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Jüdischer bewaffneter Widerstand

Spätestens seitdem die Ermordung der Deportierten zur Gewissheit geworden war, disku-tierten die Juden in den Gettos darüber, ob und in welcher Form bewaffneter und andere Arten von Widerstand möglich seien (Dok. 150). Die Voraussetzungen dafür waren jedoch von vornherein eng begrenzt. Die polnischen Juden waren durch die Besatzung an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden. Auch hatte die Mehrzahl der Juden nach dem Zusammenbruch ihrer wirtschaftlichen Existenz deutlich weniger Kontakt zu Polen und somit auch zum polnischen Untergrund, der sich erst allmählich entwickelte. Die polni-schen Widerstandsorganisationen, mit Ausnahme der 1941/42 noch kaum in Erscheinung tretenden Kommunisten, gingen zu dieser Zeit eher noch weiter auf Distanz zur jüdischen Minderheit. Viele in der Vorkriegszeit politisch aktive Juden waren entweder bereits 1939 geflüchtet oder bald in die Fänge der Gestapo geraten. So war es für die Aktivisten in den Gettos nicht leicht, an verlässliche Informationen oder gar Waffen zu gelangen. Zudem waren die Deutschen bemüht, die Opfer über den Zweck der Deportationen hinwegzu-täuschen. Gleichzeitig beantworteten sie jegliche Widersetzlichkeit gnadenlos mit Gewalt – nicht nur gegen die Widerständler, sondern unterschiedslos gegen alle Juden. Emanuel Ringelblum beschrieb dieses Dilemma folgendermaßen: „Die Juden haben nirgendwo Widerstand geleistet; sie gingen passiv in den Tod und taten dies, damit andere Juden am Leben blieben. Weil jeder Jude wusste, dass er, wenn er die Hand gegen die Deutschen erhob, jüdische Brüder und Schwestern in einer anderen Stadt, und vielleicht sogar in ei-nem anderen Land, gefährden würde.“106 Daher stritten die Kämpfer lange über den Sinn einer bewaffneten Revolte, gefährdeten sie doch potentiell das Leben unzähliger Kinder, Frauen und Männer für einen Aufstand, der vermutlich eine nur geringe Wirkung entfal-ten würde. Trotz dieses moralischen Dilemmas entstanden in über 50 Gettos im besetzentfal-ten Polen bewaffnete Widerstandsgruppen. Mangels Quellen ist es kaum möglich, verlässliche Zahlen zu nennen; die meisten Informationen über diese Gruppen finden sich in den Erinnerungsberichten überlebender Gettokämpfer und -kämpferinnen.107

Widerstand und Flucht waren jedoch nur wenigen möglich, zumal es nur selten ganzen Familien gelang, sich gemeinsam zu verstecken. Es sei verständlich, so die Soziologin Barbara Engelking, „dass die Menschen im Angesicht des Todes, als die letzte Chance der Rettung vermutlich nur noch in der Verbindung mit anderen Menschen bestand, mit ihren Nächsten und Verwandten zusammenbleiben wollten und damit ihre Liebe, Ver-bundenheit, Treue und ihren Mut unter Beweis stellten. In diesem gemeinsamen Todes-marsch sehe ich viele positive Empfindungen, viele Zeichen von Größe, Treue und Auf-opferung. Nur der sehr oberflächliche Blick eines gleichgültigen Betrachters interpretiert dies als Wanderung von ‚Schafen zur Schlachtbank‘.“108

Die Initiative zum Widerstand kam dementsprechend meist von jungen, familiär oft noch ungebundenen Männern und Frauen, die bereits in Jugendorganisationen

106 Ringelblum, Kesovim fun geto (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 410; zit. nach Kassow, Ringelblums Ver-mächtnis (wie Anm. 22), S. 552.

107 Arno Lustiger, Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden in Europa 1933 – 1945, Köln 1994, S. 77 ff.

108 Barbara Engelking, Jest taki piękny słoneczny dzień … Losy Żydów szukających ratunku na wsi polskiej 1942 – 1945, Warszawa 2011, S. 32.

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mengeschlossen waren und nun auch in den Gettos gemeinsam berieten, wie sie sich angesichts der Verfolgungssituation verhalten sollten. Viele von ihnen engagierten sich in der Anfangszeit der Gettos in der Selbsthilfe und im kulturellen Bereich. Als immer mehr Nachrichten über die Massenmorde in die Gettos gelangten, begannen manche dieser Aktivisten, über eine bewaffnete Revolte nachzudenken.

Nach langen Diskussionen entschieden sich die Kämpfer vielerorts, sich erst dann be-waffnet zu widersetzen oder Massenfluchten in die Wälder zu organisieren, wenn die restlose Auflösung des Gettos bevorstand: So sollte gewährleistet werden, dass durch die Revolte nicht das Leben der übrigen Bevölkerung vorzeitig aufs Spiel gesetzt würde.

Dies war in Ostpolen früher der Fall als im Rest des Landes – der jüdische Widerstand in Polen begann nicht erst mit dem Aufstand im Warschauer Getto vom Frühjahr 1943.109

In Warschau sprachen sich bei einem Treffen der jüdischen Untergrundorganisationen im März 1942 vor allem die Mitglieder der Jugendbewegungen für eine baldige konzer-tierte Widerstandsaktion aus. Doch nicht nur die Vertreter des konservativ-orthodoxen Agudas, sondern auch die Mitglieder des sozialistischen Bunds legten eine deutliche Zurückhaltung an den Tag. Dementsprechend verhallte auch der Widerstandsaufruf des linkszionistischen Antifaschistischen Blocks weitgehend ungehört (Dok. 76).110 Erst als im August 1942 Nachrichten aus Treblinka das Getto mitten in der großen Aus-siedlungsaktion erreichten, waren sich die Aktivisten über die Notwendigkeit eines be-waffneten Widerstands einig: Nur die wenigsten machten sich nun noch Illusionen über die Pläne der Deutschen. Doch fehlten Waffen, zudem fielen nahezu jeden Tag Mitstrei-ter der Deportation zum Opfer, so dass die Voraussetzungen für Gegenwehr, zumal eine militärische, denkbar schlecht waren.

Nach dem Schock der „Großen Aktion“, die im September 1942 zu Ende ging, bereiteten sich die zum Widerstand entschlossenen größeren und kleineren Gruppen im War-schauer Getto auf die nächste Vernichtungsaktion vor. In den letzten Monaten des Jahres 1942 entstand die Jüdische Kampforganisation (Żydowska Organizacja Bojowa), vor allem aus Mitgliedern linkszionistischer Organisationen (Haschomer Hazair, Dror, Gor-donia, Akiba, Poale Zion) und der kommunistischen Polnischen Arbeiterpartei. Diesmal schlossen sich auch Vertreter des Bunds an. Unter schwierigsten Bedingungen besorgten sie sich einige wenige Waffen (Dok. 221). Marek Edelman schrieb später über das Ziel der Aufständischen: „Wichtig war, dass wir schießen konnten. Das musste gezeigt werden.

Nicht den Deutschen. Sie konnten das selbst besser. Der anderen, der nichtdeutschen Welt mussten wir es zeigen. Schon immer haben die Menschen geglaubt, das Schießen sei die größte Heldentat. So haben wir eben geschossen.“111

Als am 18. Januar 1943 deutsche Polizeieinheiten anrückten, um die Deportationen in Warschau wieder aufzunehmen, trafen sie erstmals auf bewaffnete Gegenwehr. Sie

109 Shmuel Krakowski, The War of the Doomed. Jewish Armed Resistance in Poland, 1942 – 1944, New York 1984; Reuben Ainsztajn, Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs, Oldenburg 1993.

110 Neyshtadt, Khurbn un oyfshtand fun di yidn in varshe (wie Anm. 55); Raya Cohen, Against the Current: Hashomer Hatzair in the Warsaw Ghetto, in: Jewish Social Studies 7 (2000), S. 63 – 80;

Daniel Blatman, Notre liberté et la votre. Le mouvement ouvrier juif BUND en Pologne, 1939 – 1949, Paris 2002.

111 Bereś, Burnetko, Marek Edelman erzählt (wie Anm. 56), S. 206.

gen sich zunächst zurück, dann folgte ein tagelanger Kleinkrieg mit ungleich verteilten Kräften. Die meisten der etwa 1200 – 1400 Mitglieder des Untergrunds verfügten nicht über Feuerwaffen, sondern lediglich über Benzinflaschen u. Ä., viele starben schon im Januar.

Die Besatzungsverwaltung ließ einen Teil der Betriebe und Zwangsarbeiter sukzessive in den Distrikt Lublin verlegen. Am Morgen des 19. April 1943 marschierten wieder SS- und Polizeieinheiten in das Gettogelände ein (Dok. 227). Vier Tage lang dauerten die Gefechte, dann zogen sich die Widerständler in ihre Bunker und in die Kanalisation zurück und griffen nur noch punktuell an (Dok. 235).

Die Kämpfer und die übrige Bevölkerung hatten auf Dachböden und in Kellern Verstecke vorbereitet, um sich so lange wie möglich der Deportation zu entziehen. Unter Leitung des neuen SS- und Polizeiführers in Warschau, Jürgen Stroop, begannen bewaffnete Ein-heiten, die Häuser der Reihe nach in Brand zu setzen und die Menschen so aus ihren Schutzräumen zu zwingen. Auch vor der Entdeckung war das Leben in den engen Bun-kern die Hölle, wie Halina Birenbaum in ihren Erinnerungen eindringlich beschrieb: „Es war eng und stickig. Wie in jedem Keller herrschten Moder- und Feuchtigkeitsgeruch, Schwüle und Finsternis. Von Anfang an waren mehr Personen im Bunker als vorgesehen.

[…] Auf dem Weg zum Wasserkran oder zur Toilette trat man auf andere oder fiel über seine Nachbarn. Streit, Gezank um Nichtigkeiten, Auseinandersetzungen, Schimpfworte und Beleidigungen nahmen kein Ende.“112 Birenbaums Versteck wurde schließlich ent-deckt, sie selbst ins KZ Lublin-Majdanek deportiert, doch überlebte sie den Krieg.

Am 8. Mai schließlich wurde auch der Bunker, in dem sich ein großer Teil der Führung der Jüdischen Kampforganisation aufhielt, von den deutschen Einheiten gestürmt. Die meisten Widerstandskämpfer, darunter auch ihr Anführer Mordechai Anielewicz, nah-men sich das Leben. Nur sehr wenigen gelang die Flucht auf die „arische Seite“.113 Kurz darauf fertigte Stroop über diese Mordaktion einen zynischen, mit zahlreichen Foto

-grafien versehenen Bericht an, den er übertitelte mit: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbe-zirk – in Warschau mehr“ (Dok. 243).114

Der Aufstand im Warschauer Getto war ein äußerst ungleicher Kampf ohne Aussicht auf einen Erfolg oder die Rettung von Menschenleben in größerer Zahl. Dennoch war er für die verfolgten Juden in ganz Europa von zentraler Bedeutung, ein Akt der Selbstbehaup-tung und ein Zeichen der Hoffnung für die, die noch am Leben waren. So hatte Morde-chai Anielewicz am 23. April noch einen Brief an seinen Stellvertreter Itzchak Cukierman in den „arischen“ Teil Warschaus geschrieben. Er schilderte die ausweglose Lage und vermutete, dass sie sich nicht wiedersehen würden, betonte aber: „Die Hauptsache, daß mein Traum verwirklicht ist. Ich habe es erlebt, eine Widerstandsaktion im Warschauer Getto. In ihrer ganzen Pracht und Größe.“115

112 Halina Birenbaum, Die Hoffnung stirbt zuletzt, Frankfurt a. M. 1995 (Erstpublikation: Warszawa 1982), S. 63.

113 Helge Grabitz, Wolfgang Scheffler, Der Ghetto-Aufstand Warschau 1943 aus der Sicht der Täter und Opfer in Aussagen vor deutschen Gerichten, München 1993; Israel Gutman, Resistance: The Warsaw Ghetto Uprising, Boston u. a. 1994.

114 Jürgen Stroop, Żydowska dzielnica mieszkaniowa w Warszawie już nie istnieje! Bearb. von An-drzej Żbikowski, Warszawa 2009 (enthält das vollständige Faksimile des Originalberichts).

115 Brief von Mordechai Anielewicz an Itzchak Cukierman, 23.4.1943, abgedruckt in: Faschismus – Getto – Massenmord (wie Anm. 3), S. 518 f., Zitat S. 519.

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