• Keine Ergebnisse gefunden

Doch liegt die eigentliche Herausforderung der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ für die Strukturfragen der Forschungsorga-nisierung an dieser Stelle nicht. Sie hängt keineswegs an der ja ganz unstrittigen Beantwortung der Frage, ob Forschung zur Erreichung von

18 Programmflyer zum Leopoldina-Symposium „Nachhaltige Zeitenwende? Die Agenda 2030 als Herausforderung für Wissenschaft und Politik“, www.leopoldina.org/fileadmin/

redaktion/Veranstaltungen/Symposien/2016_10_18_Nachhaltige_Zeitenwende_Fol-der.pdf, Zugriff am 05.07.2017.

Nachhaltigkeit und Pluralismus: Strukturfragen der Forschungsorganisierung

85

Nachhaltigkeitszielen auf lokaler wie globaler Ebene beitragen soll und kann. Selbstverständlich! Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie dies am besten geschehen kann. Dies sei in fünf Thesen begründet.

Grand Challenges19 ist keine Pathosformel – ganz im Gegensatz etwa zu ‚global change‘ – sondern ein Strukturbegriff. Er bildet das Leitwort eines Wissenschaft und Politik übergreifenden Diskurses, der die Probleme des globalen Wandels diskursiv so zurichtet, dass diese Probleme als allein mit den Mitteln von Naturwissenschaft und Technik behandelbar erscheinen. Die sozialen, ökonomischen, politischen, kul-turellen Dimensionen des globalen Wandels scheinen so im Wesentli-chen wissenschaftlich außer Betracht bleiben zu können.

Ungeachtet dieses Reduktionismus beschreibt der Grand-Challen-ges-Diskurs allerdings Problemkomplexionen von derartigen Dimensi-onen, dass sie sich als solche nicht beforschen lassen. Groß sind diese Herausforderungen, weil sie zum Zwecke ihrer wissenschaftlichen Klä-rung in eine unabsehbare Fülle von spezialisierten Forschungsfragen und Forschungsprogrammen ausbuchstabiert werden müssen. Dabei sind unentwegt Entscheidungen fällig: Auch Entscheidungen zu organi-satorischen und finanziellen Fragen, für welche das Kriterium „Beitrag zur Bearbeitung einer großen Herausforderung“ gerade keine Hand-habe bietet, weil es typischerweise für alle infrage kommenden Ent-scheidungsalternativen in Anspruch genommen werden kann.

Dieser strukturellen Komplexität der Grand Challenges kann das Wissenschaftssystem in seinen Funktionszusammenhängen allenfalls dann gerecht werden, wenn es wissenschaftliche, forschungspraktische und auch epistemische Vielfalt gekennzeichnet ist. Struktureller Plura-lismus setzt allerdings eine dezentral-pluralistische Organisierung und Finanzierung von Wissenschaft voraus. Dazu gehören Arbeitsteilungen und Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen sowie zwischen Disziplinen oder nationalen und internationalen Forschungssystemen.

Dazu gehören aber auch Typen der Forschungsorganisation, die sich unterscheiden hinsichtlich ihrer Themenwahl und Problemspezifikation,

19 Vgl. Kaldewey, David: The ›Grand Challenges‹ Discourse: A New Linear Model for the 21st Century?, Presentation for the Conference Basic and Applied Research – Historical Semantics of a Key Distinction in 20th Century Science Policy, 2014, www.fiw.uni-bonn.

de/wissenschaftsforschung/team/kaldewey/folien/2014_02_22_Kaldewey_Vortrag_

Bonn.pdf, Zugriff am: 05.07.2017.

Nachhaltigkeit und Pluralismus: Strukturfragen der Forschungsorganisierung

86

ihrer Konfiguration von Disziplinarität und Interdisziplinarität, der für sie relevanten Zeithorizonte und der gesellschaftlichen Funktionsbezüge.

Notwendig dafür sind Entscheidungssysteme für die Ressourcenver-teilung, die diesen strukturellen Pluralismus gewährleisten, indem sie mit unterschiedlichen Sets von Kriterien arbeiten – man könnte zum Beispiel sagen: Nutzenkriterien, programmorientierte Förderung, societal impact einerseits und andererseits Wahrheit- und Erkenntnisorientierung. Ins-gesamt müsste ein solches Forschungssystem direkte Problemlösungen fördern, aber auch Räume für Forschung frei von direkten wirtschaftli-chen, ökologiswirtschaftli-chen, technologischen Nützlichkeitserwägungen schaffen.

Darüber hinaus müsste es mit kurzfristigen wie auch mit langfristigen Entwicklungen und mit dem Vorhersehbaren, aber auch mit dem Unvor-hersehbaren umgehen können.

Die Sustainable Development Goals werden sich auch deswegen allein mithilfe eines pluralistischen Forschungssystems erreichen las-sen, weil anders die Spannung zwischen dem Aufgabenbezug und der Offenheit wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse nicht hinreichend aus-zubalancieren ist. Wie in anderen Feldern auch kann es ja bei Nachhal-tigkeitsforschung nicht allein um Antworten gehen, die durch bekannte Fragen bereits determiniert sind. Ebenso wichtig sind die nicht-antizipier-ten und die nicht-antizipierbaren Antwornicht-antizipier-ten auf gestellte Fragen sowie jene Probleme, von denen man derzeit noch gar nicht wissen kann, dass sie sich in Zukunft stellen werden. Je strukturell komplexer die globalen Herausforderungen sind, umso entschiedener darf das Forschungssys-tem nicht allein als eine Finde-Anordnung, sondern muss es zugleich als eine Such-Anordnung angelegt werden. Denn wirkliche wissenschaft-liche Innovationen liegen nicht allein dort, wo sich Erkenntnis planen und antizipieren lässt. Sie stellen sich vielmehr gerade auch dort ein, wo wissenschaftliche Erkenntnis Erwartungen durchbricht. Das emphatisch Neue ist das Nicht-Antizipierbare.

Die Leistungskraft und der Beitrag von Wissenschaft und Forschung zu nachhaltiger Entwicklung wären aber gefährdet, wenn Nachhaltigkeit zu einem simplen Prüfkriterium reduziert und als solches zum Prinzip al-ler Forschungsorganisierung und -finanzierung verallgemeinert würde.

So entstünde ein monothematisch-zentralistisches Forschungssystem, dessen Beitrag zu den SDGs aber umso geringer sein würde, je mehr es den Möglichkeitsraum wissenschaftlicher Forschung nach Maßgabe Nachhaltigkeit und Pluralismus: Strukturfragen der

Forschungsorganisierung

87

gegenwärtiger Wissensbestände und aktueller politischer Deutungssze-narien einschränkte. Darüber hinaus sind entsprechende Forderungen, wie sie unter den Stichworten von „Großer Transformation“, „For-schungswende“ oder „Transformative Wissenschaft“ diskutiert werden, strukturell populistisch, weil sie die Komplexität, die Pluralität und die Widersprüchlichkeit der Welt- und Problemlagen unter einem einzigen Prinzip homogenisieren, für das Letztgeltung beansprucht wird. Dieses Prinzip wird sozusagen für transzendent und unverfügbar erklärt: Es gehe um nichts Geringeres als um die Rettung der Welt. Und man kann sich also gar nicht dieses Prinzip nicht zu Eigen machen, ohne dem Anathema zu verfallen. Anders gesagt, die transformative Wissenschaft überspielt ihre analytische Unterkomplexität durch guten Willen und stellt von Ar-gumentation auf Moralisierung um. Das ist für die SDGs keineswegs von Vorteil.

Der Diskurs der „Großen Transformation“ und der „Forschungs-wende“ ist auch deshalb zu kritisieren, weil er zurück in die kontrapro-duktive Dichotomie von Wahrheit und Nutzen führt und Wissenschaft zugunsten des Letzteren vereinseitigt – wie wenn unwahres Wissen nütz-lich oder wissenschaftnütz-liche Wahrheitssuche programmatisch nutzlos sein könne. Jedenfalls: Dass überhaupt etwas über den Klimawandel bekannt ist – der sich nämlich der alltäglichen sinnlichen Wahrnehmung lange weithin entzogen hat –, wäre ohne wahrheitsorientierte, neugiergetrie-bene Forschung ganz unmöglich.

Folglich ist gegenüber Postulaten einer generellen normativen Wende des Wissenschaftssystems im Zuge von „Großer Transformation“

und „Forschungswende“ die Notwendigkeit von Balancen zu betonen – und zwar nicht nur auf Ebene der Forschungsprozesse selber, sondern vor allem auch auf Ebene der Entscheidungssysteme, in denen über die Fi-nanzierung von Forschung diskutiert wird. Es muss Entscheidungszusam-menhänge geben, in denen Kriterien der wissenschaftlichen Relevanz, der Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Wissens, der Neugier, der Welterkenntnis ausschlagend sind. Und es muss Entscheidungszusam-menhänge geben, in denen Kriterien gesellschaftlicher, politischer oder ökonomischer Relevanz von Wissenschaft, sowie Kriterien der Lösung gesellschaftlicher Problemvorgaben leitend sind. Und diese beiden Ent-scheidungszusammenhänge und ihre entsprechenden Finanzierungssys-teme müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Nachhaltigkeit und Pluralismus: Strukturfragen der Forschungsorganisierung

88

Wider einem totalisierenden Nachhaltigkeitsutilitarismus

Abschließend bleibt festzuhalten: Nutzlos, mindestens hinderlich für die Verfolgung der Sustainable Development Goals ist ein totalisieren-der Nachhaltigkeitsutilitarismus, totalisieren-der sich unter neuer wissenschaftli-cher Erkenntnis nichts vorstellen kann, als was er derzeit für relevant hält. Demgegenüber sind es gerade die überlebenswichtige Bedeutung der SDGs, das enorme Gewicht und die im Wortsinne unfassbare Kom-plexität der mit ihnen verbundenen Fragen und Aufgaben sowie die he-rausragende Wichtigkeit und Leistungsfähigkeit der wissenschaftlichen Forschung in diesem Zusammenhang, die es erforderlich machen, For-schungsorganisierung und Forschungsförderung strukturell pluralistisch anzulegen.

Nachhaltigkeit und Pluralismus: Strukturfragen der Forschungsorganisierung

89

14 Grenzüberschreitende

Kooperation für eine nachhaltige