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Zum Begriff der phantastischen Literatur

Im Dokument Life after Harry (Seite 72-76)

3. Die Post-Potter-Texte als phantastische Literatur

3.1 Zu Theorie und Geschichte der phantastischen Literatur

3.1.1 Zum Begriff der phantastischen Literatur

Je nach Forschungsinteresse werden die Begriffe „Phantastik“, „Phantastisches“, „Fantasie“

und „Fantasy“ unterschiedlich verstanden und verwendet.5 Der Terminus Phantastik bezeich-net in der Forschung nicht allein eine Gattung, eine Textsorte oder ein Genre im engeren Sin-ne, sondern etwa auch einen Modus, eine Schreibweise bzw. eine Stilkategorie6 – oder aber eine atmosphärische Textzugabe, die sich einer Klassifizierung und theoretischen Fundierung gänzlich entzieht.7 Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass es sich nicht um ein rein literarisches, sondern um ein medienübergreifendes Phänomen handelt, das in der Kunst gene-rell zu finden ist. Zymner, der das Phantastische als „Schreibweise“ betrachtet, formuliert dazu:

Diese Schreibweisen sind dann jeweils medien- oder bereichsspezifische (eben literarische) Ausdrucks-formen eines allgemeinen, übergreifenden Verfahrens, das in ganz unterschiedlichen künstlerischen Formen und Bereichen auftreten und sich ganz unterschiedlicher Mittel bedienen kann und das wir mit dem Ausdruck „Phantastik“ bezeichnen.8

Horstkotte indes unterscheidet zwischen dem Modus des Phantastischen und des Realisti-schen. Ersteren bezieht er zwar ausschließlich auf literarische Werke, versteht darunter jedoch keine spezifische Textsorte, sondern meint, dass phantastische Texteigenschaften weder

5 Siehe u. a. Haas (2005), S. 117-134; Callois (1974), S. 44-84 und Kaulen (2004), S. 12-20.

6 Vgl. Lehmann (2003), S. 25.

7 Simonis (2005), S. 21, in Anlehnung an Howard Phillips Lovecraft.

8 Zymner (2003b), S. 299.

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rebildend seien noch thematisch oder formal festgelegt werden könnten. Vielmehr trügen bei-de Modi, losgelöst von Gattungsgrenzen, zur Konstruktion literarischer Weltentwürfe bei.9 Beide Überlegungen mögen – vor allem aus kulturwissenschaftlicher Perspektive – durchaus berechtigt sein, verkennen jedoch den Sachverhalt, dass sich „Phantastisches“ sehr wohl als dominante Struktur in literarischen Texten verankern kann und eigene Genres zu prägen im-stande ist, welche in der Öffentlichkeit auch als solche wahrgenommen werden,10 wie Fan-tasy-Literatur-Regale in Buchhandlungen oder Fantasy-Bestsellerlisten beweisen.11 Dement-sprechend wird hier postuliert, dass das literarisch Phantastische nicht nur thematisch be-schrieben werden kann, sondern auch tatsächlich spezifische Genres hervorbringt. Doch was zeichnet dann solche Texte aus?

Im künstlerischen Kontext wird die Phantastik zunächst als ein Prinzip verstanden, das es ermöglicht, ungewöhnliche Weltmodelle und Wirklichkeitsvorstellungen zu generieren. Sie erschafft dabei nicht nur „gebaute, strukturierte Imagination“12, sondern steht für einen onto-logisch basierten Zweifel an der Wissenschaft, das produktive Prinzip „heterogener Kombi-natorik“13, und damit nicht nur das Erschrecken vor, sondern gleichsam den Protest gegen eine rationale Weltsicht.14 Durch Phantastik wird die Sicherheit der Weltordnung gestört oder sogar negiert; hieraus resultieren Angst, Verwirrung und Instabilität – oder eben ein Empfin-den von Freiheit.15 Sie ist als Gegenpol der Realistik aufzufassen, die auf dem Erkenntniswert beruht, den die kunsteigene Wirklichkeit in ihrer Relation zur äußeren Realität bietet.16 Die Phantastik unterscheidet sich von der Fantasie insofern, als Letztere einen erkenntnistheoreti-schen Begriff darstellt, der die künstlerische Kompetenz, Imagination und Kreativität des Menschen umfasst, das heißt Aspekte, die potenziell für jedes künstlerische Produkt, jede Gattung relevant sind, also nicht ausschließlich für die Phantastik.17 Während der Begriff

9 Horstkotte (2004), passim.

10 Zum Genrebegriff siehe Kapitel 1.3.

11 Siehe dazu beispielsweise die Fantasy-Bestseller-Liste von LovelyBooks:

www.lovelybooks.de/buecher/fantasy/Die-besten-Fantasy-Reihen-und-Serien-aller-Zeiten-Fantasy-Bestseller-464906403/ (14.03.2014); oder die Internetpräsenz von Amazon, die in ihrem Buchverkauf die Sparte „Fantasy, Science Fiction und & Vampire“ aufgenommen hat: www.amazon.de/science-fiction-fantasy-vampire/b?ie=UTF8&node=142 (14.03.2014).

12 Kesting (1975), S. 368 f.

13 Lévi-Strauss (1973), S. 24.

14 Rottensteiner (1987), S. 13 f.

15 Vgl. Lehmann (2003), S. 30.

16 Kohl (1977), S. 194.

17 Vgl. Rank (2011), S. 169.

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tionalität als literaturtheoretische Kategorie zu betrachten ist, die einen ontologischen Status von Erzählungen beschreibt,18 meint Phantastik eine Darstellungskunst.

Phantastik (oder auch Fantastik19) bezeichnet eine Darstellungskunst von Wirklichkeits-modellen, die sich ihrer Beschaffenheit und ihrem Wesen nach von der historisch-sozialen Wirklichkeitserfahrung unterscheiden.20 Phantastik ist somit die Kunst der Abweichung, die Abweichung von einer bestimmten Norm bzw. die bewusste Über-schreitung und Infragestellung derselben, sie ist damit als Ambivalenz- und Schwel-lenphänomen aufzufassen.21

Ein künstlerisches Element, das diese künstlerische und/oder bewusste Abweichung bewirkt, wird als phantastisch bezeichnet. Literatur gilt demzufolge als phantastisch, wenn jenes Wirk-lichkeitsmodell, das sich empirisch-rationalen Regeln entzieht, erzählerisch geschaffen wird.

Ein Text wird also als phantastisch bezeichnet, wenn er viele phantastische Elemente auf-weist, die dies vermögen. Das Wesen der Phantastik ist so gesehen das Spiel mit der erdach-ten Regel, der imaginiererdach-ten Norm, den sich daraus entspinnenden Konsequenzen, Implikatio-nen und SituatioImplikatio-nen. Sie ist die immer wieder neu paraphrasierte Antwort auf die Frage „Was wäre, wenn?“, die sich in einem erzählten Gedankenspiel offenbart.

Tzvetan Todorov, der die Gattungsdiskussion um phantastische Texte mit seiner im Jahre 1970 erschienenen Abhandlung angestoßen hat und bis heute maßgeblich prägt, stellt die Un-schlüssigkeit des Lesers, die phantastische Elemente ihm zufolge bei der Lektüre hervorrufen, in den Mittelpunkt seiner Definition. So grenzt er das Phantastische vom „Wunderbaren“22 ab, bei dem sämtliche Ereignisse als zweifelsfrei übernatürlich markiert sind.23 Der Eindruck des Phantastischen ergebe sich, wenn das Unmögliche, Unheimliche und Unaufgeklärte in Bezug auf Raum-, Zeit- und/oder Figuren- und Handlungskonzeption vorliegt,24 ohne dass dafür eine realistisch-logische oder übernatürlich-irrationale Erklärung geliefert wird, worauf-hin der Leser in Bezug auf die erzählten Normabweichungen unschlüssig zurückgelassen werde. Ein Text sei dann als phantastisch anzusehen, wenn die irritierenden Elemente

18 Martinez/Scheffel (2005), S. 19.

19 So zum Beispiel bei Buddecke (1993).

20 Rank (2011), S. 171.

21 Vgl. Lehmann (2003), S. 30.

22 Durst (2001), S. 99.

23 Die Erstausgabe seiner Abhandlung ist unter dem Titel Introduction à la littérature fantastique erschienen und wird nach wie vor im zeitgenössischen Forschungsdiskurs standardmäßig aufgegriffen.

24 Nach Todorov (1970) ist das rein Phantastische erst dann gegeben, wenn nicht aufgeklärt wird, ob das überna-türlich erscheinende Ereignis tatsächlich übernaüberna-türlich ist oder rational erklärbar wäre.

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kant den Gesamteindruck prägten.25 Todorov legt in seiner Definition das Augenmerk auf die Rezeption, was bei einer literaturwissenschaftlichen Analyse, die bestrebt ist, Sachverhalte am Text zu belegen, sicherlich heikel ist. Die Wirkung eines Textes ist bei der Identifizierung phantastischer Elemente immer von Bedeutung, zumal Phantastisches immer die Abweichung von einer Norm darstellt; diese modellbedingte Problematik kann nicht zur Gänze umgangen werden. Indem die Klassifizierung auf individueller Wahrnehmung basiert, ist sie zwar prin-zipiell begründbar, aber schwerlich belegbar, und deshalb als Genrezuweisung zu verstehen,26 als rekursives Urteil. Ein Text ist phantastisch, wenn er als phantastisch wahrgenommen wird, und als phantastisch wahrgenommen wird das, was die fiktionsexterne empirische Wirklich-keit27 des Rezipienten unterläuft und daher als phantastisch bewertet wird.28 Auch wenn die Identifizierung unpräzise wirkt, scheint die Begründung mithilfe konventionalisierter, als phantastisch erachteter Motive (im Sinne des Common Sense) die beste Lösung darzustellen.

Ein Gegenmodell, wie es Durst vorschlägt, das versucht, ein Bezugssystem zu begründen,

„das ausschließlich innerhalb der Texte existiert, nicht im außerfiktionalen Wirklichkeitsemp-finden des Lesers [...]“29, kann wenig überzeugen, da es bei der Definition des Wunderbaren, das sich in gleicher Weise zirkulär innerhalb der textimmanenten Realität zeigt, außer Acht lässt, dass die Kategorie Phantastik begrifflich bereits auf Wirkung, Empfindung oder Beur-teilung abhebt. Diese (modellbedingte) Problematik sei im Folgenden außen vor gelassen.

Folgende Definition soll hier als Basis dienen, die Zuordnung der Korpustexte zur phantasti-schen Literatur zu untersuchen:30

Phantastische Literatur ist der Oberbegriff für ein literarisches Genre, in dem ein alter-natives, von der Realität abweichendes literarisches Wirklichkeitsmodell entworfen wird.31 Dieses gründet sich auf phantastische Elemente (Motive, Figuren, Schauplät-ze usw.), die von einem kulturell verbundenen Rezipientenkreis als solche bewertet

25 Vgl. Abraham (2010), S. 41.

26 Siehe Kapitel 1.3.

27 Dieser Begriff ist als Gegenbegriff zur textimmanenten Wirklichkeit zu verstehen, die innerhalb der Diegese Maßstab allen Denkens ist. Er meint daher die empirische Realität.

28 Eine textimmanente Variante, phantastische Elemente in einem Text zu identifizieren, hat Durst (2001) vorge-legt.

29 Durst (2001), S. 88.

30 Auf eine klare Zuordnung zur Phantastik wird hier verzichtet. Dafür erfolgt an späterer Stelle eine Zuweisung zur Fantasy. Bei der Begründung, das Korpus der Phantastik zuzuordnen, könnten lediglich konventionell als phantastisch bewertete Elemente herangezogen werden, Dazu zählen u. a. der Verweis auf Vampire, Werwöl-fe, Zeitsprünge, übernatürliche Fähigkeiten, Magie, Parallelwelten – ein solche Analyse wäre ein wenig er-kenntnisgenerierendes Prozedere.

31 Dies hängt insbesondere vom kulturellen Kontext des Rezipienten ab.

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werden,32 das heißt, die den kulturell etablierten Realitätsbegriff samt seiner logi-schen und naturgesetzlichen Implikationen unterlaufen.33 Nach heutigem, modernem Verständnis sind dies primär Elemente, die sich rationalen Begründungszusammen-hängen, vor allem naturwissenschaftlichen Regeln entziehen und als unerklärlich, übernatürlich, unvorstellbar und daher unwirklich betrachtet werden. Dazu zählen Magie, übernatürliche Wesen, fiktionale Länder und Welten sowie zyklische Zeit-strukturen. Von phantastischer Literatur soll erst dann gesprochen werden, wenn die übernatürlichen Geschehnisse und phantastischen Darstellungsmittel eine dominante, für die gesamte Textstruktur konstitutive Bedeutung erlangen.34 Der phantastischen Literatur gegenübergestellt ist die realistische Literatur, die modellbedingt „Possible Worlds“ in ihren Narrationen etabliert, das heißt, nicht unbedingt aktuelle, aber durchaus mögliche Varianten unserer Alltagswelt.35

Im Dokument Life after Harry (Seite 72-76)