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Zu literarischen Serialitätsstrukturen und ihrer Klassifikation

Im Dokument Life after Harry (Seite 47-52)

2. Die Post-Potter-Texte als Serienliteratur

2.2 Zu den seriellen Strukturen von Harry Potter und seinen Nachfolgern

2.2.1 Zu literarischen Serialitätsstrukturen und ihrer Klassifikation

Kohärenz. Es unterscheidet grob zwischen Episoden- und Fortsetzungsserien sowie feiner zwischen langlaufend angelegten und endlich angelegten Fortsetzungsserien (Kapitel 2.2.1.1).

Zur Durchleuchtung der Strukturen werden verschiedene Parameter als Komponenten seriel-ler Kohärenz vorgestellt (Kapitel 2.2.1.2).

2.2.1.1 Zur Episoden- und zur Fortsetzungsserie

Aus narratologischer Perspektive erfolgt die gängigste Unterscheidung von serieller Literatur zwischen Formaten mit abgeschlossener Episodenhandlung und solchen mit fortlaufenden Handlungssträngen; im Fokus steht also die Frage, ob ein Einzeltext inhaltliche Abgeschlos-senheit aufweist oder als Versatzstück im Gesamtzusammenhang der Serie zu betrachten ist.48 Handlungsschemata auf der Ebene einer Episode sollen hier Folgenhandlungen genannt wer-den, diejenigen, die auf Ebene der kompletten Serie operieren, Serienhandlungen. Letztere strukturieren den Gesamtzusammenhang und sind ggf. für alle Bände relevant.49

Episodenserien Serienformate, die abgeschlossene Einzelfolgen verbinden, heißen Seri-al50, Episodenserie51 oder Serienmodell mit abgeschlossenen Folgenhandlungen52. Dabei besteht zwar stets prinzipiell ein inhaltlicher Bezug zwischen den Teilbänden – etwa bezüglich des Figurensets, der räumlichen Verortung oder auch in der Thema-tik –, eine Kausalverknüpfung ist allerdings nicht konstitutiv. Dementsprechend wei-sen die Episoden in der Regel keine komplexe Serienhandlung auf. Oft wird eine harmonische Ausgangssituation durch Konflikte gestört, welche sich im Zuge der Handlung lösen, sodass der Status quo am Ende wiederhergestellt ist. Gibt es ein fes-tes Figurenensemble, so behandelt jeder Teil einen Fall, eine Begebenheit oder einen Konflikt aus dem Leben der oder des Protagonisten bzw. der Protagonistin. Eine Re-zeptionsreihenfolge existiert nicht, die Folgen sind prinzipiell austauschbar.53 Oft

48 Angelehnt an Weber/Junklewitz (2008), S. 19; vgl. dazu Ewers (2006), S. 301.

49 Auch das bewusste Negieren oder Variieren von bekannten Handlungsschemata kann das Erkennungsmerkmal einer Serie sein und Kohärenz generieren, etwa indem die Erwartungen der Rezipienten gezielt bestätigt oder gezielt gebrochen werden. Beide Techniken, stringent verfolgt, verleihen einem Serienformat Struktur und er-leichtern den Rezeptionsprozess durch Harmonie, Rhythmik und Symmetrie. Vgl. dazu Eco (1988), S. 167.

50 Allrath/Gymnich/Suhrkamp (2005), S. 4 f.; Weber/Junklewitz (2008), S. 19.

51 Weber/Junklewitz (2008), S. 22; Giesenfeld (1994), S. 2-4.

52 Hickethier (2003), S. 401.

53 Ebd.

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riieren solche Serien ein einziges narratives Schema,54 erzählen also die immer glei-che Geschichte und bestätigen damit die Erwartungen der Leser, deren Weltordnung und in aller Regel auch deren ethischen Grundsätze.55

Fortsetzungsserien Wird ein Teilplot einer die komplette Serie betreffenden Geschichte erzählt, spricht man von Series56, Fortsetzungsgeschichte57 oder Feuilleton58. In die-sem Format gibt es sowohl Episodenhandlungen als auch eine Serienhandlung, beide werden durch entsprechende Schemata organisiert. In der Regel bauen die Folgen aufeinander auf, oft in Form einer „zukunftsorientierten Geschichte“59. Damit ist die Rezeptionsreihenfolge hier vorgeschrieben. Um dazu zu motivieren, möglichst viele, wenn nicht alle Episoden zu rezipieren, dienen Techniken der Spannungssteigerung, die langfristig an die Serie binden sollen.60 Es können verschiedene Arten von Fort-setzungsserien unterschieden werden:61 Baut der Fortgang der Geschichte auf Ver-mutungen auf, die im Rahmen eines binären Lösungsschemas anzusiedeln sind, nennt Walter dies „klassischen Suspense“62. In diesem Fall wird der Protagonist zu-meist vor Ende einer Folge vor ein Problem gestellt, das nur zwei Alternativen kennt.

Welche er wählt bzw. welches Schicksal ihn ereilen wird, klärt sich häufig erst zu Beginn der nächsten Episode. Von „Bewegungs-Suspense“ spricht Walter, wenn am Ende einer Folge etwas in Gang gesetzt wird, dessen Zielpunkt klar in der nächsten Teilfolge liegt, damit kennzeichnet Zwangsläufigkeit die Handlung. Der Begriff Be-wegung umfasst hier auch die Entwicklung von Situationen und Beziehungen. Als weitere Fortsetzungsstrategie macht Walter die mehr oder weniger zuverlässige „An-kündigung unheilvoller Entwicklungen“ aus, sie reicht von zielsicheren Prognosen

54 Giesenfeld (1994), S. 4.

55 Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Serial und Series geht zurück auf Williams (1974). Siehe aber auch Eco (1988), S. 156, S. 159 f.; Weber/Junklewitz (2008), S. 19.

56 Weber/Junklewitz (2008), S. 19.

57 Hickethier (2003), S. 401.

58 Türschmann (2007), S. 210 f.

59 Mikos (1994), S. 353.

60 Kelleter (2012), S. 19.

61 Siehe dazu Walter (1986), S. 410 f.; vgl. auch Türschmann (2007), S. 219. Walter unterscheidet ursprünglich fünf verschiedene Strategien. Die Unterscheidung zwischen Ankündigung unheilvoller Ereignisse und plötz-licher, überraschender Ankündigung unheilvoller Ereignisse wurde aber zusammengefasst.

62 Diese Fortsetzungsstrategie wird auch Cliffhanger genannt. Türschmann definiert Cliffhanger als Extremsitua-tion mit binärem Lösungsschema zur Spannungssteigerung: „Die Verknüpfung von Raumverengung und Zeitdehnung ist das Hauptmerkmal von Extremsituationen mit binärem Lösungsschema. Es geht dabei um die Durchquerung von Raum sowie die Zeit, die dafür benötigt wird.“ Zitat: Türschmann (2007), S. 201. Er be-trachtet den Cliffhanger als Phänomen audiovisueller Medien und postuliert, dass für den Feuilletonroman kein äquivalenter Begriff existiere. Vgl. ebd., S. 204.

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bis hin zu leeren Versprechungen oder Drohungen einzelner Figuren. Oftmals werfen die Ankündigungen Fragen auf und sind somit ebenfalls als spannungssteigerndes Element zu betrachten. Als letzte Strategie bezeichnet Walter diejenige, die das Er-zählen selbst ins inszenatorische Zentrum einer Serie rückt. In diesem Fall steuert der Erzählende oder die Erzählsituation das Interesse des Rezipienten. Zäsuren können an beliebigen Stellen vorgenommen werden, um die Aufmerksamkeit auf eine extra-diegetische Erzählinstanz zu lenken.

Wie stark die einzelnen Episoden einer Fortsetzungserie miteinander verknüpft sind, hängt vor allem davon ab, ob die Handlung auf einen konkreten Höhe- oder Endpunkt zuläuft oder unendlich angelegt ist bzw. ob das Ende bei der Planung der Einzelfolge von Relevanz ist. Es lässt sich modellhaft zwischen endlich und langlaufend angelegten Fortsetzungsserien unter-scheiden, die Übergänge sind indes fließend. Bei kurzlaufenden Fortsetzungsserien sind die Einzelfolgen stark miteinander verknüpft, sodass ein Quereinstieg oder Pausieren des Rezipi-enten einem Ausstieg gleichkommt. Besitzt das Format ein offenes Ende, weist es oftmals zyklische Strukturen auf oder nutzt repetitive Schemata, womit immer wieder neue Konflikte und Themen ins Zentrum der Geschichte rücken. In diesem Fall erweist sich ein Quereinstieg der Rezipienten als leichter möglich, die sich an der Abwechslung erfreuen, wenngleich das narrative Schema faktisch dasselbe ist.63 Gerade die Ausgestaltung und Variation des Im-mergleichen macht offenbar den Reiz der Geschichten aus.

Langlaufend angelegte Fortsetzungsserien haben prinzipiell ein offenes Ende, gehen zumeist sehr kleinschrittig vor und vermeiden starke Zeitauslassungen.64 Die Inhalte sind in der Regel simpel, häufig steht die Episodenhandlung im Vordergrund. Oft werden an den Biorhythmus der Rezipienten angepasste Parallelwelten geschaffen und darin all-tägliche Situationen und Konflikte zum thematischen Schwerpunkt erhoben. Im Fernsehen weisen Soap Operas oder Daily Soaps eine solche Struktur auf, deren Epi-soden oftmals mit einer sogenannten Zopfdramaturgie verbunden sind.65 Laufen die Fernsehserien auf ein Ende zu, spricht man von einer Telenovela, einen äquivalenten Begriff für literarische Texte in Buchform gibt es bislang nicht.66

63 Eco (1988), S. 160.

64 Hickethier (2003), S. 401.

65 Vgl. dazu Weber/Junklewitz (2008), S. 24.

66 Kelleter (2012), S. 20.

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Endlich angelegte Fortsetzungsserien sind auf eine bestimmte, überschaubare Folgenzahl hin konzipiert und laufen auf ein konkretes Ende zu. 67 Episoden- und Serienhandlungen sind oft miteinander verschränkt und komplex gestaltet.68 Tendenziell wird in we-sentlich größeren Schritten erzählt, sodass die Rezipienten angehalten sind, mög-lichst keine Folge zu verpassen, denn endlich angelegte Fortsetzungsserien sind ko-härenter als langlaufende.69 Nicht selten werden ästhetische Prinzipien verfolgt, die sonst nur in nichtseriellen Texten und Monografien zum Tragen kommen.70 Ver-schiedene Genrebezeichnungen werden vergeben: Handelt es sich etwa um eine Fa-miliengeschichte oder die Geschichte eines Familienmitgliedes mit großen zeitlichen Raffungen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, spricht man von einer Famili-ensaga oder kurz Saga.71 Die Darstellung kann dabei linear oder stammbaumförmig verlaufen72 und die epische Welt einen starken oder schwachen Realitätsbezug auf-weisen. Bezieht sich die inhaltliche Darstellung nicht ausschließlich auf eine Famili-engeschichte, spricht man – vor allem bei drei- bis sechsteiligen Fernsehformaten – von Miniserien.73

2.2.1.2 Zur intraserialen Kohärenz und doppelten Formstruktur

Episoden- und Fortsetzungsserien stellen zwei Extremformen dar; faktisch sind die meisten Serien aber als Mischformen zu betrachten, die auf einer stufenlosen Skala dazwischen einzu-ordnen sind.74 Der Grad der erzählerischen Kontinuität kann dabei zur Skalierung verwendet werden: Je stärker die intraseriale Kohärenz, desto eher handelt es sich um eine Fortsetzungs-serie.75 Den theoretischen Nullpunkt stellt so gesehen die Episodenserie dar, deren Einzelbän-de nur auf formaler Ebene Kohärenz aufweisen. Die Einordnung nach Einzelbän-dem Grad intraserialer Kohärenz begründet sich in der strukturellen Eigenheit serieller Literatur: der doppelten Formstruktur, womit der dramaturgische Zusammenhang zwischen einer Einzelfolge und dem Mainplot gemeint ist, welche in ständiger Wechselwirkung stehen. Die Einzelfolge zielt ei-nerseits auf eine inhaltliche Abgeschlossenheit, leistet aber andererseits einen Beitrag zur

67 Vgl. Karstens/Schütte (2010), S. 211.

68 Klein (2012), S. 228.

69 Der Begriff der Kohärenz wird im folgenden Kapitel (2.2.1.2) geklärt.

70 Mittel (2011), S. 146 f.

71 Hickethier (2003), S. 401.

72 Vgl. Eco (1988), S. 162.

73 Reinecke (2007), S. 9; Hickethier (2007), S. 196.

74 Kotzloff (1992) und Allrath/Gymnich/Suhrkamp (2005) haben ein Modell vorgeschlagen, das die Oppositio-nen zwischen Serials und Series in Mischformen auffächert.

75 Weber/Junklewitz (2008), S. 24.

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rienhandlung.76 Je intensiver sich diese doppelte Funktion zeigt, desto kohärenter ist die Serie.

Und andersherum: Je weniger die Doppelstruktur zur Geltung kommt, desto episodenhafter ist die Struktur und desto geringer die Bedeutung des Gesamtzusammenhangs. Bei der Diskussi-on um die Kohärenzstärke können verschiedene Parameter einbezogen werden. Angelehnt an Weber und Junklewitz, sollen hier folgende Aspekte Berücksichtigung finden:77

 Handlungsschemata, die auf Ebene der Serienhandlung operieren, erzeugen einen Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen Bänden und somit Kohärenz. Auch die frequentierte Verwendung gleicher Handlungsschemata auf Ebene der Folgenhand-lungen kann zur Kohärenz beitragen, vor allem wenn diese Strategie zum Wiederer-kennungsmerkmal der Serie wird.

 Verweisstrukturen zwischen einzelnen Folgen schaffen intraseriale Kohärenz, indem sie die Zugehörigkeit zum Gesamtzusammenhang bzw. zur Serienhandlung betonen.

Dabei kann entweder auf Schemata oder Motive aus vorangegangenen Bänden referiert werden – im Sinne einer Analepse – oder aber auf Schemata späterer Folgen im Sinne einer Prolepse.78 Fast immer finden sich Kurzzusammenfassungen der vorangegangenen Handlung zu Beginn einer neuen Folge. Sie stellen sicher, dass handlungsrelevante Ereignisse beim Rezipienten präsent sind.79 Außerdem ermöglicht diese Strategie potenziellen Neu- oder Wiedereinsteigern das Verfolgen des Hauptplots.80

 Auf der Ebene der Zeitarrangements kann seriale Kohärenz insbesondere durch den erzählerischen Rahmen geschaffen werden, indem er die Einzelfolgen miteinander verknüpft und in einen temporalen Kausalzusammenhang bringt, beispielsweise wenn der neue Band direkt zu dem Zeitpunkt einsetzt, an dem der vorige geendet hat, wenn also durchgängig chronologisch erzählt wird. Aber auch ein Zeitsprung zwischen zwei Bänden kann Kohärenz erzeugen, wenn die entstandene Ellipse rückwirkend gefüllt wird.81 Damit wird der Eindruck erweckt, dass die Figuren ein Leben außerhalb der erzählten Zeit besitzen, das sie in der Erzählpause – unabhängig vom Rezeptions-rhythmus – weitergeführt haben.82 Im Extremfall entsteht eine parallele fiktionale Welt mit einer Zeitstruktur, die sich an den Biorhythmus des Rezipienten anlehnt.83

 Auch räumlich kann Kohärenz evoziert werden, etwa durch immer wieder genutzte Schauplätze, die oftmals semantisch aufgeladen werden, sodass sie zu Trägern von handlungsrelevanten Informationen avancieren oder allein durch ihre Nennung eine bestimmte Atmosphäre erzeugen. Wird der Handlungsraum von Band zu Band

76 Hickethier (2003), S. 398.

77 Siehe Weber/Junklewitz (2008). Weber und Junklewitz beziehen sich bei ihren Ausführungen auf Fernsehse-rien, die Kategorisierung ist jedoch eins zu eins auf Literatur übertragbar. Die nachfolgende Auflistung wurde durch Mohrs sowie eigene Überlegungen ergänzt. Bezüge zu Mohr (2012) sind gekennzeichnet.

78 Zu Analepse und Prolepse siehe Martinez/Scheffel (2005), S. 33.

79 Mohr (2012), S. 249.

80 Vgl. ebd. (2012), S. 246.

81 Zur bestimmten Ellipse siehe Martinez/Scheffel (2005), S. 43.

82 Vgl. Mohr (2012), S. 154.

83 Weber/Junklewitz (2008), S. 20.

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tert und ausdifferenziert,84 also das verwendete Raumschema ergänzt, entsteht auch durch die konsequente Verwendung unterschiedlicher Schauplätze oder phantastischer Welten seriale Kohärenz, wird sie zum konstitutiven Konzept der Serie erhoben.

 Die Stabilität des Figurensets kann als Parameter intraserialer Kohärenz dienen.85 Das Spektrum reicht von Formaten ohne festes Figurenensemble über Serien mit teilweise wechselnden handelnden Personen bis hin zu Formaten mit stets denselben Personen.

Auch durch die Entwicklung einer Figur kann Kohärenz versinnbildlicht werden. In Episodenserien wird am Ende der Status quo meist wiederhergestellt, was zur Folge hat, dass die Figuren statisch bleiben, weder eine psychologische Entwicklung noch die Adoleszenz durchlaufen und so Stereotype darstellen.86 In Fortsetzungsserien hin-gegen durchlaufen die handelnden Personen Lern- und Alterungsprozesse.87 Weber und Junklewitz postulieren, dass sogar Personen außerhalb der epischen Welt, also die Beteiligten am Produktionsprozess, zur Kohärenz einer Serie beitragen: Stammautoren bzw. Regisseure und Schauspieler vermögen durch den Wiedererkennungswert Ho-mogenität zu erzeugen und damit die Wirkung von Serienformaten nachhaltig zu prä-gen.88

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