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Richtung des sprachlichen Einflusses am Beispiel der Kasusflexion

Im Dokument Slavistische Linguistik 1993 (Seite 45-48)

Der Faktor Sprachkontakt in einer dynamischen Typologie des Slavischen

3. Kontaktinduzierte Entwicklungen

3.1. Richtung des sprachlichen Einflusses am Beispiel der Kasusflexion

Zunächst möchte ich mich hier einer Frage zuwenden, die bei der Untersuchung von Sprachkontaktsituationen 1a vernachlässigt wird, nämlich - vereinfacht ge־

sprachen - der Richtung des sprachlichen Einflusses. Ich will damit zu einer Klä- rung der leidigen Substrat-, Adstrat- bzw. Superstratfrage beitragen, die, über eine bloße Etikettierung des Verhältnisses der einzelnen Strata zueinander hin- ausgehend, linguistisch relevante Unterschiede dieser Beziehungen aufzeigt.

Wäre die Richtung des Sprachkontakts ohne Einfluß auf das Ergebnis der In- terferenz, dann wäre zu erwarten, daß beim Zusammentreffen derselben Sprachtypen in unterschiedlichen Gebieten immer in etwa dieselbe Art von Kon- vergenz auftritt. Tatsächlich ergeben sich aber Unterschiede, die z.T. durch die Richtung der sprachlichen Beeinflussung geklärt werden können.

Kommen wir nun zu dem in der Einleitung angesprochenen Fall der Kasusfle- xion der Substantive. Als Grund fiir den Verlust der Deklination kann im Make- donischen und Bulgarischen romanischer Einfluß angesetzt werden, wobei ja seit römischer Zeit in dem betreffenden Gebiet des Balkans mit starker romanischer Besiedlung gerechnet werden muß und innerromanisch schon relativ früh, jeden- falls vor dem Eintreffen der Südslaven auf dem Balkan, mit weitgehender Erset- zung der synthetischen Deklination durch analytische Präpositionalkonstruktionen gerechnet werden muß, mit etwa klassisch lat. dominus, dominit domino, domi- пит gegenüber (spät״) vulgärlateinischem domino, de domino, a d domino, do- m ino. Daraus könnte nun bei nichtgerichteter Betrachtung des Sprachkontakts geschlossen werden, auch in anderen Fällen des romanisch-slavischen Sprach- kontakts sei mit einer vergleichbaren Veränderung des Slavischen zu rechnen, z.B. bei den Kroaten im süditalienischen Molise.5

Es kann festgestellt werden, daß entgegen der gerade geäußerten Erwartung die Kasusflexion im molisekroatischen Dialekt keineswegs geschwunden ist, son- dem sich bis zu den vollkommen zweisprachigen jüngeren Sprechern hinunter allgemeiner Beliebtheit erfreut6

Unter Punkt (2) ist ein Beispiel mit Gegenüberstellung des molisekroatischen, des italienischen und des standardbulgarischen Kasussystems angegeben. Es han- delt sich um das Normalparadigma der Maskulina im Singular:

5 Zum Kasussystem im Moliseslavischen vgl grundsätzlich ReSe t a r (1911: 188-200) und BREU (1990 50ff ) Eine ausführliche Beschreibung ist in Vorbereitung

6 Die allgemeine phonetische Reduktion unbetonter Silben in diesem Dialekt, vgl BREU (1990 47) steht hierzu nicht im Widerspruch, sondern untermauert die Festigkeit des Kasussystems geradezu, da tro tz der lautlichen Reduktionen in morphologischer Hinsicht erstaunlich große Festigkeit besteht

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-in) D o rf molisekroat italienisch bulg ( ‘S tad t״)

N.Sg. grad [un] paese град

G (do) grada di [un] paese н а град

D gradu a [un] paese н а град

A grad [un] paese град

I s gradom con [un] paese с град

(2)

Im Italienischen habe ich in eckigen Klammem den hier notwendigen unbestimm- ten Artikel hinzugefugt. Wir haben also im Molisekroatischen einen Genitiv grada oder do grada, einen Dativ gradu, einen Akkusativ g ra d sowie einen Instr.

s gradom. Damit sind die ererbten Endungen im Molise weitgehend erhalten, während das Bulgarische in dem aufgezeigten Fall alle Endungen verloren hat.

Die bulgarischen Verhältnisse mit reinen Präpositionalfugungen øm на град, с град ähneln den italienischen viel mehr als die moliseslavischen.

Wie kommt es nun zu diesem unterschiedlichen Verhalten des Slavischen, das im Vergleich der wenigen und deshalb besonders assimilationsgefahrdeten Mo- lisekroaten mit den vergleichsweise relativ zahlreichen Bulgaren und Makedonen doch besonders erstaunen muß, vor allem, wenn man sieht, in welch großem Ausmaß sonst italienischer Einfluß in diesem Dialekt feststellbar ist.

Die Lösung liegt, wie oben angedeutet, in der Richtung des sprachlichen Ein- flusses hinsichtlich der beiden Kontaktsprachen, mit den beiden Möglichkeiten einer von der Muttersprache bzw. von der Zweitsprache ausgehenden Beeinflussung. Im Molise sind es ja slavische Sprecher, die aus der romanischen Sprache ־ hier Italienisch ־ entlehnen, auf dem Balkan müssen wir umgekehrt mit einer großen Zahl von Romanischsprechem rechnen, die das Slavische der Neuankömmlinge erlernten. Im ersten Fall sprechen wir herkömmlich von Adstrat oder Superstrat, im zweiten Fall von Substrat. Es handelt sich aber offensichtlich nicht nur um eine bloße Umkehrung des Verhältnisses der Strata zueinander, sondern um zwei völlig verschiedene Prozesse des sprachlichen Einflusses.

Hierzu das folgende Schema:

Substrat

= Spracherwerb L*•

Adstrat / Superstrat

= Entlehnung Li <— Lo 3 L'i (3) Kontakttypen

(Erstsprache aktiv) (Zweitsprache aktiv)

7 Bei Ansetzen des bestimmten Artikels ware im Bulgarischen jedenfalls in der gehobenen Schriftsprache noch ein Unterschied zwischen dem Nominativ (градьт) einerseits und den obliquen Fällen ((на, с) града) vorhanden Das hat aber mit der Form des Artikels zu tun. nicht mit der Deklination des Substantivs

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Die eine Situation, bei den Slaven des Molise, ist allgemein mit dem Vorgang der Entlehnung gleichzusetzen; gerade so, wie wenn wir im Deutschen aus dem Französischen oder Englischen ein Wort entlehnen, vielleicht auch irgendeine Lokution nachkonstruieren oder Bedeutungserweiterungen und Lehnübersetzun- gen (Calques) vornehmen. Der Einfluß auf die Grammatik der Muttersprache als aufhehmender Sprache ist hier immer sekundär. Ob Superstrat, also eine auf dem- selben Sprachgebiet dominierende Sprache oder Adstrat, eine prestigereiche Nachbarsprache vorliegt, ist dabei für das spezielle Verfahren unerheblich. In beiden Fällen geschieht die Veränderung durch Entlehnung. Nur wird im Super- stratfall der Veränderungsprozeß i.a. intensiver verlaufen, als bei bloßem Adstrat.

Im folgenden werde ich deshalb diesbezüglich vereinfacht nur noch vom

“Adstratfall” sprechen.

Ganz anders verläuft der Sprachkontakt in der zweiten Situation, dem Substrat- fall, so wie er bei der romanischen Bevölkerung im Verlauf des frühen Mittelal- ters auf dem Balkan auftrat. Es war eine Situation des Fremdsprachenlemens, und jeder weiß, welche Probleme der Fremdsprachenerwerb im grammatischen Be- reich ausmacht. Dem Einfluß der Muttersprache auf die Zweitsprache als auf- nehmender Sprache sind Tür und Tor geöffnet. Der sogenannte Kasusverlust des Balkanslavischen ist nichts anderes als die Versteinerung des unvollständigen Zweitspracherwerbs der Balkanromanen. Dagegen gab es andererseits für die Slaven im Molise in ihrer Adstratsituation primär gar keinen Grund, die Kasus- flexion nicht zu haben. Sie hatten sie ja muttersprachlich erlernt, hätten also auf Bestandteile ihrer ererbten Sprache verzichten müssen. Wenn überhaupt, so konnte das nur in einer langfristigen Anpassung durch Entlehnung geschehen, es war aber nicht ein automatisches Ergebnis eines Sprachwechsels.

In der 3. Zeile des Schemas (3) habe ich die beiden unterschiedlichen Richtun- gen des Sprachkontakts schematisiert zusammengefaßt, wobei L! für die Mutter- spräche, für die Zweitsprache steht. An der Pfeilspitze steht jeweils die im Sprachkontakt veränderte Sprache, im Adstratfall ist das die Erstsprache L b im Substratfall die Zweitsprache L2. Am anderen Pfeilende steht dagegen die jeweils aktive Sprache, von der die betreffenden Änderungen ausgehen. Das ist im Ad- stratfall die Zweitsprache, im Substratfall die Erstsprache. Geht der Einfluß von der Zweitsprache aus, liegt also Entlehnung vor, so ergibt sich eine veränderte Erstsprache L’!, im umgekehrten Fall, dem mehr oder minder geglückten Sprach- erwerb, wird die Zweitsprache zu L'2 verändert. Tritt nun in diesem letzteren Fall, der gravierende strukturelle Veränderungen zur Folge haben kann, Sprachwechsel ein, wird also die veränderte Zweitsprache L'2 zur Erstsprache, dann lebt in den Neuerungen die ehemalige Erstsprache fort, so wie sich die romanische Struktur im Balkanslavischen festgesetzt hat.8 Bulgarisch ist sozusagen eine L'2-Sprache,

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-* Ein eventueller Sprachwechsel bedingt mit der Aufgabe der Erst- oder M uttersprache natürlich den Verlust der in dieser infolge einer früheren Adstratsituation eingetretenen Sprach- Veränderungen

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Molisekroatisch dagegen eine L'j-Sprache. Es bleibt festzuhalten, daß Substrat und Adstrat nicht nur Etiketten für das Verhältnis der Sprachen zueinander sind, sondern daß sie für zwei grundverschiedene Verfahren der kontaktinduzierten Sprachverändemng stehen.9

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