Thema: Nach neueren Erkenntnissen ist die diabetische Polyneuropathie keine späte Folge
krankheit des Diabetes, erste Symptome treten zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf, oft sogar als erstes Zeichen des Diabetes. Auf welche Sym
ptome aber muß der Arzt achten?
Interviewpartner: Im Rahmen einer Presse
konferenz der Fa. Nordmark (die mit Neuro
thioct® ein Mittel zur Therapie bei der diabeti
schen Polyneuropathie anbietet), unterhielten wir uns am 21.8.1993 mit Dr. med. Gernot Lorenz, dem Präsidenten der Deutschen Gesell
schaft für Allgemeinmedizin (DEGAM), der sich diesen Problemen unter Praxisbedingungen stellen muß.
Das Interview führte: Günther Buck, Obere Grabenstraße 42, 73235 Weilheim/Teck.
ZFA: Herr Dr. Lorenz, nach Schätzungen der WHO werden in Europa jährlich rund 50000 Amputationen bei Diabetikern vorgenommen.
Dr. med. Gernot Lorenz wurde 1943 in Saulgau geboren und stu
dierte Medizin in Tübingen und Hamburg. Weiter
bildung in Davos, Freiburg i. Br., Prangins (VD), Esslingen und Ost
fildern-Ruit. Seit 1979 ist er als Allgemeinarzt in Pfullingen bei Reutlingen niedergelassen. Dr. Lorenz ist seit 1984 Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an der Universität Tübingen. Er war von 1986 bis 1992 Schatzmeister der Deutschen Gesell
schaft für Allgemeinmedizin und ist derzeit Schatzmeister der Vereinigung der Hochschul
lehrer und Lehrbeauftragten für Allgemeinme
dizin.
1992 wurde Dr. Lorenz zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) gewählt.
die vermeidbar gewesen wären. Auch Deutsch
land trägt zu dieser Schreckenszahl bei. Ande
rerseits erklären in einer Untersuchung 66%
der Diabetes-Patienten, sie seien bei ihrem Arzt sicher, daß er alles tue, um mögliche Folgeer
krankungen zu vermeiden. Die Zahlen spre
chen eine andere Sprache. Täuschen sich diese Patienten?
Lorenz: Die Betreuung des Diabetikers in der Praxis ist schon deshalb schwierig, weil es nie den Diabetiker gibt. Der Arzt steht in der Praxis einer großen Zahl von Individuen gegenüber und muß sich auf deren individuelle Möglich
keit und Bereitschaft zur Mitarbeit in der The
rapie einstellen. Schwierig ist es insbesondere bei Patienten, die ihren Diabetes erst im Alter entwickeln und Gefahr laufen, an einer peri
pheren Verschlußkrankheit oder einer periphe
ren Polyneuropathie zu erkranken - oft sind sogar beide kombiniert die dann unter Um
ständen auch einmal zu einer notwendigen Amputation führen. Hier ist die Zusammenar
beit selten ideal. Aus diesem Grund schon wer
den »die Zahlen« nie ganz zufriedenstellend sein.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen in der Praxis nicht den Vorwurf einer insuffizien
ten Therapie machen, Verbesserungen sind aber möglich. Ich meine, daß als Minimum die Gesundheitsuntersuchung beim Diabetiker als strukturierte Ganzkörperuntersuchung - auch beim über Achtzigjährigen - erfolgen muß. Das wäre schon mehr als der derzeitige Durch
schnitt.
Dabei muß dann auf Frühzeichen der Polyneu
ropathie geachtet werden. Zum endgültigen Nachweis braucht es dann den Neurologen, der Hausarzt muß den betroffenen Patienten davon überzeugen, daß er diese etwas schmerzhafte Diagnostik über sich ergehen lassen muß. Liegt eine Polyneuropathie vor, muß eine entsprechende Therapie mit in den Behandlungsplan eingebaut werden.
ZFA: Was gehört in der Routine des Praxisall
tags zum »Überwachungsprogramm« bei ei
nem diabetischen Patienten?
Z. Allg. Med. 1993; 69: 870-872. © Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart 1993
Aktuelles Intemew
Lorenz: Dies ist insofern eine schwierig zu beantwortende Frage, als es abhängig davon ist, wie weit der Patient bereit und in der Lage ist, die Selbstkontrolle zu erlernen und zu be
weisen, daß er sich diätetisch gut führt. Be
handlungsstandard sollte sein: eine minde
stens vier- bis sechswöchige Kontrolle des Blut
zuckers, möglicherweise auch anderer wichti
ger Parameter wie des Kreatinins, und eine viertel- bis halbjährliche Kontrolle des HbAi^.
oder HbAj, je nach Möglichkeit des Labors.
Es zeigt sich, daß durch die Einführung der Kontrolle des HbA^ die Zahl der Laborkontrol
len beim Diabetiker rückläufig sein kann. Die Vorteile des HbA^-Kontrolle liegen auch darin, daß sie zu jeder beliebigen Tageszeit durchge
führt werden kann, d. h. der Patient muß nicht mehr morgens nüchtern in die Sprechstunde kommen, und daß das HbA^c auch mehrere Tage lang im Röhrchen aufbewahrt werden kann und dennoch einen genauen Wert ergibt.
Dieser Wert ermöglicht einen Überblick über einen längeren Zeitraum. Gerade Typ-ll-Diabe- tiker können auf diese Weise nicht durch eine kurzfristige strenge Diäteinhaltung ihren Blut
zuckerspiegel vor dem Arztbesuch auf ein »er
trägliches« Niveau bringen und so eine nicht vorhandene Compliance Vortäuschen. Eine jährliche Kontrolle durch den Augenarzt sowie eine ebenfalls jährliche Kontrolle der Sensibi
lität und der Nervenleitgeschwindigkeit an den Beinen sollten ebenfalls zum Standardpro
gramm gehören. Zeigen sich Komplikationen, muß auch eine genaue Kontrolle des Kreislaufs stattfmden. Dies ist auch in der Hausarztpraxis einfach durchzuführen: Steigt die Herzfre
quenz bei einer Atemfrequenz im 5-Sekunden- Rhythmus um weniger als 10 Schläge pro Mi
nute an, muß genauer geprüft werden. Auch fehlt zum Beispiel beim Schellongtest der Fre
quenzanstieg.
ZFA: Eine gute Einstellung des Diabetes setzt neben dem geschulten Arzt und dem geschul
ten Team den geschulten Patienten voraus. An
dererseits sind die meisten Diabetes-Patienten in der Praxis schon relativ alt. Was ist da noch mit einer Schulung zu erreichen?
Lorenz: Schulung bedeutet auch Verbesserung der Information des Patienten. Wir wissen ja, daß der Patient das, was er gehört hat, noch lange nicht verstanden hat, wir wissen, daß er von dem, was er verstanden hat nur einen Teil behält und daß er auch davon nur einen Teil auch tatsächlich umsetzt. Diese Tatsache ist ganz maßgeblich daran beteiligt, daß die Schu
lung der Diabetiker in der Praxis angeblich so ineffektiv ist. Wir haben vielleicht auch einfach noch nicht die richtigen Modelle. Es hat sich gezeigt, daß das Modell Diabetikerschulung durch die Arzthelferin nur etwa ein Drittel der Patienten erreicht, was im Klartext heißt, zwei Drittel der Patienten erhalten keine oder eine inadäquate Schulung. Wir müssen Wege ent
wickeln, wie der Arzt in seiner eigenen Selbst
kontrolle die Qualität der Schulung prüfen kann. Ich habe dies so versucht, daß ich mit einer Pharmafirma ein Einlegeblatt entwickelt habe, in dem der Arzt auf die vier Brennpunkte der Diabetikerkontrolle im Lauf des Jahres hin
gewiesen wird: die notwendigen Kontrollun- tersuchungen, die Schulung und Beratung in Ernährungsfragen, die Selbstkontrolle und die Fremdkontrolle durch den Augenarzt und den Nervenarzt. Würden diese vier Dinge in der Praxis wirklich jährlich bei jedem Diabetiker einmal durchgeführt, hätten wir sicher weni
ger Probleme. Wir müssen ein so einfaches Führungsinstrument entwickeln, daß diese Verbesserungen an der Basis greifen. Daraus resultiert auch ein wenig mein Mißtrauen ge
gen die alleinige Propagierung von Diabetiker
zentren, die genau diesen Effekt möglicher
weise nicht erreichen würden.
ZFA: Gibt es einen allgemeinmedizinischen Standard für das Wissen der Allgemeinärzte, sehen Sie hier eine Notwendigkeit, seitens der DEGAM aktiv zu werden?
Lorenz: Hier finden zum Beispiel im Bereich der Abteilung Allgemeinmedizin der Universi
tät Düsseldorf Aktivitäten statt, die aber sehr stark von Diabetologen beeinflußt werden und Gefahr laufen, sich so ein Stück weit von der realen Praxissituation zu entfernen. Ich möchte der Entwicklung der nächsten Jahre nicht vor
greifen, denke aber, daß Qualitätszirkel initi
iert werden sollten, die realitätsnah Instru
mente entwickeln, mit denen die Kontrolle und Führung des Diabetikers in der allgemeinärzt
lichen Praxis definiert und standardisiert wer
den kann. Ich denke, daß man damit den ein
gangs erwähnten Zustand verbessern kann. Ich sehe darüber hinaus den Bedarf, über diese Arbeit auch zu besseren Daten zu kommen. Es kann dabei auch herauskommen, daß es um vieles besser bestellt ist, als es jetzt postuliert wird.
ZFA: Gehen wir kurz noch einmal zur diabeti
schen Neuropathie. Diese entwickelt sich ja nicht von heute auf morgen. Auf welche
Früh-»Wir müssen Wege ent
wickeln, wie der Arzt die Qualität der Diabetiker- Schulung prü
fen kann«
»Schulung be
deutet auch Verbesserung der Information des Patienten«
AktueUes Interview
»Die Frühzei- chen sind un- speziflsch und gehen manch
mal sogar der Entdeckung der Grundkrank
heit voraus«
»Der Arzt darf nicht erwarten, daß der Patient nach einmah- ger Schulung seine Lebens
weise geändert hat«
Zeichen sollte der Arzt bei seinen gefährdeten Patienten achten?
Lorenz: Diese Frühzeichen sind unspezifisch und sie gehen manchmal sogar der Entdeckung der Grundkrankheit voraus. Es gehören zu die
sen frühen Symptomen Gefühlsstörungen in den Akren, insbesondere an den Eüßen. Wir sehen in der Praxis immer wieder Diabetiker, die zuerst durch Verletzungen an den Beinen auffallen, die nicht heilen. Ein anderes Zeichen sind die sogenannten »unruhigen Beine«, das
»Restless-legs-Syndrom«, und häufiger auftre
tende nächtliche Wadenkrämpfe, ohne daß eine Varikosis vorliegt. Oft kommen dann die Patienten mit der Präge nach Durchblutungs
störungen, der Arzt kann dann immer den Puls tasten, den Patienten in dieser Hinsicht beru
higen - aber das Phänomen nicht klären. In diesen Fällen muß er der Polyneuropathie nachspüren oder nachspüren lassen. Schließ
lich kommen auch noch Kreislaufstörungen in Frage. Die Polyneuropathie kann sich nach ei
ner gewissen Entwicklung auch überwiegend am vegetativen Nervensystem äußern. Diese Kreislaufsymptome lassen sich dann nicht mit einem einfachen Ruhe-EKG abklären, dazu ge
hören spezifische Tests, die aber teilweise auch in der Praxis durchgeführt werden können, wie z.B. das EKG unter Hyperventilation.
ZFA: Wenn nun aber eine Polyneuropathie vorliegt, wenn der Patient Schmerzen hat, wel
che therapeutischen Möglichkeiten gibt es dann noch in der Praxis?
Lorenz: Als therapeutische Möglichkeit bietet sich dann gerade die Behandlung mit der a-Li- ponsäure an, ggf. als Infusion. Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, daß diese Behand
lung über die erste Zeit der Symptomatik hoch
dosiert und intensiv geführt werden sollte. Der quälende Schmerz und das Gefühl der »bren
nenden Büße« werden dadurch deutlich ge
mindert. Es ist noch offen, inwieweit eine Langzeittherapie auch einen Erfolg bringt, aber
solange nicht eindeutig geklärt ist, ob eine Langzeittherapie in der Lage ist, die Neuropa
thie selbst zu bessern, kann eine orale Lang
zeitgabe der a-Liponsäure immerhin in Be
tracht gezogen werden. Man wird natürlich an die verschiedenen Pormen der Vitamin-B-The- rapie denken. Verlauf und Symptombesserung sprechen dafür, die a-Liponsäure zunächst in
tensiv einzusetzen und die anderen Möglich
keiten je nach Bedürfnis dazuzunehmen. Ab
rechnungstechnisch müssen diese Patienten als
»teure Patienten« gekennzeichnet werden.
ZFA: Grundlage auch der Therapie der diabe
tischen Polyneuropathie ist aber immer die optimale Einstellung des Diabetes?
Lorenz: Die Behandlung des Diabetikers, auch des Typ-II-Diabetikers, ist immer vielschichtig.
Sie besteht nie nur aus Diätführung, nur Ver
abreichung von Medikamenten, nur Schulung des Patienten und/oder seiner Angehörigen. Es muß ein Gesamtkonzept da sein, in dem die medikamentöse Therapie einen Platz hat, die Schulung aber schon dauernd im Vordergrund steht, denn sie bedeutet bessere Diätetik. Nur dürfen die Ziele nicht kurzfristig gesehen wer
den, der Arzt darf nicht erwarten, daß der Patient nach einmaliger Schulung seine Le
bensweise geändert hat. Diese Schulung kann ein, zwei, drei Jahre dauern, bis die wirklich grundsätzliche Änderung der Lebensführung erreicht ist, die ja auch die Lebensführung des Partners oder der ganzen Familie betrifft.
ZFA: Mit anderen Worten: Für jeden Patienten müssen individuell realistische Ziele gesetzt werden?
Lorenz: Ja, ganz genau. Denn dies vermeidet die Enttäuschung und den Frust beim Patien
ten und nicht zuletzt auch beim Arzt und beim schulenden Personal. Wir kommen damit aus der Schüler-Lehrer-Situation heraus zu einem partnerschaftlichen Verhältnis, und nur dies ist auf die Dauer tragfähig.