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Nach den großen Massakern vom Herbst 1943

Für nicht wenige der späteren Widerstandsaktionen diente der Aufstand im Warschauer Getto als Vorbild, vor allem während der Gettoauflösungen im Juni 1943, so in Lem-berg und in Tschenstochau, insbesondere aber auch für den Warschauer Aufstand im August 1944 und für andere bewaffnete Aktionen der nichtjüdischen Polen. Im Um-land von Lublin und Kielce, das stärker bewaldet war, schlossen sich jüdische Flüchtlinge einzelnen Partisanengruppen an. Die polnischen nationalistischen Partisanen aber lehn-ten es durchweg ab, Juden aufzunehmen, und selbst bei kommunistischen Parti sanen fan-den die Jufan-den manchmal keine Unterstützung. So durften sich beispielsweise nur wenige Juden einem sowjetischen Partisanenverband anschließen, nachdem dieser im August 1943 nach Ostgalizien gelangt war und dort ein Zwangsarbeitslager befreit hatte.

Unter denkbar extremen Bedingungen kam es auch in zwei Vernichtungslagern der „Ak-tion Reinhardt“ zu Revolten der Häftlinge. Den Angehörigen der Sonderkommandos war klar, dass die Morde, aber auch die Leichenverbrennungen zum Verwischen der Spuren, an ihr Ende gelangen würden und es damit für sie keine über das Jahr 1943 hinausge-hende Überlebenschance gab. Heimlich entwendeten sie einzelne Waffen ihrer Bewacher.

Am 2. August, als sich ein Teil der deutschen Mannschaft des Vernichtungslagers Treb-linka auf einem Badeausflug vergnügte, griffen die Häftlinge ihre Bewacher an. Etwa zweihundert Häftlingen gelang es, die Lagerabsperrungen zu durchbrechen und in die Wälder zu fliehen (Dok. 259 und 261). Aber nicht einmal ein Drittel von ihnen erlebte das Kriegsende.116

In Kenntnis der Revolte in Treblinka bereiteten auch in Sobibor Häftlinge einen Massen-ausbruch vor. Eine Gruppe kriegsgefangener jüdischer Rotarmisten, die aus Minsk nach Sobibor gelangt war, spielte dank ihrer militärischen Ausbildung eine zentrale Rolle.117 Am 14. Oktober 1943 überwältigten die Aufständischen einen Teil der Wachmannschaft, und fast der Hälfte der Häftlinge, etwa 320 der insgesamt 550 Gefangenen, gelang zunächst die Flucht. Aber auch in diesem Fall wurden die meisten von ihnen bei Polizei razzien oder nach Denunziationen wieder aufgegriffen und erschossen (Dok. 274). Dennoch überleb-ten immerhin 53 Juden aus dem Vernichtungslager Sobibor den Krieg.118

Nach den großen Massakern vom Herbst 1943

Nach den Massakern der Aktion „Erntefest“ von Anfang November 1943 gab es im Ge-neralgouvernement kaum noch eine Möglichkeit für Juden, „legal“, also zu deutschen Bedingungen, am Leben zu bleiben. Lediglich im Distrikt Radom existierten noch einige Zwangsarbeitslager für Juden, die als besonders kriegswichtig galten. In den Ruinen des Warschauer Gettos richtete die SS ein neues Konzentrationslager ein, dessen Häftlinge

116 Samuel Willenberg, Revolt in Treblinka, Warszawa 1992; Richard Glazar, Die Falle mit dem grü-nen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt a. M. 1992; Chil Rajchman, Ich bin der letzte Jude.

Treblinka 1942/43. Aufzeichnungen für die Nachwelt, München 2009.

117 Aleksandr A. Pečerskij, Vosstanie v Sobiburskom lagere, Rostov na Donu 1945.

118 Arad, Belzec (wie Anm. 79), S. 270 – 364; Adam Rutkowski, Ruch oporu w hitlerowskim obozie straceń Sobibór, in: BŻIH 65/66 (1968), S. 3 – 49; Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Berlin 1998; Thomas Toivi Blatt, Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, Berlin 2000, S. 322 – 324; Marek Bem, Sobibór. Niemiecki ośrodek zagłady 1942 – 1943, Włodawa-Sobibór 2011; Włodawa-Sobibór. Bunt wobec wyroku, hrsg. von Marek Bem, Warszawa 2012.

die Trümmer abtragen und verwerten sollten. Doch im KZ Warschau waren fast aus-schließlich jüdische Häftlinge aus anderen Ländern inhaftiert, die man dorthin verbracht hatte. Einer von ihnen war Max Mannheimer, der über Theresienstadt und Auschwitz dorthin gelangt war und sich an seine Ankunft erinnert: „Es sieht alles so unheimlich aus.

Ausgebrannte Häuser. Eine große Stille. Keine Menschenseele weit und breit.“119 Während im Herbst 1943 etwa 100 000 jüdische Häftlinge in den Lagern im Generalgou-vernement ihr Dasein fristeten, war eine annähernd gleich große Zahl von Menschen untergetaucht. Nur wenige konnten sich dauerhaft in den Wäldern verstecken, wo die Versorgung schwierig und die Gefahr, von deutschen oder polnischen Streifen entdeckt zu werden, groß war. Allein junge und kräftige Personen waren in der Lage, sich den Par-tisanen anzuschließen. Am ehesten gelang ein Untertauchen in den größeren Städten, in vorbereiteten Verstecken, in Kellern, Bunkern oder auf Dachböden. Oft mussten die Un-tergetauchten, zusammengedrängt auf engstem Raum, monatelang im Dunkeln, bei Kälte und Feuchtigkeit ausharren. Allein in Warschau versteckten sich außerhalb der Gettomau-ern in den letzten Kriegsjahren etwa 22 000 Juden, von denen jeder zweite überlebte.120 Gerade die in Verstecken Untergetauchten waren völlig auf unter einer „arischen“ Iden-tität lebende oder nichtjüdische Helfer angewiesen, die Lebensmittel und gegebenenfalls Medikamente besorgten. Den polnischen, in Ostgalizien oft auch ukrainischen Helfern drohte bei Entdeckung der Tod. Entweder wurden sie wegen „Judenbeherbergung“ vor ein Sondergericht gestellt und dann zumeist zum Tode verurteilt oder durch Polizei-streifen an Ort und Stelle erschossen. Nicht selten fiel die ganze Familie diesen Morden zum Opfer. Bis heute sind namentlich etwa 1000 Polen ermittelt worden, die wegen Hilfe-leistungen für Juden von der Besatzungsmacht ermordet wurden, die meisten im Gene-ralgouvernement.121

Eine weitere Chance zum Überleben bot die Beschaffung „arischer Papiere“. Dazu war ein Kontakt mit dem polnischen Untergrund oder anderen Personen nötig, welche in der Lage waren, solche Dokumente herzustellen. Darüber hinaus mussten die Untergetauch-ten ein „arisches Aussehen“ besitzen und zumeist fern von ihrem ursprünglichen Wohn-ort leben, um nicht zufällig auf der Straße wiedererkannt zu werden. Auch eine Ak-kulturation an polnische Gebräuche und christliche Religionspraxis erwies sich als unumgänglich, ebenso musste das Polnisch der Untergetauchten akzentfrei sein – ein versehentlich benutzter jiddischer Begriff konnte die Tarnung auffliegen lassen. Nicht wenige untergetauchte Juden und vor allem Jüdinnen ließen sich als Zwangsarbeiter ins Reich anwerben, in der Hoffnung, dort in der Anonymität zu überleben.122

Auch für jüdische Kinder, die in die Obhut befreundeter christlicher Familien oder in kirchliche Einrichtungen gegeben worden waren, blieb die Gefahr groß, und das

119 Max Mannheimer, Spätes Tagebuch. Theresienstadt – Auschwitz – Warschau – Dachau, München/

Zürich 2010, S. 108; Bogusław Kopka, Konzentrationslager Warschau, Warszawa 2007.

120 Gunnar Paulsson, Secret City: The Hidden Jews of Warsaw, 1940 – 1945, New Haven, CT 2002.

121 Nechama Tec, When Light Pierced the Darkness. Christian rescue of Jews in Nazi-occupied Po-land, New York, Oxford 1986; Beate Kosmala, Ungleiche Opfer in extremer Situation. Die Schwie-rigkeiten der Solidarität im okkupierten Polen, in: Wolfgang Benz, Juliane Wetzel (Hrsg.), Solida-rität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit. Regionalstudien 1, Berlin 1996, S. 19 – 98.

122 Michał Borwicz, Arishe Papirn, 3 Bde., Buenos Aires 1955; Małgorzata Melchior, Zagłada a tożsa-mość. Polscy Żydzi ocaleni „na aryjskich papierach“. Analiza doświadczenia biograficznego, War-szawa 2004.

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leben war keineswegs gesichert. Viele von ihnen sahen ihre Eltern nie wieder und ver-loren jede Beziehung zu ihrer jüdischen Herkunft.

Angesichts der Zahl der Untergetauchten ist davon auszugehen, dass in keinem anderen Land derart viele nichtjüdische Helfer in die Rettung von Juden involviert waren.123 Man-cher Versteckte musste ein Dutzend Mal die Unterkunft wechseln und war immer wieder aufs Neue auf Helfer angewiesen. Zugleich war die Gefahr der Denunziation allgegen-wärtig.124

Deutsche und einheimische Polizisten suchten systematisch nach untergetauchten Juden.

Diejenigen, die sie entdeckten, ermordeten sie. Auch die polnische und besonders die ukrainische Polizei waren an diesen Verbrechen beteiligt, gelegentlich sogar einheimische Beamte aus der Forstverwaltung oder ähnlichen zu Hilfsdiensten verpflichteten Berufs-gruppen.125

Der Einmarsch der Roten Armee im Osten des Generalgouvernements im Juni/Juli 1944 kam für die allermeisten Juden zu spät. Die wenigen jüdischen Zwangsarbeiter wurden von der SS evakuiert und in die Konzentrationslager überführt, wo die meisten von ihnen in den letzten Kriegsmonaten umkamen. Nur diejenigen, die untergetaucht waren und lange genug durchhalten konnten, erlebten im Juli 1944, beim Warschauer Aufstand im August 1944 oder bei der nächsten sowjetischen Offensive im Januar 1945 ihre Befreiung, andere erst später in den Lagern im Deutschen Reich. In ganz Polen wurden Schätzungen zufolge 50 000 bis 60 000 überlebende Juden befreit, weitere 20 000 bis 40 000 aus Kon-zentrationslagern im Reich.126 Zwar kehrten viele Juden – immerhin einige Zehn tau-send –, die 1939 in die Sowjetunion geflüchtet waren, nach Kriegsende wieder zurück.

Angesichts ihrer vollkommen zerstörten Heimatstädte und -dörfer, der Grenzverschie-bung, in deren Folge weite Teile Ostpolens der Sowjetunion einverleibt wurden, und des Erstarkens von Antisemitismus bis hin zu gewaltsamen Übergriffen wanderten die meisten Juden bald nach dem Krieg aus Polen aus.

Zuvor jedoch hatten die unmittelbar nach der Befreiung gebildeten Jüdischen Histori-schen Kommissionen zahlreiche Überlebende befragt und um Aufzeichnungen ihrer Erlebnisse während der Besatzung gebeten. Neben dem Ringelblum-Archiv sind diese mehrere Tausend heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau verwahrten Be-richte eine der wichtigsten Quellen zur deutschen Besatzungsherrschaft in Polen, die in einem beispiellosen Vernichtungsfeldzug die polnische Judenheit nahezu völlig ausge-löscht hat.

123 Eine Zahl von etwa 200 000 polnischen Helfern schätzt Feliks Tych, Polish Society’s Attitudes Towards the Holocaust, in: Facing the Nazi Genozide: Non-Jews and Jews in Europe, hrsg. von Beate Kosmala, Feliks Tych, Berlin 2004, S. 87 – 105, hier 101.

124 Jan Grabowski, „Ja tego Żyda znam!“ Szantażowanie Żydów w Warszawie 1939 – 1943, Warszawa 2004.

125 Engelking, „Jest taki piękny słoneczny dzień …“ (wie Anm. 108); Jan Grabowski, Judenjagd. Polo-wanie na Żydów 1942 – 1945. Studium dziejów pewnego powiatu, Warszawa 2011; The Holocaust in Occupied Poland. New Findings and New Interpretations, hrsg. von Jan T. Gross, Frankfurt a. M.

u. a. 2012.

126 Teresa Prekerowa, Wojna i okupacja, in: Najnowsze dzieje Żydów w Polsce w zarysie (do 1950 roku), hrsg. von Jerzy Tomaszewski, Warszawa 1993, S. 273 – 384, hier 384; Tych, Polish Society’s Attitudes (wie Anm. 123), S. 100.