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Die Sprachwandelproblematik im Rahmen der klassischen

3. ZUR ERFORSCHUNG DES SPRACHWANDELS

3.1 Allgemeine Erkenntnisse zum Sprachwandel

3.1.1 Die Sprachwandelproblematik im Rahmen der klassischen

Als erstes wäre hier die Junggrammatische Schule zu nennen, die die komparativ-historische Methode bevorzugte und sich - von einem histori- sehen Standpunkt aus - auf die faktenorientierte Forschung konzentrierte.

Synchronische Fragestellungen wurden von den Junggrammatikern gänzlich vernachlässigt - ein Mangel, den bekanntlich der später auftretende Struktu- ralismus kritisieren wird.

Hermann Paul, einer der bekanntesten Vertreter d ie se r Schule, betrach- tete die Sprache als Kollektiveigentum. Paul versuchte, die Frage des Sprach- Wandels aus d e r Psychologie heraus zu erklären. Seiner Meinung nach ist im

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Unterbewußtsein der Menschen ein bestimmter Sprachusus als Vorbild abge- legt, könne aber nicht immer vollständig korrekt reproduziert werden. Indivi- duelle Assoziationen und leichte Abweichungen vom Usus führen daher unter Umständen zu einer Änderung der Sprache insgesamt. Sprachwandel tritt demnach durch den Wandel der Sprache eines Individuums (Idiolekt) und durch die Änderung des Sprachusus ein. Paul hat zudem das Erlernen der Muttersprache durch das Kind als eine Phase gedeutet, in der Sprachwandel vermehrt auftritt. Diese Anregung sollte von der späteren Generativen Trans- formationsgrammatik wieder aufgenommen werden. Als Kritik gegen Paul ließe sich Vorbringen, daß die Sprache des Kollektivs nur eine psychologische Kategorie ist. In der Realität sind aber die Sprache des Individuums und ihre konkrete Sprachmanifestation ausschlaggebend.^‘‘^

Der physische Bereich, in dem sich Sprache realisiert, also die Laute, entwickelt sich hingegen nach Auffassung der Junggrammatiker regelhaft auf- grund von Gesetzen. Die Junggrammatiker, die sich unter diesem Blickwin- kel den Lautgesetzen widmeten und in diesem Bereich sehr viel zur For- schung beigetragen haben, glaubten an eine prinzipielle Gesetzmäßigkeit bei allen Lautveränderungen. Ausnahmen müßten und könnten immer durch eine weitere Entwicklung der Theorie erklärt werden. Als die beiden Hauptfakto- ren für Ausnahmeerscheinungen in den Lautgesetzen deuteten die Junggram- matiker die Entlehnung von Wörtern aus Nachbarsprachen bzw. Dialekten und die Bildung von W örtern aufgrund von Analogien zu gebräuchlichen und regulären Bildungsmustem.^‘*’

In seiner Übersichtsdarstellung zur historischen Linguistik führt Boretz- ky unter anderem folgende Mängel der junggrammatischen Theorie an:

Neben ihrem Verzicht auf eine explizite Theoriebildung sei sie wegen ihrer Vielzahl von Regeln im Methodischen steckengeblieben. Viele Begriffe seien auf der ״ niedrigsten Ebene“ angesiedelt und besäßen noch einen stark empi- rischen Gehalt. D er Grad an Allgemeingültigkeit der junggrammatischen Theorie sei denkbar gering, da die Abstraktion hin zu einem ״ Sprachzu- stand“ nicht vollzogen worden sei.^“*

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*^IV IC, M. (1978, 49).

-* י LYONS (1989, 300•

ג« BORETZKY (1977, 450• Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

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Aber neben der Kritik, die die späteren linguistischen Schulen zu Recht äußerten, dürfe man nach Lyons die Methoden der vergleichenden Sprach- Wissenschaft nicht völlig ignorieren:

״ ..w ir erkennen möglicherweise klarer als unsere Vorgänger, daß sprach- liehe Veränderung nicht einfach eine Funktion der Zeit, sondern auch der sozialen und geographischen Gegebenheiten ist; und wir werden vielleicht zugeben, daß Sprachen, unter gewissen Bedingungen, im Laufe der Zeit sowohl konvergieren als auch divergieren können. Keine dieser Modifika- tionen reicht jedoch aus, um die Methoden oder die seinerzeit gezogenen Schlüsse der vergleichenden Sprachwissenschaft vollkommen zu entkräf- ten.“^^’

In der Entwicklung der linguistischen Theorie profilierte sich der Struk- turalismus als eine Schule mit einer neuen Betrachtungsweise. Dabei hat die von ihm vorgenommene Trennung der Ebenen von Synchronie und Diachro- nie und das Insistieren auf einer synchronischen Untersuchung der Sprache eine wichtige Rolle gespielt. Ferdinand de Saussure versteht die Sprache als ein homogenes System, das man als solches betrachten und untersuchen sollte. Die Fakten und Verhältnisse im Zusammenhang mit einer Sprache sollten nicht isoliert, sondern als Teil eines Systems verstanden werden.

Sprache erschließe sich erst im Zusammenhang und Zusammenspiel der ver- schiedenen Elemente und Funktionen. Für de Saussure ist die Sprache in er- Ster Linie ein gesellschaftliches Phänomen und dementsprechend sei sie zu untersuchen. Sprache sei ein statisch-homogener Zustand; durch den Sprach- Wandel werde die Sprache von einem statischen Zustand in einen neuen über- führt und durch diesen ersetzt.^*“ Die Sprache ist also an jedem Punkt ein geschlossenes System, und Veränderungen geschehen sprunghaft. Im Unter- schied zu den Vertretern der historisch-vergleichenden Linguistik meint de Saussure, ״ daß historische Überlegungen für die Untersuchung bestimmter zéii\\c\itr Zustände einer Sprache irrelevant sind.“^^' Dieser von vielen lin- guistischen Schulen des 20. Jh. übernommene Standpunkt führte zu einer starken Trennung von synchronischen und diachronischen Ansätzen und zu entsprechend lähmenden Folgen für die Sprachwandelforschung.

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Ein bekannter Kritiker einer solchen Auffassung ist Coseriu, der in den 1950er Jahren zeigte, daß die Trennung von Synchronie und Diachronie zu großen Problemen bei der Erforschung des Sprachwandels führt. Er entwik- kelte zu diesem Zweck eine eigene Theorie, um diese Dichotomie deutlich zu machen und zugleich zu überwinden. Seiner Meinung nach liege die Dichoto- misierung begründet in einem ״perspektivischen Irrtum, der grundsätzlich in der - explitziten oder impliziten - Identifizierung von ‘Sprache’ und ‘syn- chronischer Projektion’ zum Ausdruck kommt. Der Gegensatz Synchro- nie-Diachronie liege nicht in der Sprache selbst, sondern in der Sprachwis- senschaft begründet, wo er zu Untersuchungszwecken eingeführt worden sei.

Coseriu führt weiter aus, ״daß es keinen Widerspruch zwischen ‘System’ und

‘Geschichtlichkeit’ gibt, sondern im Gegenteil die Geschichtlichkeit der Spra- che ihre Systematizität einschließt.

Muhr zeigt von einer soziolinguistischen Warte aus weitere Mängel von de Saussures Theorie. De Saussure habe, obwohl er die soziale Seite der langue betonte, in seiner Erklärung des Sprachwandels den sozialen Kontext nirgendwo eingebunden.^ Soziale Aspekte seien zwar bei Martinet schon weitaus mehr betont worden, aber erst bei Meillet und Sommerfeld in den Vordergrund gerückt. Sommerfeld sei sogar als ein ״ Vorläufer der diachro- nen Soziolinguistik“ zu betrachten, indem er gefordert habe, man solle die Beziehungen zwischen dem Sprachsystem und der Gesellschaft untersu- chen.“ ^ Muhr charakterisiert den Unterschied zwischen Junggrammatikern, Strukturalisten und späteren Soziolinguisten wie Labov zusammenfassend so:

Die Junggrammatiker und Strukturalisten seien davon ausgegangen, daß ״ zu- erst der Strukturwandel stattfindet, woraus Formenschwankungen resultieren, bis schließlich endgültige Regelmäßigkeit eintritt. Nach Labov ist man heute der Ansicht, daß zuerst sublinguistische Schwankungen (also allophonische Varianten) auftreten, dann der Lautwandel erfolgt und schließlich endgültige Regelmäßigkeit eintritt.“^

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COSERIU (1974, 9).

“ י Ibid., 9f.

MUHR (1981, 10).

“ ’ Ibid., 11.

“ « Ib id ., 11. Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

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Boretzky vermißt eine allgemeine Theorie des Sprachwandels und be- wertet dementsprechend die bestehenden Sprachwandeltheorien nach dem Kriterium, wie weit sie von diesem Ziel enfemt sind. Bei der Theorie von de Saussure fanden sich Unvollständigkeiten gerade im Bereich von langue und parole. Da de Saussure die angeblich überindividuelle und für die ganze Ge- meinschaft einheitliche langue als das wichtigste sprachwissenschaftliche Untersuchungsgebiet deutet, drängt er alle eventuellen (und für ihn uninteres- santen) Veränderungen in das Gebiet à tr parole ab. De Saussure mache nicht klar, wie es überhaupt zu Veränderungen in der langue komme (da sie doch irgendwann eintreten müssen) und was er vom Phänomen des allgegenwär- tigen Sprachwandels halte.“ ’

Der zur gleichen Zeit entstehende amerikanische Strukturalismus hat außer einigen Grundideen nichts mit dem de Saussureschen Strukturalismus gemeinsam. Der Gründer des amerikanischen Strukturalismus, Bloomfield, vertrat sogar in manchen Fragen zu de Saussure konträre Standpunkte. Nach Bloomfield existiert die Sprache als konkretes empirisches Faktum, und dem- entsprechend sollten linguistische Untersuchungen auf den konkreten Sprech- akt hin bezogen durchgefuhrt werden.“ * Laut Boretzky hat auch diese Schule nicht viel ״ zur Auflösung des Widerspruchs zwischen dem (synchro- nen) geschlossenen und sich selbst genügenden System und dem Phänomen des Wandels“ beigetragen.

Die Schule des Funktionalismus stammt an sich vom de Saussureschen Strukturalismus ab, hat diesen aber zu überwinden versucht. So wurde die strikte Trennung von langue und parole aufgehoben und Synchronie und Dia- chronie nicht mehr getrennt, sondern als nahestehende Kategorien gedeu- tet.^“ D er Funktionalismus, ebenfalls bekannt unter dem Namen ‘Prager Schule’, stellte als Kategorien neben der Struktur auch die Funktionen einer Sprache auf und legte damit die Grundlage fur ein neues Verständnis des Sprachwandels. In de Saussures Sichtweise der Sprache als statischer und

BORETZKY (1977, 47).

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homogener Zustand konnte nämlich Sprachwandel nur als eine Störung des Systems verstanden werden. ״Historische Sprachen müssen aber als offene, dynamische und aus (funktional) verschiedenartigen Subsystemen zusammen- gesetzte Systeme verstanden werden, wenn man dem Faktum Rechnung tra-gen will, daß sie sich ständig verändern, ohne daß sie aufhören zu fiinktio-meren.«261

Für die Sprachwandelforschung war es wichtig, daß die Diachronie jetzt im engen Verbund mit der Synchronie untersucht w u r d e . D i e Ver- treter dieser Richtung der Sprachforschung haben im Bereich der Diachronie unterschiedliche Erklärungen angeboten: Jakobson und Martinet deuteten sie als systemintem, Meillet und Sommerfeld sahen die externen (sozialen) Fak- toren als wichtig an, und Vachek versuchte, beide Erklärungsansätze mitein- ander zu verbinden.“ ^

So sagt Vachek, der Einfluß externer Faktoren auf die gegebene Struk- tur einer Sprache müsse immer unter besonderer Berücksichtigung der inne- ren, diese Struktur bestimmenden Gesetzmäßigkeiten untersucht werden.

Der Einfluß externer Faktoren ist dabei nicht von direkter, unmittelbarer Art;

״ Sehr häufig liegt sekundärer Einfluß vor, der durch die Wirkung irgend- eines anderen Sprachsystems vermittelt wird, das als Exponent externer Kräf- te auftritt, die auf das betroffene Sprachsystem einwirken.“ W eiter sagt Vachek - und das ist besonders im Hinblick auf die Stellung der Enklitika im Kroatischen von hohem Interesse:

״ Eine solche vermittelnde W irkung eines anderen Sprachsystems zeigt sich besonders deutlich in einer historischen Situation, in der eine be- stimmte Sprachgemeinschaft auf politischem und ökonomischem (und

in-141

־“ CHERUBIM (1975, 24).

־

־ Siehe hierzu auch die A usführungen von Jakobson; ״ Die V ersuche, die Synchronie, die Statik und das Gebiet d er Anwendung d er Teleologie einerseits bzw . die Diachronie, die D ynam ik und die Sphäre d er m echanischen Kausalität andrerseits zu identifizieren, schm älern ungesetzlich den Rahmen der Synchronie, sie m achen die historische Sprachw issenschaft zu einem Agglom erat von vereinzelten Tatsachen und schaffen die schädliche Illusion einer Kluft zw ischen Problem en d er Synchronie und d er D iachronie.“ (JAK O BSO N, 1975 , 98).

CHERUBIM (1975, 45).

י־*" VACHEK (1975, 191). Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

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folgedessen auch auf kulturellem) Gebiet in Abhängigkeit von einer ande- ren Sprachgemeinschaft g erät.“־“

Coseriu, der sich der Kritik der Prager Schule an de Saussure an- schließt, ״ hält ihnen aber auch vor, auf halbem Wege stehen zu bleiben, da sie auf der Basis eines falschen oder zumindestens unklaren Sprachbegriffs Sprachwandel noch immer als Veränderung zwischen Zuständen statt als kon- tinuierlichen Verlauf begreifen.“^“ Durch die Einführung der funktionalen Komponente der Sprache und der externen Faktoren, die auf die Sprache Einfluß ausüben, hat die Prager Schule ״den heutigen soziolinguistischen An- satz der diachronischen Sprachwissenschaft vorbereitet, er wurde jedoch erst in jüngster Zeit realisiert.

Die Generative Transformationsgrammatik (GT), Ende der 1950er Jahre durch Noam Chomsky begründet, wird oft als die größte linguistische Umwälzung des 20. Jh. angesehen - vor allem, weil sie die Syntaxforschung sehr beförderte. Aber, wie Boretzky ausführt, ist es auch der GT nicht gelun- gen, eine Theorie des Sprachwandels zu entwickeln. Sie habe sich mit Teil- beschreibungen von Sprachwandel, hauptsächlich von Lautwandel, beschäf- tigt.^“ Derzeit gibt es im Rahmen der GT so viele Richtungen, daß es kaum möglich ist, von einem einzigen und allgemein akzeptierten Modell des Wandels zu sprechen. Zwar gebe es, wie King erläutert, ein grundsätzliches Modell des sprachlichen Wandels in der GT, es weise aber so viele Variatio- nen und Abweichungen auf, daß man mit gutem Gewissen einfach von ver- schiedenen Modellen sprechen könne.

Im Mittelpunkt von Chomskys Interesse stehen Prozesse, die auf syn- chronischer Ebene entstanden; geschichtliche Probleme sind für ihn von mar- ginaler Bedeutung. Die GT konzentriert sich in erster Linie auf die Beschrei- bung sprachlicher Erscheinungen. Den Sprachwandel sieht sie ״als

systemati-“ M bld.,192.

CHERUBIM (1975, 26).

“ ’ Ibid., 30.

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sche Veränderung der zugrundeliegenden Kompetenz, d.h. der Regeln, die (hauptsächlich) die Produktion und das Verstehen von Sätzen bestim- m en.“^™ Weiterhin wird der Sprachwandel nicht als gradueller, sondern als diskontinuierlicher Prozeß aufgefaßt; nur seine Ausbreitung gehe graduell vor sich.^’‘ A uf der diachronischen Ebene werden Änderungen in der Sprache als Regelverluste beschrieben.

Die GT hat die schon früher versuchte Erklärung, die Ursachen des Sprachwandels im kindlichen Spracherwerb zu sehen, wieder aufgenommen.

Den Grund dafür sehen die Transformationsgrammatikerin der Tatsache, daß Kinder ״ die Tendenz haben, die jeweils einfachste Grammatik zu konstruie- ren und markierte Features daher nach Möglichkeit zu vermeiden trach- ten.“^’^ Insgesamt aber kann gesagt werden, daß sich die GT vorwiegend der Beschreibung der Sprachveränderung gewidmet und sich um Erklärungen des Wandels nicht bemüht hat: ״Obwohl einige der allgemeinen oder univer- salen Prinzipien der Sprachentwicklung Erklärungsansätze darzustellen schei- nen, bleiben doch die Ursachen sprachlichen Wandels bzw. einzelner kőnkre- ter Veränderungen meist außerhalb des Untersuchungsbereichs.

Boretzky wirft der GT vor, sie beschreibe eine letztendlich nichtexistie- rende Sprache, die durch Linguisten normiert und damit künstlich geschaffen werde. Eine solche Sprache sei idealer als jede Standard- oder Hochsprache und ohne den Ballast all der komplizierten Phänomene, die eine reguläre Sprache mit sich führe. Die Transformationsgrammatiker hätten sich also ihren Untersuchungsgegenstand selbst erschaffen.^’׳‘ Labovs Kritik an der GT zielt wiederum gegen deren Konzentration auf den Idiolekt, den Entwurf individueller Modelle von Sprecher-Hörer-Beziehung und damit verbunden den Ausschluß von Faktoren wie soziale Variation aus dem Untersuchungsbe- reich.

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” ״ CHERUBIM (1975, 39).

*יי Ibid.. 40.

גיג M U H R (1981. 159).

CHERUBIM (1975. 42).

” "B O R E TZ K Y (1977, 5 1 0

LABOV (1978a, 261). Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

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Hier soll noch eine weitere bedeutende linguistische Methode, die sich der Sprachwandelproblematik nicht direkt widmete, aber in der letzten Zeit einiges zu ihr beigetragen hat, kurz vorgestellt werden - die Sprachtypolo- gie.^’*

Diese noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. begründete Richtung der Sprachforschung, die sich mit den Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen beschäftigt, und ״ auf eine ebenso lange Tradition aufbaut wie die Sprachwis- senschaft überhaupt“ , h a t in der letzten Zeit neuen Aufschwung erfah- ren. Auch diese Richtung der Linguistik hat, wie alle anderen linguistischen Teildisziplinen, verschiedene Entwicklungsphasen und die Ausbildung unter- schiedlicher Richtungen erlebt. Nach Haarmann teilen sich die unterschiedli- chen sprachtypologischen Ausrichtungen, wenn sie überhaupt einen solchen theoretischen Anspruch haben, nur sehr allgemeine und abstrakte Zielsetzun- gen; zudem wichen die verschiedenen Ansätze auch in ihren Forschungsob- jekten (Ganzsystem oder Teilsystem) voneinander ab.” * Lehmann teilt die allgemein-vergleichende Sprachforschung in zwei zentrale Subdisziplinen ein;

Die Universalienforschung suche nach sprachlichen Universalien, d.h. nach Merkmalen, die Voraussetzung bzw. Erscheinung jeder Sprachtätigkeit sei.

Die linguistische Typologie dagegen erforsche Sprachtypen, sie wolle die die Struktur einer Sprache (bzw. von Sprachen) bestimmenden Prinzipien ausfm- dig machen und sie in Abgrenzung zu anderen Sprachtypen kategorisie- ren.

Altmann und Lehfehldt haben die Ziele einer allgemeinen Sprachtypolo- gie folgendermaßen beschrieben:

״ a) die Sprachklassißkalion, d.h. den Aufbau eines Ordnungssystems für

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die natürlichen Sprachen aufgrund ihrer globalen Ähnlichkeit;

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״ Eine historische Sprachtypologie, d.h. eine S. der sprachlichen V eränderungsprozesse, gibt es bisher nur in Ansätzen, jedoch wird die Anwendung typologischer V erfahren im Zusam m en- hang mit der Rekonstruktion unbezeugter Sprachzustände in jü n g erer Zeit häufig g efo rd ert.“

CMLS, 1993, 587)

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b) die Aufdeckung des Konstruktionsmechanismus der Sprachen, d.h. den Aufbau eines Beziehungssystems, eines ‘Netzes’, an dem man nicht allein die offensichtlichen, kategorischen, sondern auch die latenten Mechanis-

men der Sprache ablesen kann.“^“

Altmanns und Lehfeldts Definition läßt sich gut durch Haarmanns Fest- Stellung ergänzen, daß die Sprachtypologie die Sprachen als Phänomen der inneren Sprachwissenschaft (linguistique interne) erforscht, ״ d.h. sie setzt sich mit dem Systemcharakter der Sprache auseinander. Studienobjekt ist das funktionelle System mit seinen konstitutiven Elementen, nämlich den System- einheiten bzw. Systemkategorien, deren funktionelle Oppositionen das System strukturieren.““ ‘

Wie sich die Problematik der Sprachwandelforschung mit dem sprach- typologischen Ansatz verbinden läßt, bzw. wie Klassifikation und Typologie dazu beitragen können, eine Theorie des Sprachwandels zu entwickeln, ver- suchen Altmann und Lehfeldt darzustellen: Aus sprachklassifikatorischen und typologischen Erkenntnissen müßten sich Aussagen über Gesetzmäßigkeiten in Veränderungsprozessen der Sprache ableiten lassen können. Von einer Sprachwandeltheorie könne man daher zwei grundsätzliche Leistungen erwar- ten:

1 ״) Sie muß mit Sprachveränderungen, die in der Vergangenheit abgelau- fen sind, übereinstinunen. Anders gesagt: Die Hypothesen einer Theorie über die Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels dürfen nicht durch be- kanntes Beobachtungsmaterial falsifiziert werden.

2) Sie muß prädiktiv sein, d .h ., ihre Hypothesen müssen gestatten, Sprachveränderungen vorauszusagen.

Eine leistungsfähige Theorie des Sprachwandels könne die beiden oben genannten Bedingungen nur dann erfüllen, wenn sie die dem Sprachwandel zugrundeliegenden allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten kenntlich machen k ö n n e . A u f g r u n d der Beobachtung vieler Sprachen und der Regelmäßig- keiten in ihren Veränderungen sollten Hypothesen über Sprachwandel

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A LTM A N N , L E H F E L D T (1973, 15).

HAARM ANN (1976, 22).

^ A LTM A N N , L E H F E L D T (1973, 540•

Ibid., 55. Ljiljana Reinkowski - 9783954790364

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stellt werden. Altmann und Lehfeldt gehen jedoch nicht so weit zu erwarten, daß eine Sprachwandeltheorie genaue Voraussagen über die Weiterentwick- lung einer Sprache treffen kann. Bei Sprachveränderungen würden auch äußere (und damit nicht vorhersagbare) Faktoren eine bedeutende Rolle spie- len. Die beiden Linguisten erwarten lediglich eine begrenzte Prädiktivität, die sich mit naturwissenschaftlichen Gesetzen vergleichen l i e ß e . D i e Umset- zung einer solchen Theorie stößt allerdings in der Praxis auf zahlreiche Prob- lem e,“ * zumal, so Altmann und Lehfeldt, auf dem derzeitigen Forschungs- niveau noch zahlreiche Hürden zu überwinden seien. Man solle sich deswe- gen vorläufig auf den inneren Aufbau der Sprache beschränken. In diesem Sinne sprechen Altmann und Lehfeldt über ״eine im engeren Sinne des Wor- tes linguistische Theorie des Sprachwandels“ .^“ Sprachtypologie und die Theorie des Sprachwandels treffen demnach zusammen und ergänzen sich in folgender Weise: ״ Wenn Sprachklassen gebildet worden sind, kann man mit Hilfe einer Vielzahl von numerischen Verfahren feststellen, welche Merk- malsausprägungen der Angehörigen der verschiedenen Gruppen miteinander korreliert sind“ ;^*’ d.h. je größer die Gruppe der für die Erstellung der Typologie herangezogenen Sprachen ist, um so größer ist die Wahrschein- lichkeit, daß die Korrelation zwischen den Merkmalsausprägungen sich nicht reinen Zufälligkeiten verdankt.^®*

In seiner Analyse der Möglichkeit, Sprachwandel auf der Grundlage der Sprachtypologie zu untersuchen und erweitern, betont Ch. Lehmann zwei treibende Kräfte - die Analogie und die Reduktion.

Ibid., 55.

1) ״ ) Man muß eine konkrete außersprachliche Situation so darstellen, daß die dynam ischen Eigenheiten des Ganzen dieser Situation in ihrer besonderen Konstellation w iedergegeben wer- den; (2) man muß die konkrete innere A ufbaustruktur der Sprache oder einer Sprache, ihre inne- ren dynamischen Fakten möglichst getreu beschreiben; (3) man muß erforschen, wie konkrete äußere und konkrete innere dynam ische Eigenheiten Zusammenwirken und die Größen ergeben, die einen W andlungsprozeß bestim m en.“ (Ibid., 56).

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E

״ Die Reduktion wirkt in zwei entgegengesetzte Richtungen, nämlich als Grammatikalisierung und als Lexikalisierung. Grammatikalisierung ist die Überführung von weniger grammatischen in mehr grammatische Einhei- ten, einschließlich der Überführung von lexikalischen in grammatische Einheiten. Die betroffenen Einheiten werden dabei zunehmend den Re- geln der Sprache unterworfen. Lexikalisierung ist die Überführung von grammatischen komplexen in lexikalische Einheiten, d.h. ihre Überfüh- rung ins Inventar der fertigen Einheiten der Sprache. [...] Der analogi- sehe Wandel wirkt auf allen sprachlichen Ebenen. E r führt zur Bildung neuer lexikalischer Einheiten und ist der treibende Faktor in der Wortbil- d u n g .“^”

Diejenigen Gebiete, in denen die diachronisch orientierte Sprachwissen- Schaft am ehesten gewinnbringende Erkenntnisse aus der allgemein-verglei-

Diejenigen Gebiete, in denen die diachronisch orientierte Sprachwissen- Schaft am ehesten gewinnbringende Erkenntnisse aus der allgemein-verglei-