erlebnis: Sehen und Sein
1.5 H ERMAN M ELVILLE
1.5.1 Melvilles ConfidenceMan: „the truth, or what appears to be such“
Die Schwierigkeit von The ConfidenceMan besteht darin, daß die formale Anlage des Buchs dem Thema angepaßt ist. Das Thema ist die Auseinandersetzung mit dem Unterschied von Schein und Wirklichkeit oder die Unmöglichkeit, die Dinge zu erkennen, wie sie sind. Inhaltlich wird dieses Thema durchgeführt, indem ein immer wieder anders mas
kierter Mann (der „ConfidenceMan“) den Passagieren predigt, sie soll
ten gläubig sein und wie gute Christen handeln. Dabei verfolgt der
„ConfidenceMan“ aber stets egoistische Ziele und hat es oft darauf abgesehen, den Leuten ihr Geld abzuknöpfen. Zum Beispiel präsentiert er in der Gestalt des Mr. Truman ein großes Buch, das für die Bibel ge
halten werden soll, aber tatsächlich ein Aktienregister ist: „Charity is one thing, and truth is another. [...] Looks are one thing, and facts are another“ (10: 14), sagt einer der Passagiere des Schiffs.
Der Scheincharakter dieser Welt, in der Nächstenliebe und Christentum nicht von Geldschneiderei und freier Marktwirtschaft zu unterscheiden sind, wird formal dargestellt, indem der Erzähler seine Allwissenheit haupsächlich dadurch beweist, daß er zugesteht, auch nicht so genau zu wissen, was nun wirklich stimmt und was nicht. Gary Lindberg schreibt über ihn: „[the narrator’s] hesitant style abounds in
double negatives and phrases of uncertainty, especially when it is
‘describing’ immediate appearances“36. Viele der Charaktere haben keinen Namen, was den Leser zusätzlich verunsichert und ihm die Lektüre des Buchs erschwert. Aber andererseits wird das Buch dadurch amüsant und läßt viele Interpretationen zu. Die Unsicherheit des Erzähltons reicht von kleinen Formulierungen wie „the truth, or what appears to be such“ (10: 38) bis zu Kapitelunterschriften wie „Worth the consideration of those to whom it may prove worth considering“ (10:
69).
Die Figuren des Mark Winsome und seines Schülers Egbert sind höchstwahrscheinlich Karikaturen von Emerson und Thoreau.37 Die beiden (Winsome und Egbert) glauben an das Gute im Menschen — und an das Gute in der Marktwirtschaft — und sie werden von Frank Goodman bloßgestellt. Daß sie für Emerson und Thoreau stehen sollen, scheint auch plausibel, weil Emersons Glaube an Entwicklung und Fortschritt der Menschheit ihm den Ruf eingetragen hat, Kapitalismus und Expansionismus zugearbeitet zu haben38. Melvilles Kritik zielt auf
36 Gary Lindberg, The ConfidenceMan in American Literature (New York: Oxford University Press, 1982): 19.
37 Vgl. „Critics agree that [Mark Winsome] is drawn, both in physique and philosophy, from the Transcendentalist luminary and wellknown writer and lecturer Ralph Waldo Emerson. Another passenger, Winsome’s ‘practical disciple’
Egbert [...] is [...] drawn from Henry David Thoreau“ in Harrison Hayford ,
“Historical Notes” in The Writings of Herman Melville, (Evanston: Northwestern University Press, 19681993)., 10: 285.
38 Für Emerson fiel auch die Ökonomie unter das dynamische Prinzip der Natur, so
den ökonomischen Pragmatismus Emersons und auf seinen festen Glauben an eine natürliche Ordnung der Dinge und die Verankerung dieses Glaubens im Alltäglichen:
“Because, since the common occurrences of life could never, in the nature of things, steadily look one way and tell one story, as flags in the tradewind; hence, if the conviction of a Providence, for instance, were in any way made dependant upon such variabilities as everyday events, the degree of that conviction would, in thinking minds, be subject to fluctuations akin to those of the stockexchange during a long and uncertain war.” (10: 66) Diese Aussage des „Merchant“ artikuliert nicht nur Melvilles Kritik am Glauben an die Fortschrittlichkeit der Ökonomie (indem sie christliche Vorstellungen mit ökonomischen Metaphern beschreibt und so ironisiert), sondern sie kritisiert auch den Glauben an eine Ordnung überhaupt, die unserem Alltag Sinn gibt und ihn interpretierbar macht.
Der Merchant plädiert für die Annahme, daß das alltägliche Leben der Menschen vom Zufall bestimmt ist.
Die Kontingenz und die Unmöglichkeit, Geschehnisse zu inter
pretieren und ihre Ursache in einer metaphysischen Quelle zu finden, führt zur Unsicherheit im Umgang mit der Welt. Das drückt Melville
daß das Streben nach Geld Kreativität freisetzen und insofern gut sein kann. So erklärt sich auch „Emersons reiche Verwendung ökonomischer Metaphern“
(Dieter Schulz, Amerikanischer Transzendentalismus: 63. Siehe auch Kapitel 3 des Buchs von Schulz, „Emersons geschäftstüchtige Seele“, für eine ausgewogene
durch seinen zögernden Erzähler aus. „The danger for both characters and readers is to leap too quickly into a comforting belief, to give unconditional confidence in a conditional world“.39
Auster legt zwar im Gegensatz zu Melville kein Glaubensbeken
ntnis ab (oder besser: Unglaubensbekenntnis), denn er spielt gerade mit Glaubensfragen. Aber besonders in City of Glass, dem ersten Teil seiner New York Trilogy, verwendet Auster Melvilles Technik des unsicheren Erzählers und macht dem Leser eindeutige Interpretationen schwer: Der Erzähler gesteht in regelmäßigen Abständen zu, selbst nicht sicher zu sein. (Zum Beispiel „On the other hand, nothing is clear“, „There was no way to know: not this, not anything“, „He had to admit that nothing was sure“ und so weiter).
Stillman Senior, von dem in City of Glass zwei identische Ver
sionen auftauchen, so daß man bis zum Ende nichts über die Identität dieses Charakters weiß, ist mit seinem Selbstvertrauen und dem Glauben an seine eigene Genialität sicher eine Karikatur Emersons, ähnlich wie Mark Winsome in Melvilles ConfidenceMan. Stillman stellt sich selbst bloß. Darüber hinaus spielt für Auster natürlich die Idee der Kontingenz, eines unbedingten, ontologischen Zufalls, eine wichtige Rolle als Alternative zum Transzendentalismus. Denn Austers Erzählungen fragen alle danach, ob man Vertrauen in die wahrgenommenen Zusammenhänge
39 Lindberg, The ConfidenceMan in American Literature: 25.
haben darf, oder ob dieses Vertrauen eine leichtgläubige Fehlinterpretation zufälliger Begebenheiten wäre: „Chance? Destiny? Or simple mathematics, an example of probability theory at work?“ (RN 119).