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Ein Beispiel für ein phantastisches Genremodell

Im Dokument Life after Harry (Seite 82-87)

3. Die Post-Potter-Texte als phantastische Literatur

3.2. Zum phantastischen Genre von Harry Potter und den Post-Potter-Texten

3.2.2 Ein Beispiel für ein phantastisches Genremodell

Grundsätzlich ergibt sich die Mehrzahl phantastischer Genremodelle explizit oder implizit aus hierarchisch organisierten Entscheidungen, welche Texteigenschaften bei der Klassifikation als genreweisend betrachtet werden. Immer differenziertere Eigenschaftskonstellationen füh-ren dabei zu immer spezifischefüh-ren Genrevorstellungen und -begriffen. Die folgende Darstel-lung zeigt beispielhaft, wie die Gattung der Phantastik in zwei Hierarchieebenen organisiert werden kann.

Abbildung 1: Genremodell der Phantastik mit zwei Hierarchieebenen

Eine überzeugende Legitimation, warum eine konkrete, objektiv belegbare Texteigenschaft als genreweisend betrachtet wird, erfolgt in aller Regel nicht. So kann bei der Klassifizierung mal das Setting (zum Beispiel High Fantasy), mal der Handlungsort (zum Beispiel Urban Fantasy), mal der Handlungsverlauf, der Inhalt67, die Thematik (zum Beispiel Sword and Sorcery), mal die Zeitwelt (zum Beispiel Contemporary) oder die Adressierung (zum Beispiel All-Age-Fantasy oder Children’s-Fantasy68) betont werden – alles Eigenschaften, die nicht die phantastische Dimension der Texte fokussieren, sondern auf andere Gattungsmodelle verwei-sen.69 Aufgrund der diskursiven Bedeutsamkeit solcher Genrevorstellungen sowohl in der

67 Einen komplett inhaltsorientierten Vorschlag liefert beispielsweise Ewers (2011).

68 Vgl. Manlove (1999), S. 4.

69 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass es solche Versuche durchaus gab. Göte Klingberg unterschied beispiels-weise zwischen „phantastischer“, „surreal-komischer“ und „mythischer Erzählung“. Eine trennscharfe

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englischsprachigen Forschung im Allgemeinen als auch in den zeitgenössischen Forschungs-diskursen der Potter-Forschung im Speziellen werden nun exemplarisch die in Abbildung 1 dargestellten Genres in den Blick genommen, die in Bezug auf Rowlings Serie am häufigsten diskutiert worden sind (entweder als einfache Zuweisung oder als Komponente des Gen-remix)70:

Hierarchieebene I

(Volks-)Märchen Der Terminus bezeichnet „phantast[ische], realitätsüberhobene“, im-mer wieder neu erzählte Erzählungen, „deren Soff aus mündl[ichen]

[v]olkstüml[ichen] Traditionen stammt“ und deren konkrete mündliche oder schrift-liche Realisierung je nach Erzähltalent und stilistischem Anspruch unterschiedlich ausfällt.71 Das Volksmärchen ist gekennzeichnet durch „Raum- und Zeitlosigkeit, die wie selbstverständl[ich] wirkende Aufhebung der Natur- und Kausalgesetze […], das Auftreten von Fabelwesen […], Einschichtigkeit […], Handlungsstereotypen“ sowie den „Sieg des Guten oder [die] Wiederherstellung einer harm[onischen] Ordnung, mit – z. T. grausamer – Bestrafung des Bösen“72. Die Figuren zeichnen sich oft durch Flachheit und einfache Funktionscharakteristik aus, Requisiten sind zumeist einfach zu deutende Symbole, das Wunderbare oder Übernatürliche wird nicht hin-terfragt,74 es kann als Ausdruck einfacher Wünsche des Menschen oder der Mensch-heit gedeutet werden, zum Beispiel als Wunsch nach ewiger Jugend.75 Volkstümliche Märchen speisen sich aus einem Fundus immer gleicher Handlungs- und Motivkons-tellationen, die neu variiert, formelhaft bzw. regelgeleitet zusammengesetzt und aus-formuliert werden. Zu typischen Märchenplots bzw. bekannten Märchenmotiven zählen etwa „der Teufelspakt“, „die Verkörperung des Todes, der unter den Men-schen weilt“, „Vampire, die Blut trinken und damit eine ewige Jugend erhalten“, die Umkehrung von Traum und Wirklichkeit oder „der Stillstand und die Wiederholung der Zeit“.76

Klassifizierung der phantastischen Dimension eines Textes liegt aber auch hier nicht vor. Siehe Klingberg (1976), S. 222 ff. und 227 f.

70 Zum Genremix siehe Kapitel 5.3.

71 Schweikle (1990a), S. 292.

72 Ebd.

74 Vgl. Bergenthal (2008), S. 259.

75 Callois (1974), S. 63.

76 Ebd., S. 62-66.

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Fantasy Dieses Genre hat sich aus der Vermischung verschiedener literarischer Institu-tionen ergeben und in dieser spezifischen Mixtur etabliert. So trägt Fantasy-Literatur Spuren mittelalterlicher Ritterepen, der tradierten klassischen Mythologie, histori-scher Romane, von Märchen und Legenden, auf die sie immer wieder frei rekurrieren und von wo sich die Themen, Schauplätze und Figuren herleiten.77 Häufig werden mit dem Begriff Texte bezeichnet, die „ausschließlich oder zum überwiegenden Teil in einer Sekundärwelt spielen“78, deren wundersame Beschaffenheit oftmals auch in Bezug von Raum- und Zeitstruktur eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.79 Diese Gesetzmäßigkeiten werden im Laufe der Handlung von Figuren und Rezipienten er-lernt wie hingenommen und bestimmen dann die Sinnhaftigkeit von Vorgängen. So werden Bedeutungsgefüge und Kausalitäten in der meist autonom funktionierenden phantastischen Welt mithilfe von imaginierten übernatürlichen Begründungszusam-menhängen erklärt. Es gibt typische Motive – wie Artefakte, Magie oder Kriege – und Figuren, etwa Drachen, Magier, Ritter, Priester, Riesen, Vampire, Elfen, Orks, Harpyen und viele mehr, die mit dem Genre in Verbindung gebracht werden. Oft-mals dienen mythische und mittelalterliche Stoffe bzw. das, was dafür gehalten wird, als Grundlage.80 Ihre „spezifische Stimmung, ihr Kolorit“ erhält die Fantasy durch

„die Imitation volksliterarischer (mündlicher) Traditionen und teils abergläubisch anmutender Mythen- bzw. Legenden-Motive“81. Zu nennen sind u. a. die Bedrohung eines Volkes durch äußere Feinde, die Rückkehr des Königs, der schließlich sein rechtmäßiges Erbe antritt, oder die abenteuerliche Reise eines Auserwählten.82 Hinzu kommen das Entdecken einer Parallelwelt hinter einem Übergang, das Auftauchen eines Doppelgängers oder von Geistern, des personifizierten Todes, des Teufels (so-wie der Pakt mit ihm) so(so-wie Personen mit übernatürlichen Fähigkeiten und/oder Rea-litätsverlust, Menschen, die Tiergestalt annehmen können, personifizierte und belebte Gegenstände, das Spiel mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren sowie Zeitstopps und Anachronismen.83

77 Vgl. Bergenthal (2008), S. 336, S. 338, S. 351.

78 Rank (2011) S. 173, vgl. auch Bonacker (2006), S. 64-70.

79 Vgl. Sullivan (1996), S. 303.

80 Vgl. Abraham (2010), S. 47.

81 Bergenthal (2008), S. 338.

82 Vgl. de Grandpair (2013), S. 30-55.

83 Aufzählung folgt Fenske (2008), S. 383 f.

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Die Gattung Fantasy kann im engeren Sinne auch nur jene Texte umfassen, deren zahlreiche magische, übernatürliche und unheimliche (oftmals auch mythische) Ele-mente die naturwissenschaftlichen Gesetze, Kausalität und Logik außer Kraft set-zen,84 jedoch keinen Konflikt mit der natürlichen Weltordnung heraufbeschwören.85 Alle Konflikte sind bei diesen Texten durch Vernunft und/oder Magie lösbar.86 Science Fiction Auch in der Science Fiction werden phantastische Sekundärwelten

er-schaffen, die auf eigenen Gesetzmäßigkeiten beruhen. Die räumliche und zeitliche Orientierung ähnelt stark Texten der Fantasy-Literatur, sie bemüht sich jedoch – zumindest pseudowissenschaftlich – 87 um rationale, oftmals futuristisch-technische Begründungen für die wundersamen, aus heutiger Sicht unwahrscheinlichen Elemen-te. Sie ist zudem verwandt mit der Utopie, die ebenfalls Zukunftsvisionen in den Blick nehmen kann.

(Anti-)Utopie Zu den Utopien werden vor allem diejenigen Erzähltexte gezählt, die von negativen (Anti-Utopie) oder positiven (Utopie) Gesellschaften bzw. Gesell-schaftsentwicklungen berichten, die den thematischen Schwerpunkt der Erzählung ausmachen.88

Hierarchieebene II

High Fantasy Die mythisch-archaischen, meist geschlossenen Sekundärwelten der High Fantasy tragen in der Regel mittelalterliche Züge, sind bevölkert von phantasti-schen Wesen mit magiphantasti-schen Fähigkeiten wie Riesen, Feen und Einhörnern (angelehnt an Tolkien) und entsprechen häufig dem wissenschaftlichen Stand und der Gesellschaftsstruktur der Vormoderne.89 Dementsprechend ist die politische Struktur jener Welten meist feudal geprägt, und Magie wird als normal empfunden.90 Religion zeigt sich oftmals polytheistisch, kann aber auch dem christlichen Glauben nachempfunden sein. Die Story ist meist dem Schema Quest verpflichtet,91 handelt von der Konfrontation „Gut gegen Böse“ und neigt zu epischer Breite. „Das

84 Vgl. Kellner (1990), S. 150.

85 Vgl. Rottensteiner (1987), S. 20 f.

86 Ebd.

87 Mohr (2012), S. 24.

88 Siehe zum Beispiel Biesterfeld (1993), S. 75.

89 Vgl. Karg/Mende (2010), S. 185.

90 Laue (2011), S. 191.

91 Karg/Mende (2010), S. 187 f.; de Grandpair (2011), S. 6; vgl. auch Bergenthal (2008), S. 333.

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de Handlungsschema […] ist die Quest-Struktur, welche in der Regel die Ret-tung/Wiederbeschaffung oder Vernichtung eines magischen Artefakts beinhaltet, wo-von meist das Überleben oder Wohlergehen einer ganzen Nation oder auch der Welt abhängt.“92

Sword and Sorcery wird oft synonym zu Low Fantasy und Heroic Fantasy verwendet.93 Die Geschichte ist ebenfalls in einer fiktiven Sekundärwelt angesiedelt, meist mit mittel-alterlichem Vorbild oder dem, was dafür gehalten wird.94 Anders als bei High Fan-tasy steht hier kein epischer Konflikt im Zentrum, sondern die persönliche Entwick-lung des Helden, der zahlreiche Kämpfe absolviert, Abenteuer besteht und durch sei-nen Heldenmut brilliert. 95

Urban Fantasy häufig synonym zu Contemporary Fantasy. Zeichnet sich durch die Vermischung von phantastischer und zeitgenössischer/realer Welt aus. Die Anlage kann dabei dem Prinzip der Open World, aber auch dem der Implied World folgen.96 Ein klarer Realitätsbezug ist durchgängig gegeben, es soll eine alltägliche Geschichte erzählt werden mit einem Helden, der großes Identifikationspotenzial in sich birgt.

Die Urban Fantasy ist meist im städtischen Milieu situiert, das durch phantastische Elemente metaphorisiert, abstrahiert oder spielerisch umgestaltet wird.97

All-Age-Fantasy „Der Begriff [...] ist vergleichsweise jüngerer Prägung und steht im Grunde nicht für ein eigenständiges Subgenre, sondern ganz allgemein für Fantasy-Werke, die Rezipienten über alle Altersgrenzen hinweg ansprechen.“98

Darüber hinaus gibt es im zeitgenössischen Forschungsdiskurs vereinzelt Vorschläge, die zur Klassifikation der phantastischen Literatur auf das phantastische Moment eines Textes abhe-ben. So hat beispielsweise Manlove (1999) sechs Genres ausgemacht, u. a. „children’s fan-tasy“, „emotive fanfan-tasy“, „secondary world fantasy“ und „comic fantasy“. Während unter

„secondary world fantasy“ Texte erfasst würden, die die Rezipienten in eine rein phantasti-sche Welt entführen, die also explizit nicht mit der eigenen, als Wirklichkeit empfundenen

92 Mohr (2012), S. 256. Die Nähe zum Schema der Heldenreise ist evident. Siehe Kapitel 4.2.1.

93 De Grandpair (2011), S. 6.

94 Friedrich (1995), S. 347.

95 De Grandpair (2011), S. 6.

96 Bergenthal (2008), S. 335.

97 De Grandpair (2011), S. 7.

98 De Grandpair (2011), S. 7. Zur All-Age-Fantasy siehe auch Becket (2009), S. 135.

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Welt in Beziehung steht,99 parodiere „comic fantasy“ die Alltagswelt und ziehe ihr komisches Potenzial aus deren Konfrontation mit einer phantastischen Welt, somit treffen die archai-schen Konventionen der „secondary world fantasy“ auf profane Themen und Motive.100

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