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Z. Allg. Med. 1993; 69: 839-844. © Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart 1993

Fortbildung 2M^ Eßverhalten und Streßkontroile

Ernährungs­

beratung:

keine Informa­

tionsvermitt­

lung, sondern ein Kommuni- kations- und Trainings­

programm

Lebensmittel Kultur Nahrungszubereitung

Lagerung Erziehung Kücheneinrichtung

Verarbeitung Religion, Normen Ernährungswissen

Verteilung Verhalten Eßgewohnheiten

Vermarktung

t

Wert (Prestige)

Landwirtschaft

Boden Die Medizin

Biochemie

Klima ^ Ernährung

des _Physiologie

Technologie

Infrastruktur Menschen Mikrobiologie Pathologie

Bedarf

\

Stoffwechsel

Alter Ökonomie Veranlagung

Geschlecht Verfügbarkeit Gesundheitszustand

Beruf Werbung, Preise Lebensweise

Gesundheit Einkommen Nahrungswahl

Non-Com- pliance: das Kardinal-Pro­

blem der Ver­

haltensmedizin

Abbildung 1: Die Ernährung des Menschen im komplexen gesellschaftlichen Umfeld (nach C. Leitzmann, Ernährung des Gesunden, in: Huth, K., Kluthe, R. (Hrsg.): Lehrbuch der Ernährungstherapie. Thieme Verlag Stuttgart, 1986; 1)

Arbeitsmethoden

Auf der 1. Ebene, der Sprechstundenbetreu­

ung, erwarten viele Patienten im Zuge zuneh­

menden Ernährungsbewußtseins heute nicht nur in kranken, sondern auch in gesunden Ta­

gen vom Hausarzt kompetenten Rat. Zwar dürfte die diagnosebezogene Diätetik im enge­

ren Sinne geläufig sein, doch werden allgemein gehaltene Empfehlungen, wie »Sie sollten die tierischen Fette in der Nahrung reduzieren«

kaum geeignet sein, eine Umstellung der Er­

nährungsgewohnheiten zu bewirken, auch nicht, wenn zusätzlich schriftliche Anleitungen mitgegeben werden. Ernährungsberatung ist eben keine Informationsvermittlung, sondern ein Kommunikations- und Trainingsprogramm in kleinen Schritten, das das Ernährungsver­

halten des Patienten ernährungsphysiologisch optimiert. Das kann u.U. ein bis zwei Jahre dauern!

Es hat sich in den letzten Jahrzehnten des Überflusses eindeutig gezeigt, daß es wenig hilft, über den Sinn und das Design von Diäten zu sprechen Hier reicht vielmehr die Orientie­

rung an den Veröffentlichungen und Jahresbe­

richten der Deutschen Gesellschaft für Ernäh­

rung (3) und der Akademie für Ernährungsme­

dizin. Es geht für die Patienten vielmehr um die Einleitung und Stabilisierung konkreter Maß­

nahmen. Non-Compliance ist die vereinfachte und verkürzte Bezeichnung für das Kardinal- Problem der Verhaltensmedizin. Non-Com­

pliance auf seiten des Ratsuchenden, der ge­

troffene Vereinbarungen nicht einhält (nicht

einzuhalten vermag), Non-Compliance auf sei­

ten des Hausarztes, der 80% seiner Patienten länger als zehn Jahre kennt, unterschiedliche Coping-Diagnosen stellt und demzufolge auch unterschiedliche Strategien im Beratungsre­

pertoire bereithalten sollte.

Trotzdem bleibt die langfristig erfolgreiche Er­

nährungsberatung eine Crux der Mediziner, Psychologen und Ökotrophologen. Frustratio­

nen, »Mogeleien«, Appelle und neurotische Fehlentwicklungen auf der Seite unserer Pati­

enten bahnen den Weg zum »schlechten Ge­

wissen« und Mißerfolg oder Arztwechsel.

Die Indikation zur Ernährungsberatung er­

gibt sich aus der Diskrepanz zwischen dem Bedarf des Organismus (definiert über ernäh­

rungsphysiologische Parameter) und den Be­

dürfnissen des Menschen (definiert über er­

nährungspsychologische Motive). Es können drei verschiedene Bewertungsebenen gestör­

ten Eßverhaltens unterschieden werden (Tab.l). Besondere Bedürfnisse und die Vor­

stellungen des Patienten zu seinemProblem sind vor einer Zielvereinbarung abzuklären.

Trotz Beachtung dieser wichtigen psychologi­

schen Rahmenbedingungen wird das ange­

strebte Ziel nicht immer erreicht. Sehr häufig kommt es zu Rückfällen, auch wenn anstelle von Verzicht Gewinn und Nutzen der

Verbal-Tabelle 1: Bewertungsebenen für gestörtes Eßver- balten (13)

Ernährungspsy- Ernährungsphysio- Somatische chologische logische Ebene

Ebene Ebene

• zwanghaftes • Überernährung • Adipositas

Essen durch • Untergewicht

• »Süßhunger« - Fett • Kachexie

• Angst vor - Protein

Hyperlipid-»Fettsein« - Mono-/Di- ämie

• Body-Image saccharide • Hypertonus

• Heißhunger/ • Nährstoff-

Hyperurik-Erbrechen relation ämie

• Hyperphagie/ • Unterernäh-

Elektrolyt-Streß rung Störungen

• Polyphagie • Fehlernährung • Obstipation

• Dieting • kritische Be- • Karies

• Intermittie- darfsdeckung rendes - Vitamine Fasten - Mineralstoffe,

• Selektive Nah- Spurenele-rungswahl mente

• Nahrungs- - Ballaststoffe marotten

V»'-haltoii und Stroßkonlroll«

Empfehlenswert ist es, den Beratungsprozeß

in vier Schritte zu gliedern (14):

Schritt 1: Verhaltensdiagnose

Ein Ernährungstagehuch kann klären, was, wie, wo und mit welcher Häufigkeit der Patient z. Z.

ißt und trinkt. Diese Selbstbeobachtung hilft ob­

jektiv, die ernährungsphysiologischen Verhält­

nisse darzustellen; gleichzeitig läßt sich die sub­

jektive Bedeutung und Situationsgebundenheit des Eßverhaltens und bestimmter Lebensmittel erkennen.

Schritt 2: Zieldefinition

Der Ist-Analyse folgen nach dem Vergleich mit Soll-Werten Empfehlungen zur Korrektur von z.B. Energieaufnahme oder Situationsverhal­

ten.

Schritt 3: Zielhierarchie

Nach Verhaltensdiagnostik und Zielplanung geht es jetzt darum, gemeinsam mit dem Pa­

tienten eine Zielhierarchie festzulegen, d. h. den zu leistenden »Verhaltensaufwand« zu finden.

Es reicht nicht aus, den Patienten einstufen zu lassen, »wie schwer es ihm fallen würde, fett­

ärmer zu essen«, sondern es muß z. B. aufgrund der Verhaltensdiagnose gefragt werden, »wie schwer es ihm fallen würde, morgens statt Streichwurst einen fettarmen Käsebelag zu es­

sen«. Möglicherweise braucht er weniger an persönlicher Energie, kalorienhaltige Getränke durch Mineralwasser zu ersetzen.

Schritt 4: Maßnahmenempfehlung

Beginnend mit der Veränderung, die dem Pa­

tienten am leichtesten fällt, werden gemeinsam konkrete Maßnahmen geplant, um die ange­

strebten Ziele zu erreichen. Eine dieser sehr wichtigen Maßnahmen, den Ballaststoffanteil in der Nahrung zu erhöhen, könnte lauten: »Stel­

len Sie Ihre Brotschneidemaschine um 3 Milli­

meter weiter« oder »gönnen Sie sich jeden Tag einen Salat vor dem Hauptgericht«. Der Erfolg solcher Maßnahmen kann vom Patienten auch gut selbst überprüft werden.

tensänderung in den Mittelpunkt gestellt wer­

den.

Ein Rückfall ist ein neuer Versuch. Dabei scheint eine flexible Kontrolle des Eßverhal­

tens erfolgreicher zu sein als eine rigide, die z.B. mit dem Ausschluß von problematischen Lebensmitteln arbeitet (13). Das Brechen des überzogenen Vorsatzes, nie mehr Kuchen zu essen, schafft großen Frust und Versagensge­

fühle, die Energie für weitere Vorhaben ver­

brauchen, die »Störbarkeit« erhöhen (13).

Gerade die Rückfall-Problematik kann mit manchen Patienten besser in der Gruppe bear­

beitet werden, wobei für den Hausarzt insbe­

sondere Patientengruppen mit gleicher Dia­

gnose in Frage kommen.

Auf der 2. Ebene, der »Praxisgruppen-Ebene«, sind neben den individuellen psychologischen Gegebenheiten noch die gruppendynamischen Folgen zu beachten und zu nutzen.

Bei der Auswahl der Patienten hat sich immer wieder gezeigt, daß vor allem die »rückfälli­

gen« Patienten, mit erheblichen Belastungen in Beruf und Familie oft überfordert, dies auch als Begründung für die mangelnde Compliance geltend machen und die Gruppe als Rettungs­

anker, Motivationsverstärker und Informati­

onsbörse nutzen wollen (Abb. 2).

Die häufige Co-Morbidität von Patienten mit Gewichtsproblemen (Depressivität, Dysthymie, Nervosität, soziale Phobien, Panikstörung) be­

günstigt Kontrollverlust nicht nur beim Eßver- halten, sondern schon beim Einkäufen und Zu­

bereiten der Speisen. Im desorganisierten All­

tag stellt Essen kein geplantes Ereignis dar, für das man sich Zeit nimmt. Gewohnheitsmä­

ßiges Essen beim Lesen, Fernsehen oder in Geselligkeit zielt ebenso auf »Lösung« streßbe­

dingter Spannungszustände wie ein Freßanfall

(8).

Es gilt also häufig, Patienten, deren Hinter­

gründe für das problematische Eßverhalten seelische Ursachen haben, überhaupt erst in die Lage zu versetzen, »kraftraubende« Ver­

haltensänderungen vorzunehmen. Dies kann im Gruppengespräch vor allem dann erfolgen, wenn gleichzeitig Entspannungsverfahren, wie autogenes Training, Atemübungen oder pro­

gressive Muskelentspannung, eingesetzt wer­

den. Erst dann ergibt sich für manche Patien­

ten die Möglichkeit, ihr Gesundheitsmotiv aus­

reichend zu aktivieren und eigene Ziele zu de­

finieren (4)!

Gruppenarbeit hat unter der Voraussetzung, daß es sich um weitgehend gleichartig betrof­

fene und kommunikationsfähige Patienten han­

delt, einige bekannte Vorteile (17):

• Der Haus- und Familienarzt, der die Stärken und Schwächen seiner Patienten kennt, kann einschätzen, wieweit seine Patienten voraus­

sichtlich von einer Gruppe profitieren und damit die Selbsthilfefähigkeit aktivieren.

• Mit der Gruppe ist eine Ökonomisierung der Behandlung möglich: es können mehrere

Vor allem die

»rückfäUigen«

Patienten wol­

len die Gruppe als Rettungsan­

ker und Moti­

vationsver­

stärker!

»Nie mehr Ku­

chen essen« - ein überzoge­

ner Vorsatz

ll^rtbiMung Eßverhalten und Streßkonti’oUe

Drei Viertel der ehemaligen Gruppenange­

hörigen hatten Interesse an einer Langzeit- Nachsorge

200

180 160 140

120 100

80 60-H 40- 20-

0-

n = 250

77% 70% 57% 38% 27%

Streß gesundh. selbst Schwierig- Hindernis Probleme handeln keiten Streß

Abbildung 2: Befragung zu Gesundheitsverhalten und Streß in zwei Betrieben (Es wird hier gezeigt, wie oft der Streß als Hindernis auf dem Weg betrachtet wird, eigene, bekannte gesundheitliche Probleme zu lösen))

Patienten gleichzeitig qualifiziert und lange genug behandelt werden.

Patienten sind nach der Gruppentherapie selbständiger, informierter, Fachleute ihrer eigenen Probleme. Dies ist auch eine gün­

stige Ausgangslage für die weitere Behand­

lung.

Der Patient gewinnt auf einer anderen Ebene zusätzliches Vertrauen zum Arzt im Sinne der Partnerschaft.

Das eigene Mitwirken in einer Gruppe läßt auch nicht krankheitsbezogene, für den Pa­

tienten ebenfalls wichtige Motive zur Geltung kommen: den Zugewinn an Ansehen und Pre­

stige, das Erlebnis gesteigerter Vitalität, bes­

sere Belastbarkeit und Konfliktbewältigung, gestärktes Vertrauen in den Sinn des eigenen Lebens und demzufolge gelegentlich auch ei­

nen Zuwachs an materiellen Werten (5).

Ergebnisse

In die Nachuntersuchung einbezogen wurden

• 3 Diabetikergruppen mit einer Nachsorge­

gruppe von 1985-1993

• 1 Hyperlipidämie-Gruppe

• 2 Hypertonikergruppen mit einer passage- ren Nachsorgegruppe von 1985-1991

• 2 Arthrosegruppen mit Ernährungsproble­

men, zwei passageren Nachsorgegruppen von 1991-1992

• 3 Übergewichtigengruppen mit geringeren Gesundheitsstörungen (nur Frauen) und eine passagere Nachsorge-ZSelbsthilfe- gruppe.

Die vollständige Befragung von 111 Patienten konnte ausgewertet werden: Von der Gruppen­

therapie profitiert hatten nach eigenen Anga­

ben sehr 27,0%, mittel 60,4% und wenig oder gar nicht 3,6%. Bei den Diabetiker-, Hyperto­

niker- und Hyperlipidämiegruppen (n = 84) be­

trug das Vorkurs-Gewicht im Mittel 79,2 kg (= 120% BROCA), das Nachkurs-Gewicht 74 kg, heute (nach 3 bis 5 Jahren) 77,2 kg. Bei den übergewichtigen Frauen mit geringeren Ge­

sundheitsstörungen (n = 27) betrug das Vor­

kurs-Gewicht 79,2 kg (= 128% BROCA), das Nachkurs-Gewicht 72,1 kg, heute (nach 3 bis 6 Jahren) 80,2 kg (Abb. 3). Auf Befragen waren 76% der »Ehemaligen« an irgendeiner Form der »Auffrischung« oder Langzeit-Nachsorge interessiert.

Diskussion

Eine Diskussion dieser Ergebnisse erübrigt sich nahezu, belegen sie doch die Erfahrung, daß die Gewichtsproblematik eine Crux darstellt, daß eben Übergewichtige mit geringeren

Ge-3 bis 5 Jahre nach dem Kurs liegt nur ein bestimmter An­

teil der Patien­

ten wenig un­

ter dem Aus­

gangsgewicht

Unter der Fragestellung, ob es sinnvoll sei, ver­

stärkt Nachsorgeeinrichtungen einzusetzen, wurde ein Teil der in den Jahren von 1985 bis 1991 in Gruppen behandelten Patienten einem follow-up unterzogen: Hierbei handelt es sich um 11 besonders dokumentierte ernährungs­

bezogene Gruppen mit 111 Teilnehmern aus 27 Patientengruppen mit insgesamt ca.

230 Teilnehmern.

In den Gruppen wurde mit den Mitteln der Gruppendynamik und Gesundheitsinforma­

tion, Risiko- und Schutzfaktoren unter beson­

derer Berücksichtigung der Selbstkontrolle (Protokolle, Blutdruck, Zucker) gearbeitet.

vor Kurs nach Kurs nach

A3-5 p3-€) Jahren Diabetiker-, Hypertoniker- und p, übergewichtige Frauen mit gerin- Hyperiipidämiegruppen (n = 84) ^ geren Gesundheitsstörungen (n = 27)

Abbildung 3: Gewicbtsverlauf von gemischten Gruppen Stoffwecbsel- und Hocbdruckkranker sowie übergewichti­

ger Frauen (Durchschnittswerte)

Im Dokument HIPPOKRATES VERLAG GMBH STUTTGART (Seite 21-25)