte aus dem Ausland zu deportieren, waren die Durchgangsgettos vorübergehend noch stärker überfüllt als zuvor. So lebten deutsche oder tschechische Juden mitunter noch eine Weile mit den einheimischen polnischen Juden zusammen.41 Bis zu zwanzig Menschen mussten sich ein Zimmer teilen, und es kam zu Konflikten zwischen den manchmal sehr ungleichen Schicksalsgenossen.

Während manche der Neuankömmlinge einen Arbeitsplatz fanden, wurden viele von ihnen bald nach ihrer Ankunft in die Vernichtungslager verschleppt. Ernst Krombach, ein nach Izbica deportierter deutscher Jude, schrieb im Juni 1942 an seine Verlobte in einem heimlich geschmuggelten Brief: „In der Zwischenzeit sind nun schon viele Trans- porte hier abgegangen. Von ca. 14 000 hier angekommenen Juden sind heute nur noch ca. 2 – 3000 da.“ Krombach berichtete ebenfalls über die Sorgen der Zurückgebliebenen:

„Gehört hat man von diesen Leuten nie mehr etwas […]. Beim letzten Transport sind leider manche Männer von der auswärtigen Arbeit zurückgekommen und haben weder Frauen, noch Kinder, noch Sachen vorgefunden.“42 Auch im katastrophal überfüllten Warschauer Getto trafen Transporte mit Juden aus dem Reich ein (Dok. 65). Dies ver- schärfte zwar nochmals die Raumnot im Getto, führte aber noch nicht dazu, dass die deutsche Besatzung polnische Juden aus Warschau in die Vernichtungslager trans- portieren ließ – das für sie vorgesehene Vernichtungslager Treblinka II, unweit des gleichnamigen Arbeits lagers Treblinka I, wurde erst von Ende Mai 1942 an errichtet (Dok. 78).

Die Systematik, mit der die Mordaktionen von März 1942 an betrieben wurden, ist kaum zu übersehen. In den Distrikten Lublin und Galizien wurde ein Landkreis nach dem anderen von den Polizeikommandos heimgesucht, die die Deportationen organisierten.

Manchmal delegierte die Besatzungsmacht die Auswahl der Opfer an die Judenräte, meist jedoch führte die Polizei selbst brutale Razzien durch.

Etwa um den 20. April 1942 brachen die Deportationen vorerst ab, weil die Mordstätte in Belzec umgebaut werden musste. Die SS hatte gegenüber der Zivilverwaltung behauptet,

41 Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lublin 1940 – 1943, hrsg. von Else Rosenfeld und Gertrud Luckner, München 1968.

42 Zit. nach Mark Roseman, In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Unter- grund, Berlin 2002, S. 233. Siehe auch Robert Kuwałek, Die Durchgangsghettos im Distrikt Lublin (u. a. Izbica, Piaski, Rejowiec und Trawniki), in: Musial (Hrsg.), „Aktion Reinhardt“ (wie Anm. 3), S. 197 – 232.

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25 Die erste Phase der Massenmorde in den Vernichtungslagern von März bis Juni 1942 Belzec könne täglich 4000 – 5000 Juden „aufnehmen“ (Dok. 48), stoppte nun jedoch die Deportationen und begann im April mit dem Bau eines neuen, größeren Gebäudes mit Tötungseinrichtungen sowie zeitgleich mit der Errichtung des zweiten Vernichtungszen- trums in Sobibor. Anfang Mai 1942 trafen die ersten Todestransporte aus dem Distrikt Lublin in Sobibor ein, bald auch direkt aus dem Reich.43

Ende Mai 1942 begann die deutsche Besatzungsverwaltung auch im Distrikt Krakau mit den Deportationen zunächst in der Distriktshauptstadt. Die Sicherheitspolizei hatte den Judenrat bereits einige Tage zuvor angewiesen, Listen mit Arbeitern bei deutschen Betrie- ben zu erstellen und Vorbereitungen für eine Kontrolle der Papiere aller Gettobe wohner zu treffen. Nur wer als wichtige Arbeitskraft einen Stempel in seinen Dokumenten vor- weisen konnte, blieb vorerst von der Deportation verschont. Wer indes keinen Stempel erhielt, musste sich am 1. Juni mit leichtem Gepäck zur Deportation einfinden. Schon in der vorhergehenden Nacht begannen Einheiten der Sicherheitspolizei und des jüdischen Ordnungsdienstes, die Menschen aus ihren Häusern zu holen und zu einem Sammelplatz zu treiben. Immer wieder kam es zu dramatischen Zwischenfällen, viele wurden geschla- gen oder an Ort und Stelle erschossen. Auch Michał Weichert, der Vorsitzende der Jüdi- schen Sozialen Selbsthilfe, wurde durch einen Streifschuss verletzt, als er unterwegs zum Sammelplatz war, um sich für den Dichter Mordechai Gebirtig einzusetzen, der keinen Stempel bekommen hatte. Der Pole Tadeusz Pankiewicz, der mit einer Sondergenehmi- gung seine Apotheke weiterhin innerhalb des Gettos betrieb, erinnerte sich an den über- füllten Platz: „Die Sonne brennt erbarmungslos. Gegenüber der Apotheke stehen vor der Hausmauer Ärzte in weißen Kitteln, Krankenschwestern und die technischen Hilfsdienste mit ihren Tragen. Das Weiß der Arztkittel hebt sich gespenstisch vom Schwarz und Grau der Menge ab, die auf die Aussiedlung wartet. […] Die Menge wartet wie versteinert vor Entsetzen und Unsicherheit.“44

An diesem 1. Juni fuhr der erste Zug mit Juden aus dem Krakauer Getto nach Belzec, wo die neuen Tötungsanlagen mittlerweile fertiggestellt worden waren. In den folgenden Ta- gen gingen weitere Transporte aus Krakau ab, und auch in anderen Städten des Distrikts begannen die Deportationen.45

Von Mitte März bis Mitte Juli 1942 wurden etwa 110 000 Menschen deportiert und ermordet. Die meisten von ihnen hatten weder einen eigenen Arbeitsplatz noch Angehö- rige mit Arbeitsausweis; es handelte sich also um die Schwächsten der Gettogesellschaft.

In den ersten Tagen und Wochen der Razzien herrschte unter den eingeschlossenen Juden noch weitgehende Unkenntnis über das Ziel der Deportationen. Allmählich sickerte aber durch, was es mit den „Judenzügen“ auf sich hatte. Insbesondere die Juden in den Ort- schaften, die nahe an Belzec und Sobibor lagen, wussten über die Mordzentren bald Be- scheid und versuchten, die jüdischen Gemeinden in anderen Orten über die Massenmorde

43 Alfred Gottwaldt, Diana Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich von 1941 – 1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005, S. 180, 211 ff.

44 Tadeusz Pankiewicz, Die Apotheke im Krakauer Ghetto, Essen u. a. 1995, S. 93.

45 Franciszek Kotula, Losy Żydów rzeszowskich 1939 – 1944. Kronika tamtych dni, Rzeszów 1999; Pa- miętam każdy dzień … Losy Żydów przemyskich podczas II wojny światowej. Red. John J. Hart- man, Jacek Krochmal, Przemyśl 2001; Katarzyna Zimmerer, Zamordowany świat. Losy Żydów w Krakowie 1939 – 1945, Kraków 2004; Zagłada Żydów na Rzeszowszczyźnie, bearb. von Elżbieta Rączy, Igor Witowicz, Rzeszów, Warszawa 2004; Andrea Löw, Markus Roth, Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939 – 1945, Göttingen 2011, S. 129 – 145.

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zu informieren (Dok. 78). Auch über polnische Eisenbahner gelangten Informationen in die anderen Distrikte, wenngleich oft nur bruchstückhaft.46

So wurden die jüdischen Gemeinden der Distrikte Lublin, Galizien und schließlich auch Krakau von Panik ergriffen, wenn ein weiterer Transport drohte. Doch waren die Hand- lungsspielräume der Gettoinsassen extrem begrenzt. Wer der Deportation entgehen wollte, ohne einen gültigen Arbeitsnachweis zu haben – auch ein solcher schützte in den chaotischen Tagen einer Aussiedlungsaktion nicht immer verlässlich –, musste sich ein sicheres Versteck suchen bzw. aus dem Getto entkommen und entweder in die Wälder fliehen oder auf der – wie es die polnische und die jiddische Sprache rasch auf den Begriff brachten – „arischen Seite“ untertauchen (Dok. 68). Zunächst entschlossen sich nur we- nige dazu, erst im Herbst 1942 wurde das Untertauchen zu einer massenhaften Erschei- nung. Noch dominierte insbesondere bei denjenigen, die einen Arbeitsplatz hatten, die Hoffnung, selbst nicht deportiert zu werden. Zudem waren die Menschen bestrebt, mit ihren Verwandten und Freunden zusammenzubleiben. Erst als sie diese bereits verloren hatten, entschlossen sich viele Gettobewohner zur Flucht – oder zum Widerstand.

In den Tagen der Deportationen in die Vernichtungslager wurde das moralische Dilemma der Judenräte besonders deutlich. Die meisten von ihnen hatten seit Beginn der Besatzung kooperiert und sich damit der Kritik der jüdischen Bevölkerung ausgesetzt. Sie hatten jedoch in der Hoffnung gehandelt, die restriktiven Anordnungen der Besatzer in der Pra- xis abmildern und Schlimmeres abwenden zu können. Nun aber zeigte sich mehr und mehr, dass ihr Handeln keinen Einfluss auf die Pläne der Deutschen hatte und diese sie vielmehr dazu missbrauchten, Todeslisten zu erstellen und bei der Vorbereitung der De- portationen mitzuwirken. Damit verstärkte sich bei vielen Juden die Abneigung gegen die Zwangsvertretungen noch mehr (Dok. 56). Aber die Judenräte waren in einer ausweglosen Situation: Die Besatzer tauschten die jüdischen Verantwortlichen aus, wenn sie nicht be- reitwillig die deutschen Befehle ausführten, und am Ende standen mehr und mehr will- fährige Befehlsempfänger an der Spitze der Gemeinden. So war Artur Rosenzweig in Kra- kau im Herbst 1940 nach der Verhaftung seines Vorgängers Marek Bieberstein als Vorsitzender des Judenrats eingesetzt worden. Während der Deportationen im Juni 1942 waren die Deutschen mit seiner Kooperation unzufrieden, die Zahl der auf dem Sammel- platz zusammengetriebenen Juden war der Sicherheitspolizei zu gering. Rosenzweig wurde aus einer Versammlung geholt, von einem SS-Mann geschlagen und zur Sammel- stelle getrieben. Er wurde zusammen mit seiner Familie deportiert und ebenso in Belzec ermordet wie zuvor Anfang April 1942 der Vorsitzende des Judenrats in Lublin.47 In anderen Regionen veränderte sich der Alltag in den Gettos während der ersten Jahres- hälfte 1942 noch nicht einschneidend. In den Distrikten Warschau und Radom hatte es bis dahin noch keine solchen Massendeportationen gegeben, in denen der Großteil der Jüdischen Gemeinden ausgelöscht wurde. Der Terror gegen die Juden steigerte sich aber auch hier, vor allem durch den Befehl, wonach jüdische Flüchtlinge außerhalb der Gettos

46 Für das Vernichtungslager Treblinka beispielhaft Franciszek Ząbecki, Wspomnienia dawne i nowe, Warszawa 1977.

47 Documents from Lublin Ghetto. Judenrat Without Direction. Te’udot mi-geto lublin – yudenrat le-lo derekh, hrsg. von Nachman Blumental, Jerusalem 1967; Isaiah Trunk, Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation, New York 1972; Aharon Weiss, Jewish Leader- ship in Occupied Poland – Postures and Attitudes, in: Yad Vashem Studies 12 (1977), S. 335 – 365.

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27 Die zweite Phase der Massenmorde von Juli bis Dezember 1942

erschossen werden sollten. Am 17./18. April 1942 wurden zudem überall im Generalgou- vernement Juden, die als politisch verdächtig galten, ermordet (Dok. 70). Fernab von Lublin, Lemberg oder Krakau kursierten bereits Gerüchte über die „Umsiedlungen“, wie ein Zeuge aus dem Getto Radom berichtet: „Es gab verschiedene Versionen über das Schicksal der Lubliner Juden, aber alle stimmten in dem Detail überein, dass sie aus Lublin in das nahe gelegene Dorf Majdanek umgesiedelt würden (Majdanek war damals noch nicht als Konzentrationslager bekannt). Man erzählte sich auch, dass die Ausgesie- delten vernichtet würden, aber keiner konnte daran glauben.“48 Mary Berg notierte im Mai 1942 in ihrem Warschauer Tagebuch, dass die meisten Menschen die Nachrichten über Massenmorde zwar kannten, viele jedoch davon ausgingen, dass sich die Gescheh- nisse in Lublin bei ihnen nicht wiederholen könnten, da doch schließlich zu viele Juden im Warschauer Getto lebten.49

Durch die Deportationen und die Errichtung neuer Mordstätten im Frühjahr 1942 wird deutlich, dass die Besatzungsmacht zu diesem Zeitpunkt die Ermordung aller als nicht arbeitsfähig eingestuften Juden plante. Die deutschen Behörden waren sich aber noch nicht einig, was mit den anderen Juden geschehen sollte, insbesondere mit jenen, die im

„Arbeitseinsatz“ standen. Nicht nur im Reich, sondern auch im besetzten Polen steuerte man aus Sicht der Besatzungsbehörden auf eine Arbeitskräftekrise zu. Immer mehr Polen, insbesondere junge Männer, wurden zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt und fehlten nun in der Wirtschaft des Generalgouvernements. Zugleich hatte die Wehrmacht fast zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, die potentiell als Zwangsarbeiter hätten eingesetzt werden können, bis zum Sommer 1942 verhungern lassen. Da aber das Generalgouverne- ment im Gegensatz zum Reichsgebiet als relativ sicher vor alliierten Luftangriffen galt, sollte die die dortige Wirtschaft weiter ausgebaut werden, und viele deutsche Unterneh- men hatten bereits damit begonnen, Filialen im besetzten Polen zu eröffnen. Schließlich erkannte auch die Zivilverwaltung, dass die Juden, insbesondere die Handwerker und Facharbeiter unter ihnen, ein wichtiges Arbeitskräftereservoir darstellten. So ordnete die Rüstungsinspektion der Wehrmacht noch im Mai 1942 an, dass Juden in verstärktem Maße in der Kriegswirtschaft des Generalgouvernements eingesetzt werden sollten, um die nach Deutschland verschickten Polen zu ersetzen (Dok. 84). Tatsächlich aber bahnte sich eine andere Entwicklung an.

Die zweite Phase der Massenmorde von Juli bis Dezember 1942

Im Juni 1942 fielen die endgültigen Entscheidungen. Am 3. Juni hatte Globocnik Himm- ler eine Reihe von Vorschlägen für weitere Mordaktionen gemacht. Am 9. Juni 1942 gab Himmler bekannt, dass die „Wanderung“ der Juden innerhalb eines Jahres, also bis zum Sommer 1943, beendet sein solle.50 Am 9. Juli trafen Globocnik und Himmler mit

48 Bericht von Chaim Zajda, 5. 5. 1947, zit. nach Jacek Andrzej Młynarczyk, Judenmord in Zentral- polen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939 – 1945, Darmstadt 2007, S. 288.

49 The Diary of Mary Berg. Growing up in the Warsaw Ghetto, Oxford 2007, S. 144 (Eintrag vom 8. 5. 1942).

50 Heinrich Himmler, Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, hrsg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974, S. 159.

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dem Höheren SS- und Polizeiführer Krüger zusammen. Dokumente über diese Be- sprechung sind nicht überliefert; es lässt sich aber vermuten, dass damit die Planungen und Vorbereitungen für den unterschiedslosen Massenmord beendet waren. Am 19. Juli 1942 sandte Himmler von Lublin aus, wo er nochmals Globocnik getroffen hatte, an Krüger den zentralen Befehl zur Ermordung der Juden im Generalgouvernement, die bis Jahresende weitgehend abgeschlossen sein sollte (Dok. 96). Auch die Zivilver- waltung drängte zunehmend auf den Abtransport der Juden; als Haupt argument diente ihr nun die Nahrungsmittelknappheit im Generalgouvernement. Die meisten Juden würden ohnehin nicht in Arbeit stehen und sollten deshalb ermordet werden.51 Der planmäßige und tagtägliche Massenmord in den drei Vernichtungszentren Belzec, Sobibor und Treblinka wurde in der zweiten Jahreshälfte 1942 ganz erheblich ausgeweitet.

Intern wurde er als „Aktion Reinhardt“ bezeichnet, vermutlich nach dem Vornamen von Reinhard Heydrich,52 dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, einem der Hauptver- antwortlichen des Judenmords, der am 4. Juni 1942 in Prag an den Folgen eines Attentats gestorben war.

Mitte Juli 1942 setzte die zentrale Phase der Massenmorde nicht nur im Generalgouver- nement, sondern auch in vielen anderen Gebieten unter deutscher Besatzung im Westen wie im Osten Europas ein. In diesen Tagen wurde damit begonnen, die letzten Gettos im Generalkommissariat Weißruthenien und im Reichskommissariat Ukraine aufzulösen;

von Mitte Juli an rollten auch regelmäßig Transporte aus Westeuropa in das Vernich- tungslager Auschwitz-Birkenau.

An jenem 22. Juli kam ein SS- und Polizeikommando aus Lublin zum Warschauer Ju- denrat und forderte dessen Vorsitzenden Adam Czerniaków auf, von nun an jeden Tag 5000 Juden zur Deportation bereitzustellen (Dok. 98). Czerniaków war sich der Trag- weite dieser Forderung bewusst und nahm sich tags darauf das Leben (Dok. 99).53 „Der Tod des Vorsitzenden sorgte im Getto für einen Schock. Man verstand, dass das Schick- sal der Juden besiegelt war“, erinnerte sich der Arzt Ludwik Hirszfeld.54 Czerniaków

„hatte offenbar gehofft“, schrieb Meylekh Neyshtadt unmittelbar nach dem Krieg, „dass ein solches Alarmsignal die Welt aufrütteln würde, im Ausland jedoch wurde sein Suizid erst ein paar Wochen später durch ein Reuters-Telegramm aus Zürich bekannt.“55 Ein kritischeres Urteil fällte Marek Edelman, einer der Kommandanten des Gettoaufstands von April 1943: Czerniaków „hätte die Menschen im Ghetto zuvor zum Kampf aufrufen müssen und erst dann sterben dürfen. Er sagte ihnen nichts. Er sagte nicht, warum er es tat und welches schreckliche Ende die Deutschen ihnen bereiteten.“56

Am 22. Juli fuhr der erste Todestransport aus Warschau in das Vernichtungslager Treb- linka, das gerade fertiggestellt worden war.

51 Christian Gerlach, Die Bedeutung der deutschen Ernährungspolitik für die Beschleunigung des Mordes an den Juden 1942, in: Ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 167 – 257.

52 In zeitgenössischen Dokumenten finden sich zwei Schreibweisen, sowohl „Aktion Reinhardt“ als auch „Aktion Reinhard“.

53 Marcin Urynowicz, Adam Czerniaków 1880 – 1942. Prezes Getta Warszawskiego, Warszawa 2009.

54 Ludwik Hirszfeld, Historia jednego życia, Warszawa 2000 (Erstausgabe 1946), S. 388 f.

55 Meylekh Neyshtadt, Khurbn un oyfshtand fun di yidn in varshe. Eydes-bleter un azkores, 2 Bde., Tel Aviv 1948, Bd. 2, S. 476; siehe auch Urynowicz, Adam Czerniaków (wie Anm. 53), S. 338 – 340.

56 Witold Bereś, Krzysztof Burnetko, Marek Edelman erzählt, Berlin 2009, S. 140.

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29 Die zweite Phase der Massenmorde von Juli bis Dezember 1942

Anfangs setzte die Polizei in Warschau darauf, die Getto-Insassen mit dem Versprechen auf eine Sonderration Lebensmittel zu den Zügen zu locken. Doch schon nach wenigen Tagen verbreitete sich die Nachricht, dass die Transporte direkt in den Tod führten. So musste der Jüdische Ordnungsdienst die Menschen gewaltsam aus den Häusern im Getto holen.57 Bald jedoch unternahmen die deutsche Polizei und ihre ausländischen Helfer, vor allem Angehörige des SS-Ausbildungslagers in Trawniki,58 bei denen es sich um ent- lassene sowjetische Kriegsgefangene handelte, eigene Razzien. Ein Häuserblock nach dem anderen wurde abgeriegelt und anschließend durchsucht; in zunehmendem Maße galt dies auch für die Gettobetriebe, die sogenannten shops (szopy). Hier spielten sich ungemein brutale Szenen ab, von Juli bis September 1942 wurden allein bei den Razzien im Getto mindestens 6600 Menschen erschossen. Die zur Deportation bestimmten Juden wurden mit Gewalt zum sogenannten Umschlagplatz am Nordrand des Gettos getrieben.

Die Frage, ob die Betroffenen einen Arbeitsausweis besaßen, spielte bei den Razzien bzw.

Selektionen bald kaum mehr eine Rolle. Vielmehr war die Polizei in erster Linie daran interessiert, jeden Tag ein Kontingent von 5000 oder gar 10 000 Juden zusammenzustel- len, um die Züge zu füllen, die von einem Nebengleis des Danziger Bahnhofs von War- schau nach Treblinka fuhren. In der Schlussphase der „Großen Aktion“ im Warschauer Getto änderte die Polizei ihr Vorgehen: Nun mussten sich alle Gettoinsassen an einer großen Straßenkreuzung versammeln, die von allen Seiten abgeriegelt wurde, dem „Kes- sel an der Miła-Straße“ (Dok. 131). Deutsche Arbeitgeber wie beispielsweise die Firma Walther C. Többens und die Danziger Firma Fritz Emil Schultz & Co. erhielten noch die Möglichkeit, ihre jüdischen Zwangsarbeiter – meist samt deren Familien – zu reklamie- ren und so vor der Deportation zu retten. Alle Übrigen wurden zum Bahnhof und in die Züge getrieben und nach Treblinka verbracht.

Mit einer kurzen Unterbrechung Ende August/Anfang September 1942 rollten die Todes- transporte aus Warschau an fast 50 Tagen. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht mehr zu ermitteln. Eine Statistik des Judenrats weist die Deportation von 265 000 Menschen aus,59 gemessen am Rückgang der Zahl der ausgegebenen Lebensmittelkarten wurden jedoch weit mehr Menschen ermordet. Die vorliegende Statistik dokumentiert auch Alter und Geschlecht der Opfer: Mehr als ein Drittel von ihnen waren Kinder; in die Gaskammern waren fast ausnahmslos alle Kinder und ebenso fast alle über Sechzigjährigen geschickt worden. Von den Frauen, die knapp zwei Drittel der Gettobevölkerung ausgemacht hat- ten, lebten im November nur noch sieben Prozent (Dok. 195, Tabelle 3).

Beispielhaft für das entsetzliche Schicksal der Kinder aus dem Getto steht das Waisen- haus in der Krochmalna-Straße, das von dem Pädagogen Henryk Goldszmit, bekannt als Janusz Korczak, geleitet wurde. Im Sommer 1942 befanden sich im Getto schätzungsweise 10 000 Waisenkinder, die ihre Eltern entweder durch Epidemien oder Deportationen verloren hatten. Am 5. August wurde die Deportation der Kinder angeordnet. Korczak, der die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, begleitete sie auf ihrem letzten Weg. Der

57 Aldona Podolska, Służba porządkowa w getcie warszawskim w latach 1940 – 1943, Warszawa 1996.

58 Diese Einheiten waren von Herbst 1941 an aufgestellt worden, um SS-Siedlungen in den besetzten sowjetischen Gebieten zu sichern. Seit dem Frühjahr 1942 wurden sie jedoch zumeist für Hilfs- tätigkeiten beim Massenmord an den Juden herangezogen. Siehe Peter Black, Foot soldiers of the Final Solution. The Trawniki training camp and Operation Reinhard, in: Holocaust and Genocide Studies 25 (2011), S. 1 – 99.

59 Gutman, Jews of Warsaw (wie Anm. 6), S. 270 f.

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Pianist Władysław Szpilman, einer der wenigen Bewohner des Gettos in Warschau, die die Kriegszeit überlebten, schilderte die Szene in seinen Erinnerungen: „Lange Jahre seines Lebens hatte er [Korczak] mit Kindern verbracht und auch jetzt, auf dem letzten Weg, wollte er sie nicht allein lassen. Er wollte es ihnen leichter machen. Sie würden aufs Land fahren, ein Grund zur Freude, erklärte er den Waisenkindern. Endlich könnten sie die abscheulichen, stickigen Mauern gegen Wiesen eintauschen, auf denen Blumen wüchsen, gegen Bäche, in denen man würde baden können, gegen Wälder, wo es so viele Beeren und Pilze gäbe. Er ordnete an, sich festtäglich zu kleiden und so hübsch heraus- geputzt, in fröhlicher Stimmung, traten sie paarweise auf dem Hof an.“60 Auch einige der jungen Mitarbeiterinnen des Waisenheims entschieden sich, die Kinder nach Treblinka zu begleiten.

Adina Blady Szwajgier, die als Krankenschwester im Kinderkrankenhaus des Gettos arbeitete, entschloss sich, als die Deportation ihrer kleinen Patienten angeordnet wurde, diesen Morphium zu verabreichen und ihnen den letzten Weg in das Vernichtungs- lager zu ersparen: „Und genau so, wie ich mich während der letzten zwei Jahre meiner täg lichen Arbeit über die kleinen Betten gebeugt hatte, flößte ich nun diesen klei- nen Mündern die letzte Medizin ein.“61 Die allermeisten Kinder überlebten die „Große Aktion“ nicht. Ende 1942 lebten nur noch einige wenige Kinder von Facharbeitern im Getto.

Nahezu alle organisatorischen Strukturen der Gettogesellschaft brachen in Folge der Massendeportationen zusammen. Schwere Verluste erlitt auch die kleine Gruppe der Gettochronisten um den Historiker Emanuel Ringelblum, die insgeheim Zeugnisse der Verfolgung sammelte, um im Untergrundarchiv Leben und Sterben der polnischen Juden für die Nachwelt zu dokumentieren. Viele der Mitarbeiter Ringelblums fielen den Razzien zum Opfer und wurden nach Treblinka deportiert, so etwa Shimon Huberband, der eine Darstellung über das jüdische religiöse Leben unter deutscher Besatzung ver- fasst hatte.62 Anfang August 1942 ließ Ringelblum zehn Kisten mit Materialien vergra- ben, die nach dem Krieg größtenteils aufgefunden wurden und sich als äußerst wertvolle Dokumente über die Geschichte der polnischen Juden unter der Besatzung erwiesen.

Die etwa 25 000 Seiten des Ringelblum-Archivs „Oneg Schabbat“ gehören seit 1999 zum Unesco-Weltkulturerbe. Ringelblum selbst arbeitete unermüdlich weiter, noch während des Getto aufstands im Jahr 1943 vergrub er weitere Teile des Archivs.63 Er überlebte zwar das Zwangsarbeitslager Trawniki, wurde aber nach seiner heimlichen Rückkehr nach Warschau im März 1944 denunziert und im Warschauer Pawiak-Gefängnis er- schossen.

60 Władysław Szpilman, Der Pianist. Mein wunderbares Überleben, München 2002 (poln. Erstaus- gabe Warszawa 1946), S. 93 f.

61 Adina Blady Szwajgier, Die Erinnerung verläßt mich nie. Das Kinderkrankenhaus im Warschauer Ghetto und der jüdische Widerstand, München 1993, S. 70.

62 Shimon Huberband, Kiddush Hashem: Jewish Religious and Cultural Life in Poland During the Holocaust, New York 1987.

63 Archiwum Ringelbluma. Getto warszawskie lipiec 1942 – styczeń 1943, hrsg. von Ruta Sakowska, Warszawa 1980; Archiwum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy, hrsg. von Ruta Sakowska u. a., bisher 9 Bde., Warszawa 1997 – 2012, darin bes.: Bd. 5: Getto warszawskie.

Życie codzienne, bearb. von Katarzyna Person, Warszawa 2011; Bd. 6: Generalne Gubernatorstwo.

Relacje i dokumenty, bearb. von Aleksandra Bańkowska, Warszawa 2011.

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