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Zum Gattungsmodell der Mythoshaltigkeit

Im Dokument Life after Harry (Seite 130-133)

4. Die Post-Potter-Texte als moderne Mythen

4.2 Zur Mythoshaltigkeit von Harry Potter und den Post-Potter-Texten

4.2.1 Zum Gattungsmodell der Mythoshaltigkeit

Um beurteilen zu können, inwiefern die Texte des Korpus als Mythen zu betrachten sind, gilt es, sich die Implikationen des Gattungsmodells zu vergegenwärtigen, auf dessen Grundlage eine solche Klassifizierung vorgenommen wird. Dabei soll hier auf ein Modell zurückgegrif-fen werden, das die genannten unterschiedlichen Perspektiven vereint und einen literarischen Text als Mythos bezeichnet, wenn er mythoshaltig ist.39 Das ist genau dann der Fall, wenn entweder eine mythische Diegese, eine konkrete Mythenadaption bzw. mythische Erzähl- oder Handlungsstrukturen nachgewiesen werden können oder aber, als Kombination aus all-dem, ein Set aus mythischen Motivkonstellationen und Erzählstrukturen, wie es beispielswei-se das Schema der Heldenreibeispielswei-se aufweist.40 Das Ganze ist als strukturgeleitetes Gattungsmo-dell zu verstehen, das zwischen mythischen und nichtmythischen Texten unterscheidet. Die Implikationen des Mythosbegriffs sollen nun kurz umrissen werden:

Eine mythische Diegese ist als Spezialfall einer phantastischen Diegese zu betrach-ten.41 Sie liegt vor, wenn ein Wirklichkeitsentwurf etabliert wird, in dem mythische Raum-, Zeit- und Denkstrukturen vorherrschen bzw. Gegenstände und Figuren trans-zendentale Kausalitätsprinzipien zum Ausdruck bringen. Die Raumstruktur ist als my-thisch anzusehen, wenn Räume und Schauplätze einer Erzählung semantisch, symbo-lisch oder emotional aufgeladen sind oder zur Personalisierung oder Beseelung tendie-ren. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Natur oder im Raum befindliche Gegenstände zum Leben erwachen oder wenn sich eine dominierende Grundemotion in der Ausgestaltung der Schauplätze symbolisch, zum Beispiel durch Raummotive, durch Farbwahl oder durch Funktionsattribuierungen42, niederschlägt. Eine mythische Zeitstruktur wiederum ist ästhetisch oder semantisch motiviert und beruht dezidiert nicht auf physikalischen, naturwissenschaftlichen Prinzipien. Dies kann der Fall sein, wenn der Plot nicht zeitlich eingeordnet wird, eine gedehnte Zeitlosigkeit bzw. eine ästhetische, anachronistische oder zyklische Zeitstruktur vorliegt oder eine Kongruenz von Zeit und Inhalt. Typische Motive, die sich aus einer solchen Anlage ergeben, sind der Zeitsprung, die Zeitreise sowie parallel verlaufende Zeitwelten. Mythische Raum- oder Zeitstrukturen fügen sich erst harmonisch in die Diegese ein, wenn sie von den Figuren als normal empfunden werden oder wenn diese von ihrer Plausibilität über-zeugt werden können. Kennzeichnend ist daher, dass die Figuren von mythischen Denkstrukturen geleitet sind: wenn alles Denken durch einen übergeordneten Sinn,

39 Der Begriff findet sich u. a. bei Bock-Lindenbeck (1999, S. 4), die sich auf eine Vorlesung von Tepe (1996) bezieht, und bei Heber (2010), S. 26.

40 Vgl. Heber (2010), S. 23 f. und Langer (2005), S. 213. Das Modell wurde angepasst, es geht u. a. zurück auf Lugowski und Heber, die es modifiziert hat, sowie auf Bock-Lindenbeck (1999), die sich auf eine Vorlesung von Tepe (1996) bezieht.

41 Siehe Kapitel 3.3.1.

42 Eine Funktionsattribuierung liegt beispielsweise vor, wenn ein Raum eng mit einer bestimmten Handlung oder Funktion verbunden wird: So kann es Räume geben, an denen sich stets Liebende begegnen bzw. entdecken oder aber in denen stets getötet wird. In der mythischen Diegese werden solche Schauplatzwiederholungen nicht als Zufälle gewertet, sondern als Strukturgesetze, auf die sich die Figuren verlassen und die in der Regel auch nicht gebrochen werden.

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ne übergeordnete Macht oder eine übergeordnete Ordnung motiviert wird, die sämtli-chem Denken und Handeln Struktur verleiht und zu einer bestimmten Sicht auf Mensch und Welt führt. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn vom Erzähler oder den Figuren angenommen wird, dass alles, was passiert, vorherbestimmt ist bzw.

von höheren, nicht rational herleitbaren und/oder nicht vorstellbaren Mächten gelenkt wird.43 In extremen Fällen kann dies über die Diegese hinausweisen und beim Rezipi-enten eine bestimmte Weltsicht entstehen lassen. Damit erfüllt der Text eine gesell-schaftliche Funktion.44 Zudem kann die Namensgebung von Figuren in Form von sprechenden Namen die Sinnhaftigkeit allen Seins zum Ausdruck bringen. Auch Ge-genstände können mythische Wirklichkeitsentwürfe repräsentieren. Sie fungieren da-bei häufig als Symbole übermenschlicher, numinoser Mächte und verleihen ihrem Be-sitzer Unsterblichkeit, körperlicher Stärke und Zauberkraft.45

 Von einer Mythenadaption spricht man, wenn eine textuelle Übernahme, eine Bearbei-tung oder eine Abwandlung von konkreten Figuren/Figurennamen, Handlungssträngen oder Motivkonstellationen mythologischer, klassischerweise antiker, aber auch mittel-alterlicher Erzählungen nachzuweisen ist.46 Der Aufruf von Archetypen und mythi-schen Erzählschemata kann ebenfalls als Mythenadaption bezeichnet werden. In jedem Fall muss die Querverbindung zu Motiven oder einer konkreten Version der mythi-schen Vorlage eindeutig sein.

 Zu den mythischen Erzählstrukturen werden folgende Texteigenschaften gezählt, was auf Lugowski zurückgeht, dessen Ergebnisse auf der Vorstellung eines „mythischen Analogons“ beruhen:47 Alles Geschehen sei im Mythos bzw. in der Literatur allge-mein vorherbestimmt, das heißt final oder kompositorisch motiviert.48 Nicht der Zufall bestimme den Fortgang der Handlung und die Sinnhaftigkeit von Vorgängen, sondern alles fügt sich so, wie numinose Mächte es vorherbestimmt haben. Die Zukunft steht also innerhalb der Diegese schon fest, und alle Ereignisse laufen auf sie zu. Daraus er-geben sich die Vermischung von Realitätsebenen und eine stringente Linearität, kurz:

Techniken, die auf die Vorwegnahme des Endes abzielen.49 Es ist zu beobachten, dass die finale oder kompositorische Motivierung bei Mythen oftmals mit ähnlichen Moti-ven realisiert wird, die selbst schon als gattungsweisend aufzufassen sind. Dazu zählen die Motive Orakel oder Prophezeiung, die Legende, der bedeutsame oder auch zu-kunftsweisende Traum, der Auserwählte, der sich siegreich durchsetzt sowie die Lie-benden, die sich suchen und finden – allgemeiner formuliert: Motive des Grundver-trauens, dass das Gute über das Böse siegt und alles das ihm vorbestimmte Ende nimmt. Sie fügen sich in der Regel harmonisch in die mythische Diegese ein, die die finale oder kompositorische Motivierung plausibilisiert.

43 Die Vorstellung der mythischen Diegese ist übernommen von Heber (2010), S. 26 f., die sich an Tepe (1996) und Cassirer (2002) anlehnt. In ihrem Projekt erläutert sie die mythische Diegese von Funkes Tintenwelt.

44 Vgl. Wodianka (2009), S. 15.

45 Als literaturhistorisch etablierte mythische Gegenstände sind etwa der heilige Gral, das Elixier, das „besonde-re“ Schwert oder auch der Stein der Weisen zu nennen, die ursprünglich aus den unterschiedlichsten Quellen, z. B. Sagen und Legenden, stammen.

46 Heber (2010), S. 23.

47 Lugowski (1994, S. 12 f., passim) charakterisiert damit die allgemeine Beziehung von Menschen zu literari-schen Texten, indem er sie mit dem Verhältnis von Menliterari-schen der Antike zu ihren Mythen vergleicht. Nach seinem Verständnis findet sich in den ästhetischen Strukturen literarischer Texte stets ein Restbestand mythi-schen Denkens wieder, Mythisches lebe in den formalen Gesetzen der Dichtung weiter.

48 Heber (2010, S. 25 f.) schließt die kompositorische Motivierung als mythische Erzählstruktur mit ein.

49 Lugowski (1994), S. 66.

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 Die Anlehnung an antike Mythen führte letztlich zu festen Erzählschemata in der zeit-genössischen Literatur, welche sich aus mehreren antiken Prätexten herleiten und im-mer wieder aufgerufen werden. Sie sind weniger als konkrete Motivadaptionen zu be-greifen, sondern vielmehr als Aufruf von mythischen Motivkonstellationen und Plotstrukturen, wodurch Handlung, Thematik und Konzeption der Protagonistenfigur vorstrukturiert werden, was den Texten eine signifikante Struktur verleiht, an der sich der Rezipient orientieren kann. Zu diesen Schemata gehört auch die sogenannte Hel-denreise, die sich auffällig oft in zeitgenössischen Texten und Filmen wiederfindet. Im Zentrum steht eine Abenteuerreise oder auch eine Reise des Gefühls, die einen Weg von einer Art des Seins zur nächsten bewirkt, beispielsweise den Weg von Schwäche zu Stärke oder von Liebe zu Hass.50 in der Regel steht der Held vor einem äußeren und einem inneren Problem, was die Hauptmotivation der Handlung darstellt: Das äußere Problem resultiert häufig aus dem Hauptkonflikt mit dem Antagonisten, das innere Problem ist oftmals ein Makel der Persönlichkeit oder ein moralisches Dilemma, das es zu überwinden gilt. Die Zeichnung der Heldenfigur folgt dabei häufig einem weite-ren genreübergreifenden Schema, dem des besondeweite-ren Menschenkindes oder auch

„Gottkind“51, welches trotz seiner ungewöhnlichen Fähigkeiten starkes Identifikati-onspotenzial bietet. Der Protagonist erscheint menschlich mit Stärken und Schwächen, hat Ängste und Zweifel,52 ist oftmals in schwierigen sozialen Verhältnissen groß ge-worden (als Waise oder Halbwaise) und durchlebt die typischen Probleme und schö-nen Momente der Adoleszenz. Er wird zunächst in der Alltagswelt groß und entdeckt erst im Kontakt mit der unbekannten Anderswelt seinen Auserwähltenstatus53 und sei-ne übermenschlichen Fähigkeiten, die er zunächst zu schulen hat. Die Etappen der Heldenreise54 gestalten sich nach Vogler wie folgt:

1) gewohnte Welt

53 Der Auserwähltenstatus der Protagonistenfigur ist gängig in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur.

Vgl. Stenzel (2006), S. 183 und Meißner (1989).

54 Vogler (1999, S. 159-384) hat das Modell nach eigenen Angaben aus den Vorüberlegungen von C. G Jung und den Mythosstudien nach Campbell entwickelt, er richtet sich an Drehbuchschreiber und Autoren. Siehe dazu Vogler (1999), S. 9f. Was unter den einzelnen Etappen der Heldenreise konkret zu verstehen ist, wird im Ana-lyseteil erläutert.

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