• Keine Ergebnisse gefunden

• •

In diesem Kapitel wurde der Versuch unternommen, einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Erkenntnisse zur Wortfolge im Slavischen während der letzten einhundert Jahre zu geben. Vor allem interessierten hier Arbeiten über das Kroatische und das Serbische, die in ganz überwiegender Anzahl von Muttersprachlern verfaßt worden sind.

Die Wortfolge wurde schon immer als ein Teil der Syntax betrachtet, aber wegen ihrer Komplexität oft nur sporadisch bearbeitet. Die Linguistik des 19. Jh. brachte für die Syntax ein insgesamt eher bescheidenes Interesse auf; sie stützte sich zu weiten Teilen auf die klassischen Grammatiken der Antike - sowohl allgemein als auch bei der Darstellung der Wortfolge. Im 20. Jh. rückte die Syntax weitaus mehr in das Zentrum des Interesses; ge- stützt auf die neu entwickelten linguistischen Theorien wurde die Problematik der Wortfolge nunmehr anders gesehen und auch zu lösen versucht.

Das Kroatische wird in der linguistischen Literatur generell als eine Sprache mit einer ‘ganz fireien’ oder ‘relativ freien’ Wortfolge beschrieben, so daß genauere Regeln zur Wortfolge nur schwer zu formulieren seien. Der herrschenden Auffassung entgegensetzt ist die Meinung von U. Engel und seiner Kollegin P. Mrazovié, nach denen ״ überhaupt die sogenannte Freiheit der Stellungsverhältnisse häufig nichts als ein Indiz dafür ist, daß ein beson- ders vielfältiges und noch nicht durchschautes Regelsystem vorliegt“ .'“

Die Forschung zur Wortfolge im Kroatischen und im Serbischen spannt sich 67

ENGEL (1974, 129). Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

0 0 0 5 6 0 1 9

68

zwischen diesen beiden Gegenpolen, aber die Mehrheit der Meinungen grup- piert sich doch um den erstgenannten. Weil die ‘Freiheit’ der Wortfolge im Kroatischen hauptsächlich durch die Stellung der Enklitika eingeschränkt wird, haben die meisten Autoren den Enklitika ihr Hauptaugenmerk ge- schenkt. Bei manchen Autoren gewinnt man sogar den Eindruck, als sei die Wortfolge mit der Frage der Enklitika identisch.

Man kann die aus der obigen Diskussion gewonnenen Einsichten fol- gendermaßen zusammenfassen:

Am Anfang der modernen Forschung über die Wortfolge steht der tra- ditionelle Ansatz. Die W örter werden aufgrund ihrer Funktionen im Satz untersucht, d.h. Subjekt, Prädikat und Objekt sind gleichzeitig Kategorien der Wortfolge. Man bemüht sich, ihre Beziehung bzw. ihre Stellung untereinan- der zu beschreiben. Daraus folgend wird zwischen einer natürlichen (ordo naturalis) und einer artifiziellen (ordo artificialis) Wortfolge unterschieden (zu diesen beiden Termini und ihrer erheblichen Anzahl von Varianten siehe Tabelle Ib). Bei einer solchen Interpretation des Satzes ist aber gerade der Ausgangspunkt, d.h. die Kategorien des Subjekts, Prädikats und Objekts, problematisch, weil diese nie vollständig befriedigend definiert werden konn- ten. Die Situation wird noch komplexer, wenn diese Funktionen durch meh- rere W örter besetzt sind, oder aber, wenn eine stilistisch markierte Wortfolge auftritt. D er traditionelle Forschungsansatz will meist feststellen, in welcher Reihenfolge Subjekt, Prädikat und Objekt stehen und wie sich Adjektiv und Pronomen im Verhältnis zum Substantiv positionieren. Kroatisch und Ser- bisch werden als Sprachen der ‘freien W ortfolge’ oder aber der ‘ziemlich freien W ortfolge’ bezeichnet, mit Ausnahme der Stellung von Präpositionen, Konjunktionen und Enklitika. Bei einigen Autoren des traditionellen Ansatzes finden sich aber schon Einsichten in den kommunikativen Charakter des Satzes (bei Babukić teilweise ausgearbeitet, bei Djordjevic sehr ausführlich).

Jedoch erst die Wortfolgeforschung der 1960er Jahre wird sich dieser Auffas- sung vermehrt annehmen und sie langsam in die Grammatiken einbeziehen.

Ein Schritt weiter ist der Ansatz, die ‘freie’ Folge im slavischen Satz durch Zuhilfenahme psychologischer Faktoren zu erklären. So wurden die

5 6 0 1 9

69 Auch später entstandene Grammatiken von muttersprachlichen Autoren sind meistens traditionellen Charakters (Težak-Babič 1973, Brabec-Hraste- Zivkovic, Stevanovic). Erst die neuesten Ausgaben der Grammatikbücher übernehmen die Erkenntnisse der funktionalen Satzperspektive, der Generati- ven Transformationsgrammatik oder aber der Dependenz-Grammatik.

Eine neuartige Betrachtungsweise des Satzes und seiner Struktur hat die Prager Schule angeboten, deren Anhänger in dieser Theorie auch einen mög- liehen Lösungsweg fur die komplexe Wortfolge des slavischen Satzes sahen.

Auf einer theoretischen Ebene wurde ausgearbeitet und formuliert, was schon in älteren Texten an Hinweisen und Andeutungen über den kommunikativen Charakter des Satzes enthalten war. Die Prager Interpretationsschule tritt in ihrer Betrachtung der Wortfolge gleichsam einen Schritt zurück und versucht, den Satz im Rahmen des Kontexts und aufgrund von kommunikativen Krite- rien, d.h. des kommunikativen Wertes der einzelnen Satzteile Thema und Rhema, zu untersuchen.

D er Ansatz der funktionalen Satzperpektive versucht im Prinzip, den alten traditionellen Ansatz in dem Sinne zu erweitern, daß die innerliche Or- ganisiertheit der Satzelemente als kontextabhängig berücksichtigt wird. Die überkommene Terminologie wird dadurch automatisch relativiert und die tra- ditionellen Begriffe des Subjekts und des Prädikats durch die Termini Thema und Rhema ersetzt. D er Ansatz der Generativen Transformationsgrammatik findet sich ab Ende der 1970er Jahre auch in kroatischen Grammatiken re- flektiert, allerdings mit spezifischen Abweichungen.

Als die wichtigsten Vertreter dieser Schule, die zum kroatischen Satz- bau gearbeitet haben, können Jonke, Katičič und Silić genannt werden. All- gemein läßt sich sagen, daß der theoretische Ertrag dieser Schule heutzutage zum unumgänglichen Instrumentarium in der Interpretation der Wortfolge ge- hört und sich in allen neueren linguistischen Texten findet. Allerdings geraten Darstellung und Inteфretation oft oberflächlich und sind allgemein nicht aus- reichend. Hinzu tritt noch das grundsätzliche Problem dieses theoretischen Ansatzes: Es ist noch nicht gelungen, zu definieren, was eigentlich im Satz Thema und Rhema bedeuten.

Das Serbische wurde in den letzten Jahren auch mit Hilfe eines anderen Grammatikmodells untersucht. P. Mrazovic hat die Dependenzgrammatik auf den serbischen Satz angewendet und dabei weiter zu entwickeln versucht. Sie gibt präzise, allerdings auch zahlreiche Regeln über die Stellung der

Satzele-Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

0 0 0 5 6 0 1 9

70

mente, mit der offenkundigen Absicht, alle Kombinationsmöglichkeiten abzu- decken. Die Dependenzgrammatik, für die deutsche Satzforschung entwik- kelt, ist eine fur das Kroatische und das Serbische gänzlich neue Theorie- schule. Es muß sich daher noch zeigen, ob sie für den slavischen Satz wirk-lieh geeignete Lösungen anbieten kann.

é * *

Die vorangehende Übersicht zur Forschung über die Wortfolge im Kroatischen sollte die Hauptprobleme verständlich machen und für das Ver-ständnis der Problematik der Enklitika einen weiteren Rahmen schaffen.

Denn nur so kann man fortschreitend die Stellung der unbetonten W örter im Satz untersuchen.

:0 5 6 0 1 9

2. ENKLITIKA IN DER MODERNEN KROATISCHEN