2 Jacques Lacan: Spiegelstufe und zirkuläre Welt
2.2 Z IRKULÄRE W ELTEN
Wenn man davon ausgeht, daß die Sprache den denkenden Menschen auf ihrer flachen Ebene festhält und ihm den Blick auf Außersprachliches verstellt, und wenn man weiter annimmt, daß das System der Sprache ausschließlich relational ist, jeder Begriff seine Bedeutung also allein aus der Abgrenzung zu anderen Begriffen gewinnt, dann ergibt sich daraus die Konsequenz, daß der Mensch, der sich durch die Aneignung der Sprache in ein kulturelles System einfügt, seine Identität auch nur in Ab
grenzung zu anderen Menschen erhält. Wenn der Mensch in der Sprache gefangen ist, und Sprache nur relational ist, dann ist der Mensch auch nur relational:
[T]he human subject, as he acquires speech, is inserting himself into a preexisting symbolic order and thereby submitting his libido [...] to the systemic pressures of that order: in adopting language he allows his free instinctual energies to be operated upon and organized. It is this peculiar privilege of man the languageuser to remain oblivious, while making things with words, of the extent to which words have made, and continue to make, him.51
Die Spiegelstufe beschreibt das Eintreten des Menschen in die sym
bolische Ordnung52. Das Kleinkind identifiziert sich mit seinem Spiegel
51 Malcolm Bowie, “Jacques Lacan” in Structuralism and Since: 126.
bild, das ihm eine Individualität und Autonomie vorgaukelt, die es gar nicht hat. Der Prozeß des Erkennens im Spiegel ist wieder zirkulär: das Kind projiziert sein Bild, und das Bild initiiert den Mechanismus der Identitätsfindung im Kind. Die „Spiegelstufe“ durchleben Säuglinge im Alter von sechs bis achtzehn Monaten, wo sie weder motorische Kon
trolle über ihre Körper haben, noch biologisch autonome Wesen sind: Ihr Nervensystem ist unfertig, und ihr Organismus enthält noch „certain humoral residues of the maternal organism“53, so daß sie tatsächlich frag
mentierte Menschen sind. Das eigene Spiegelbild verrät davon nichts, sondern suggeriert eine klare Abgrenzung und Autarkie, die dem Kind beim Wiedererkennen seines Selbst Freude bereitet, aber in Wirklichkeit nur eine Illusion ist.
Dieses Wiedererkennen im Spiegelbild prägt außerdem den Mechanismus, der dem Menschen die Neigung antrainiert, sich mit dem anderen zu identifizieren (denn das Spiegelbild ist etwas anderes als das Kind selbst). Mit den Worten von Jean Roussel: „Man’s first recognition of himself is a radical misrecognition; here, clearly, it can be seen that identity is a difference, that the same is an other“.54
Kulturelle’ oder ‘das Zivilisatorische’ und steht in Opposition zu Lacans Begriff des ‘Imaginären’.
53 Jacques Lacan, “The Mirrorphase as formative of the Function of the I” in New Left Review 51 (1968): 74.
54 Jean Roussel, “Introduction to Jacques Lacan” in New Left Review 51 (1968): 63.
Durch die Identifikation mit dem Spiegelbild fügt sich das Klein
kind in eine symbolische Ordnung, die der Fügung in die Sprachge
meinschaft ähnlich ist. Denn die Form des menschlichen Körpers wird durch die Identifikation mit dem Spiegelbild als Einheit manifestiert und mit einem Namen (dem Eigennamen oder dem Wort ‘ich’) versehen.
Dadurch baut das Individuum eine Beziehung zwischen sich selbst (oder dem, was es dafür hält, nämlich einem Bezeichner des Selbst in Form des Spiegelbilds oder des Wortes ‘ich’) und seiner Umwelt auf: „We are therefore led to regard the function of the mirrorphase as a particular case of the function of the imago, which is to establish a relation of the organism to its reality—or, as they say, of the Innenwelt to the Um
welt“.55
Diese Fügung des Individuums in die symbolische Ordnung vollzieht sich gleichzeitig auf sprachlicher und auf verhaltenspsycholo
gischer Ebene. Zunächst kann der Säugling nicht zwischen sich und an
deren Kindern unterscheiden. Nach der Selbsterkenntnis vor dem Spiegel unterscheidet das Kind:
The very young child’s experience of himself in relation to other children, of roughly the same age, is at first one of complete indifferentiation. A child deals a blow to another and reacts as if he had received the blow himself, or he sees another fall and cries. [...] The growth of language in the child will reflect this
state of affairs, since the child refers to himself in the third person before he accedes to the use of the first.56
Von dem Augenblick der Identifikation mit dem Spiegelbild an hat der Mensch die Möglichkeit — und nach Lacan die Neigung — sich mit dem Gegenüber zu identifizieren, oder genauer: mit dem Bild, das das Gegenüber widerspiegelt. Wir erkennen, was andere in uns sehen, und verwechseln das Widergespiegelte mit einer Selbsterkenntnis, wie der Säugling, der auf den Spiegel deutet und „ich“ sagt. Dabei handelt es sich nicht eigentlich um einen entfremdenden Prozeß wie bei Riesmanns otherdirectedness, sondern um einen ganz unumgänglichen Vorgang, der es dem Individuum ermöglicht, durch die Beziehung zu anderen Individuen Bedeutung zu erlangen — genau wie das Wort erst in Beziehung zu anderen Worten einen Sinn erhält. Trotzdem bleibt diese Identifikation natürlich eine Fehlidentifikation. Und trotzdem erinnert diese Orientierung des Individuums an dem vom Gegenüber widergespiegelten Bild an Emersons „decorum“ und das Verhalten, das zuvorderst die Erwartungen anderer zu befriedigen sucht.
Sobald sich das Individuum in die symbolische Ordnung einfügt, ist sein Selbst nicht mehr klar von der Umwelt abzugrenzen. Wenn man sich als autonomes Individuum ein Ei vorstellt, dann ist dieses Ei aufgeschlagen, und es zerfließt in alle Richtungen. Die Eierschale
56 Roussel, “Introduction to Jacques Lacan” in New Left Review: 66.
bekommt in der Spiegelphase die ersten Risse. Daher kommt Lacans Wort vom ‘hommelette’, einer Mischung aus ‘homme’ und ‘omelette’, das in der deutschen Übersetzung ‘Menschlein’ leider keinen Bezug mehr zum Bild des Eis hat. Der Mensch entsteht erst durch seine Beziehungen — er ist mehr ein Omelette als ein Ei: „A casser l’œuf se fait l’Homme mais aussi l’Hommelette“57. Sowohl in Austers Moon Palace als auch in City of Glass kommt das Ei in ganz ähnlicher Bedeu
tung vor.
Diese Identifikation mit dem anderen, mit dem Bild, das man ab
gibt, und die Folgen dieser Identifikation sind es, die als Lacansche Be
griffe in der Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden. Und dieses Bild fasziniert auch Paul Auster, der in einem Interview mit Sinda Gregory und Larry McCaffery erklärt:
The infant feeding at the mother’s breast looks up into the mother’s eyes and sees her looking at him, and from that experience of being seen, the baby begins to learn that he is separate from his mother, that he is a person in his own right. We literally acquire a self from this process. Lacan calls it the
“mirrorstage,” which strikes me as a beautiful way of putting it.
(RN 143)
57 Jacques Lacan, “Position of the Unconscious” in Reading Seminar XI. Lacan’s Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, ed. R. Feldstein et al. (New York:
Auster nutzt dieses Bild der gegenseitigen Beobachtung seiner Charaktere oft, um anzudeuten, daß sie sich (oder wir uns) gegenseitig mit einer Identität versorgen. Die Grundsituation in Ghosts, dem mittler
en Roman in Austers New York Trilogy, besteht aus zwei Personen, die auf gegenüberliegenden Seiten derselben Straße leben und sich gegen
seitig beobachten. In einem Gespräch der beiden, in dem sie einander falsche Identitäten vorspiegeln und in der dritten Person von sich sprechen, sagt Black: „He needs my eyes looking at him. He needs me to prove he’s alive“ (NYT 216). Die Schöpfung der eigenen Identität aus den Augen des Gegenübers ist darüber hinaus in allen Erzählungen Austers ein Thema, und in der Besprechung der einzelnen Werke werde ich da
rauf hinweisen.
Der Spiegel spielt nicht nur in der Literatur der American Renaissance, insbesondere bei Poe, Hawthorne und Melville eine bedeu
tende Rolle; Lacan hatte ursprünglich statt Spiegelphase (engl. mirror phase) den Namen LookingGlass Phase vorgesehen, um einen Bezug zu Lewis Carrolls Through the Looking Glass herzustellen. Dort begegnet Alice Humpty Dumpty, einem Ei mit einer eigenen Sprachphilosophie.
Auf diese Zusammenhänge und Austers beiläufiges Erwähnen eines
‘hamomelette’ (in Analogie zu Lacans ‘Hommelette’?) komme ich im Kapitel über City of Glass noch zu sprechen.
Was Lacans Welt so kausal macht, ist die Erklärbarkeit des menschlichen Verhaltens durch sprachliche Zusammenhänge, die wir seit Freud kennen.58 Kontingenz hat in dieser Welt keinen Platz: das Verhal
ten von Wakefield und die Verweigerung Bartlebys wären erklärbar — man müßte mit beiden sprechen, um die Kausalkette aufzustellen, die ihren scheinbar rätselhaften Aktionen zu Grunde liegt. Aber nicht nur auf Kontingenz wird verzichtet, sondern auch auf eine OverSoul. Zwar stimmt es mit Lacans Philosophie überein, daß die Sprache symbolisch ist und daß jeder Mensch zum Symbol wird, aber es gibt keinen Zusam
menhang zur Inhaltsseite des Symbols. Zwar sieht man überall Analo
gien, zwar kennt man die „effects of truth“, aber sie sind nur eine Scheinwelt. Die AllSeele ist nicht die Grammatik des Universums, son
dern nur eine ganz gemeine, sprachliche Grammatik.
Mir hat es sehr geholfen, für das Verständnis der Lacanschen Theorie populäre Beispiele als Anschauung zu verwenden. Man kennt aus der populärwissenschaftlichen Psychologie zum Beispiel die Theorie, daß Eltern ihre Wünsche und Erwartungen auf die Kinder projizieren. Bei Lacan wird diese Projektion zum primären Faktor der Identitätsbildung. Hier ist zwar nicht präzisiert, was Wünsche und Er
wartungen sind, und was es heißt, sie zu projizieren, aber man hat doch
58 Die Kausalketten haben natürlich naturwissenschaftlich keinen Bestand, weil sie nur post hoc funktionieren. Man kann bei aller Kausalität keine verläßlichen
eine Vorstellung vom beschriebenen Vorgang. Dieser Vorgang entspricht in etwa der Spiegelstufe.
Die symbolische Ordnung stelle ich mir als die gesellschaftliche Ordnung vor, als das kulturelle Wertesystem, in dem wir aufwachsen, die Sprache inbegriffen. Der Mensch bildet sich seine Identität durch eine Auswahl von ‘auf ihn projizierten’ Erwartungen und fügt sich so in die Gesellschaft, erhält seine Aufgabe und hat eine Bestimmung. Er wird selbst ein Teil seiner Kultur, ein Symbol im Symbolsystem oder ein Räd
chen im Getriebe.
Die Fügung des Menschen in eine Ordnung, die seine Position bestimmt, ist auch ein Hauptthema des Transzendentalismus. Nur ist die Ordnung, in die man sich hier fügt, kein menschengemachtes, kul
turelles, zivilisatorisches System, sondern die natürliche Ordnung. Den Transzendentalisten findet man in der freien Natur, dort sucht er seine Position, und statt zum Rädchen im Getriebe wird er zum Menschen. Die Natur ist kein kulturelles Produkt, und laut Transzendentalismus ist die Verbindung des Menschen zur Natur so stark, daß sie ihm die Macht gibt, die kulturelle Prägung der Sprache zu entkräften: der Dichter erfin
det die Sprache mit Hilfe der Natur neu. Das Individuum, das Lacan dagegen vor Augen hat, bewegt sich in der Stadt; es ist rundum nur von Zivilisation umgeben.
Bei den Transzendentalisten ist oft nicht klar, wie weit die Zivilisation als mittelbar natürlich auch noch Zugang zur AllSeele bringt. Auf der einen Seite entspringt die Zivilisation der Natur des Menschen, und ihre Dynamik kann inspirativ wirken. Andererseits nei
gen die Institutionen des gesellschaftlich organisierten Zusammenlebens dazu, zu erstarren und die Menschen gefangenzuhalten. Bei Auster fügen sich die Charaktere immer in eine Ordnung, die sie dazu zwingt, sich dieser Frage zu stellen. Sie wabern zwischen Stadt und Natur, zwischen der Annahme, daß ihre Wahrnehmung der Dinge kausales Produkt psy
chologischer und sprachlicher Assoziationen ist, und der Annahme, daß sie Zugang zu etwas Höherem gefunden haben. Das Erkennen meta
physischer Zusammenhänge ist bald transzendentalistisch und birgt Chancen der Erneuerung, bald ist es unheimlich und wird zum Zeichen für den wachsenden Wahnsinn der Protagonisten.
Im folgenden Kapitel werden die drei Romane in Austers New York Trilogy auf ihre Positionierung innerhalb dieser symbolischen Ord
nungen hin untersucht. Um die typische Art der Anspielung auf die ver
schiedenen Prätexte erkennbar zu machen, wird in der Analyse des ersten Romans in einzelnen Abschnitten nach Prätexten getrennt verfahren, so daß zuerst die Anspielungen auf die Transzendentalisten, dann auf Poe und Melville und schließlich auf Lacan untersucht werden.