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Zusätzliche Kasusdifferenzierungen

Im Dokument Slavistische Linguistik 1993 (Seite 48-52)

Der Faktor Sprachkontakt in einer dynamischen Typologie des Slavischen

3. Kontaktinduzierte Entwicklungen

3.2. Zusätzliche Kasusdifferenzierungen

Neben dem typologisch relevanten Verlust der Kasusflexion finden wir im Slavi- sehen auch Tendenzen zu neuen Kasusdifferenzienmgen, und zwar im Russi- sehen. Als einzige slavische Sprache weist es in seiner Geschichte eine Tendenz zur Neubildung synthetischer Kasus auf. Es handelt sich um den Partitiv der Mas- kulina auf -u und den vom Präpositiv geschiedenen sogenannten echten Lokativ, ebenfalls auf -и. Bekanntlich stammen diese Endungen rein formal aus dem Pa- radigma der altrussischen w-Deklination und hatten dort keine von den in der o- Deklination üblichen Endungen -a bzw - ë für Genitiv und Lokativ abweichende Funktionen. Prinzipiell bestanden im Rahmen der Auflösung der alten Deklina- tionsunterschiede verschiedene Möglichkeiten der Neuverteilung, wie sich an der Entwicklung in unterschiedlichen Sprachen zeigt.

Betrachten wir zunächst anhand eines sprachgeographischen Schemas die Entwicklung von G.-Endungen der alten о- und w-Deklination in den einzelnen slavischen Literatursprachen: Die beiden Deklinationen sind grundsätzlich zu- sammengefallen, wodurch die jeweiligen Endungen im Prinzip variativ wurden, sich aber oft nach irgendwelchen Regeln neu verteilten. Diese Regeln sind oft nur Tendenzen, und die Verteilung wird durch viele lexikalische Ausnahmen gestört.

In (4) habe ich dennoch versucht, Haupttendenzen für die einzelnen Sprachen zu erstellen, und zwar durch Angabe notwendiger (jedoch nicht hinreichender) Be- dingungen für die Verwendung der von den и-Stämmen kommenden Endungen:

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-9 Die hier vorgenom m ene Differenzierung des Sprachkontakts a u f Basis der Richtung der Be- einflussung steht nicht unmittelbar mit den bei PAUL (1975: 394Г ) (hinsichtlich des Lautmate- rials) angenommenen Integrationsverfahren in Zusammenhang, d.h. die direkte Übernahme in der fremden Form bzw ihre Adaptation an das muttersprachliche System (Unterschiebung /Lautsubstitution) Ersterer Fall besteht, wie auch PAUL feststellt, bei besonders intensivem Kontakt, letzterer ist die Regel bei seltenerem Kontakt In beiden Fallen handelt es sich aber um Veränderungen an L!, also um Entlehnungen, nicht um den mit Spracherwerb verbundenen zweiten K ontakttyp unter (3) Allerdings weist auch PAUL (1975 394) au f den Substratfall hin

“W o daher eine Sprache ihr Gebiet über ein ursprünglich anders redendes Volk ausbreitet, da ist es kaum anders möglich, als dass die frühere Sprache des Volkes irgend welche Spuren in der Lauterzeugung hinterlässt ” Dagegen werden die beiden unterschiedlichen Kontakttypen in Anlehnung an Th o m a s o n/Ka u k m a n (1987) von BECHERT (1991 95ff.) naher beleuchtet, der sie mit den beiden Begriffspaaren “Spracherhaltung gegenüber Sprachwechsel" und

“normale gegenüber unvollkommener Weitergabe einer Sprache” charakterisiert

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Partitiv einsilbig Inanimata nur harte Stämme

keine u-Formen Kasusschwund

Im Süden fallen Makedonisch und Bulgarisch natürlich wegen ihres Flexionsver- lusts aus der Betrachtung heraus. Im Serbokroatischen ist die u-stämmige Endung -u einfach geschwunden; wir haben nur eine G.Sg.-Form der Maskulina auf Kon- sonant, nämlich -a. Sonst gilt in groben Zügen folgendes: Das Slovenische zeigt eine formale, also deklinationsspezifische Aufteilung mit der м-stämmigen En־

dung bei Einsilblern, z.B. daru : ra zre d a x0 Im Zentralgebiet, das hier Polnisch, Weißrussisch und Ukrainisch umfaßt, hat sich die ы-stämmige Endung bei Inani- mata festgesetzt,11 z.B. poln. pokoju vs. chłopa 12 Im Tschechischen liegt eine Einschränkung dieser sozusagen genusspezifischen Funktion des alten -ы durch ein formales, deklinationsspezifisches Kriterium vor, insofern als es nur bei harten Stämmen vorkommt, z.B. hradu vs. p sa ,n während die auf palatalen Konsonan- ten endenden Stämme, bei denen -u zu ־/ umgelautet hätte erscheinen müssen, ohne Animatheitsunterschied die Endung -e aufweisen, das ist das umgelautete alte -a, z.B. m ece — muže. Tendenziell gilt diese Beschränkung auch fur das umlautlose Slovakische, so daß dem hartstämmigen Inanimatum stromu ein weichstämmiges Inanimatum stroją gegenübersteht. Jedoch zeigen hier auch weichstämmige Inanimata nicht selten -u, z.B. čaju, p la č u. Auch in den

sorbi-10 Daß die Einsilblerregelung nicht hinreichend ist, beweist eine Vielzahl von Ausnahmen, z.B.

sveta (G.Sg.), wobei auch Variation auftritt, etwa bei tat ‘Dieb’, G.Sg. tata ~ tatu

11 Die semantische Untergliederung nach dem Kriterium der “Beseeltheit” bildet die Grundlage der im Slavischen sehr wichtig gewordenen Animatheitskategorie, deren Haupterkennungszei- chen sonst die Verwendung der Genitivform im Akkusativ der Personen und Tiere bezeichnen*

den Substanüve ist Es handelt sich um die Herausbildung einer neuen Deklinations- und Kon- gruenzklasse au f semantischer Basis, also eines Genus In den betreffenden Sprachen trägt die alte G Sg -Endung der !/-Deklination somit zur Stärkung dieses neuen Genus bei

12 Es gibt im Polnischen nur ein Animatum, das hiervon eine Ausnahme bildet, w ó ł *Ochse* mit G Sg wołu Dagegen sind Inanimata mit •a häufiger, etwa ję zy k״ ‘Sprache*, G .S g języka

13 Ausnahmen in Form von Inanimata mit -a im Genitiv sind nicht sehen, z В chleba ‘Brot*

* * 1■״ י

׳\ w

Skr Sin

Big Mak

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sehen Sprachen haben wir eine Mischung aus semantischer und formaler Bedin- gung für den Gebrauch von -w im Genitiv; hier tritt sie in Form der vom Sloveni- sehen her bekannten Beschränkung der Einsilbler zusätzlich zur genustypischen Bedingung der Unbeseeltheit auf.

Nachdem wir in allen bisher genannten Sprachen also genus- und deklinati- onsdififerenzierende Funktion der и-stämmigen Endung haben, weist allein das Russische eine kasustypische Abspaltung des Genitivs auf, und zwar bei Men- genbezeichnungen, also in partitivischer Funktion, wie in (много) народу (Pari.) vs. (учитель) народа (Gen.). Bekanntlich finden wir diese w-Endung bei weitem nicht bei allen maskulinen Substantiven, aber wo sie auftritt, hat sie genau diese partitivische Funktion.14

Kommen wir nun zum Lokativ/Präpositiv. In Schema (5) ist die Entwicklung der w-Endung wiederum in Form eines Überblicks, der Aufschluß über die

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-Lokativ velare Stämme

velare und palatale Stämme

tendenziell alle harten Stämme

bei Virilità(

nur u-Form en Kasusschwund

Im Süden des slavischen Sprachraums hat die u-stämmige Endung *w das -ë der o-Stämme völlig verdrängt, so daß sie überhaupt keine differenzierende Funktion mehr hat. Im Westen sowie im Weißrussischen und Ukrainischen finden wir in der Hauptsache eine rein formale Differenzierung mit einer Beschränkung auf velare Stammausgänge, z.B. ukr. коні : робітнику,15 bzw. zum Teil zusätzlich auch auf Palatale, z.B. poln. stole : roku, pokoju, im Tschechischen tendenziell

14 Hiervon zu unterscheiden sind allerdings Relikte der älteren Verteilung nach Deklinations- klassen, wie wir sie noch in festen präpositionalen Fügungen der Art из дому oder in phraseo- logischen W endungen finden

15 Im Ukrainischen (und W eißrussischen) scheint auch bei Einsilbigkeit die w-Endung bevor- zugt, z В ладу, wahrend andererseits auch bei velarem Stam m ausgang noch die konservative Endung ־/ (<ey mit Palatalisierung) anzutreffen ist на березі W eiter steht auch nach der Prä- position no im Prapositiv bevorzugt -w Hier wie im Tschechischen und Slovakischen wird schließlich das Bild auch noch durch das Auftreten des ursprünglich dativischen •oei bei Virilia bzw Animata verkompliziert

Haupttendenzen geben soll, zusammengefaßt:

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ЩНШШ

bei allen harten Stämmen. Im Weißrussischen tritt zur Bedingung der Velarität noch die genusspezifische Beschränkung auf männliche Personen, also auf Virili- tät. Dagegen zeigt wiederum allein das Russische eine kasusspezifische Diffe- renzierung, hier mit der Tendenz zur Herausbildung eines spezifischen Ortskasus, eines “echten” Lokativs, regiert von den Präpositionen в und на, der vom

“normalen” Lokativ (Präpositiv) auf -e formal differenziert ist, z.B. на мосту (Lok.) : о мост е(Präp.).16

Meines Erachtens kann man auch für diese Sonderentwicklungen im Kasusbe- reich eine mögliche Erklärung im Sprachkontakt finden. Schließlich hat sich das Russische assimilierend in das finnisch-ugrische Sprachgebiet hinein ausgebreitet, so daß mit entsprechendem Substrat gerechnet werden kann. Hier müßten noch genauere Untersuchungen angestellt werden, v.a. auch weil sich russische Dialek- te z.T. anders verhalten als die Standardsprache. Aber es ist bekannt, daß die fin- no-ugrischen Sprachen eine ausgeprägte Vorliebe für lokale Kasus aufweisen,17 und auch der Partitiv hat dort eine wichtige Rolle.18 Zum Zeitpunkt des Sprachwechsels kann es also durchaus möglich gewesen sein, daß die im AJtrus- sischen zunehmend variativ gebrauchten u- und o ־stämmigen Kasusformen von den Substratsprechem in Kontaktgebieten in der Weise neu verteilt wurden, daß sie Kasusdifferenzierungen in ihrer Muttersprache entsprachen. Da für die Russen Variation vorlag, bemerkten sie diese Gebrauchsdifferenzierung nicht, weil s ie ja keinen Fehler darstellte, so daß diese Neuverteilung auch nicht korrigiert wurde.19 Damit konnten sich die neuen Kasusdifferenzierungen über die Ge­

16 Die Differenzierung ist in der Regel a u f Einsilbler beschrankt, wobei Polnoglasiefälle eine Opposition mit dem Akkusativ kann er aber auch eine aspektähnliche Differenzierung aus- drucken

19 Die geographische Verbreitung der Partitiv- und (echten) Lokativformen ist nicht dek- kungsgleich, und nicht überall, wo Kasusformen au f -u belegt sind, kann man von Partitiv bzw Lokativ sprechen So stellen etw a А в а н е с о в /О р л о в а (1964 1 0 7 f) bezüglich des Partitivs fest, daß namentlich in westlichen und südwestlichen Dialekten и-Form en auch im nichtpartiti- vischen Genitiv der Maskulina und sogar bei Neutra Vorkommen Die Karte 14 zum Loka- tiv/Präpositiv au f -1/ im russischen Sprachatlas (БРОМ ЛЕЙ 1989) beschränkt sich andererseits au f die reine Verteilung der Formen, wobei 100% fü r •и (bei Einsilblern) in mittleren und östli- chen Dialekten gerade gegen die neue KasusdifTerenzierung sprechen, weil ja keine Opposition zu den e-Formen besteht Doch auch für die Differenzierungsgebiete wird kein Hinweis a u f den Gebrauch der Formen gegeben, so daß die Karte für unseren Problembereich wenig aussagt Überhaupt ist über die Funktionen der maskulinen !/•Kasus im Genitiv-Lokativbereich in den einzelnen russischen Dialekten zu wenig bekannt, um genauere Festlegungen über das mögliche Ausgangsgebiet einer kontaktbeeinflußten Kasusdifferenzierung treffen zu können Es kann aber festgehalten werden, daß die dialektalen Verhältnisse jedenfalls nicht gegen die Annahme einer slavisch-finnischen K ontaktzone als Auslöser sprechen

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brauchshäufigkeit in den betreffenden Funktionen schließlich auch in der sich herausbildenden Standardsprache festsetzen.20

Es handelt sich bei dieser sprachkontaktbestimmten Differenzierung um eine Hypothese, die auf den beiden Säulen des stark systemverändemden Sprachkon- takts vom Substrattyp und eben dem Zusammentreffen des slavischen und des finnisch-ugrischen Sprachtyps beruht. Hinzu kommt aber auch noch, daß es sich bei diesem Vorgang allem Anschein nach nicht um einen Einzelfall handelt. Auf- fällig ist z.B. in der litauischen Grammatik die Existenz zum herkömmlichen Ka- sussystem zusätzlicher Lokalkasus, namentlich lllativ, Allativ und Adessiv, deren Entstehung durch Agglutinierung von Postpositionen zu erklären ist.21 Heute ist im Gegensatz zu den älteren Denkmälern neben dem Lokativ nur noch der lllativ gebräuchlich, historisch entstanden aus dem Akkusativ mit der Postposition *na, z.B. galvön zu galvà ‘K o p f. Dialektal finden sich dagegen auch heute noch AI- lativ und Adessiv, entstanden aus der Anfügung der Postposition *pi an den Ge- nitiv bzw. Lokativ.22

Sowohl die Tatsache der Entstehung dieser Kasus selbst, als auch das konkrete Verfahren zur Herausbildung der Formen über Postpositionen verweist wiederum auf eine finnische Substratbevölkerung, die von den Balten assimiliert wurde, de- ren Sprache aber in den strukturellen Veränderungen der ehemaligen baltischen Zweitsprache fortlebt.

Im Dokument Slavistische Linguistik 1993 (Seite 48-52)