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2 Jacques Lacan: Spiegelstufe und zirkuläre Welt

2.1   A LLES   IST  S PRACHE

„Lacan reads Freud. This is the simplest and most important thing about  him“42, schreibt Malcolm Bowie. Dem Freudschen Weltbild fügt Lacan  eine logisch zirkuläre aber kausal geschlossene Grundlage hinzu.

Freud beschäftigte sich mit dem Unbewußten. In einem Klassiker  der Psychoanalyse liest man sogar: „Wollte man die Freudsche Entdeck­

ung in einem Wort zusammenfassen, so wäre es das des ‘Unbewußten’“43 . Das Unbewußte ist nach Freud diejenige seelische Instanz, die den  wahren   Absichten   und   Gefühlen   (den   Triebrepräsentanzen)   des  Menschen Ausdruck verschafft, wobei es die Zensur des Über­Ichs durch  Symbolisierung  überlistet:  die  wahren  Absichten  und   Gefühle  mani­

festieren sich oft in scheinbaren Fehlleistungen oder Störungen, sind also  nicht bewußt geplant und daher auch nicht durch das Über­Ich kontrol­

lierbar. 

Dabei geht Freud wie selbstverständlich davon aus, daß das Un­

bewußte seine Kodierung der heiklen Inhalte mit sprachlichen Mitteln  vornimmt. Ein Beispiel hierfür erinnert Lacan in seiner Arbeit über „The  Insistence of the Letter in the Unconscious“:

42  Bowie, “Jacques Lacan” in Structuralism and Since: 116.

43  Laplanche und Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Deutsch von Emma 

[...] let me cite the article on fetishism of 1927, and the case  Freud   reports   there   of   a   patient   who,   to   achieve   sexual  satisfaction, needed something shining on the nose (Glanz auf  der Nase); analysis showed that his early, English­speaking years  had seen the displacement of the burning curiosity which he felt  for the phallus of his mother, that is for that eminent failure­to­be  the priviliged signification of which Freud revealed to us, into a  glance at the nose  in the forgotten language of his childhood  rather than a shine on the nose.44

Wenn man Freuds Analyse Glauben schenkt, hat also in diesem Fall das  Urtrauma des fehlenden Phallus der Mutter über den Blick auf deren  Nase („glance at the nose“) folgendes bewirkt: der Blick auf die Nase  wurde   versprachlicht.   Auf   der   Ebene   der   Sprache   wurde   —   rein  phonetisch — der englische Begriff ‘glance’ zum deutschen ‘Glanz’ ver­

schoben, der keine erkennbare Spur zum Urtrauma mehr aufweist und  daher nicht unter die Zensur des Über­Ichs fällt. Dieser Begriff des 

‘Glanzes’ wurde dann unbewußt von der rein sprachlichen Ebene ab­

gelöst und zum realen Fetisch: Der Patient brauchte für seine Befriedi­

gung nicht etwa den sprachlichen Ausdruck ‘Glanz’, sondern den real  vorhandenen Glanz auf der Nase. Im Endeffekt kann also der bewußte  Teil des Menschen nicht zwischen Sprache und Realität unterscheiden.

Lacan bringt nun die logische Rechtfertigung dafür, daß Freud  aufgrund sprachlicher Zusammenhänge das menschliche Verhalten und 

44  Jacques Lacan, “The Insistence of the Letter in the Unconscious” in Modern  Criticism and Theory: A Reader, ed.. David Lodge (London: Longman, 1993): 100.

die Struktur des Unbewußten erklärt. Freud hatte die grundlegende Funk­

tion der Sprache bei seiner Interpretation nie hervorgehoben (im Gegen­

teil: was zum Beispiel die Erklärung des ‘Freudschen Versprechens’ an­

geht, widersprach er den linguistischen Ansätzen seiner Zeitgenossen  Meringer   und   Mayer,   die   Versprechen   für   artikulatorische   oder  phonetische Interferenzerscheinungen hielten). Um Freuds Erklärungen  des Verhaltens und Fehlverhaltens auf eine solide Grundlage zu stellen,  postuliert Lacan, daß das Unbewußte die Struktur der Sprache habe. 

Weder das Bewußtsein noch das Unbewußte kann zwischen Sprache  (dem Wort ‘Glanz’ zum Beispiel) und Realität (dem realen Glanz) unter­

scheiden.45

Damit hat aber die Realität einen eigenartigen Status und ist,  jedenfalls für den Menschen, nicht erkennbar: „the Real comes close to  meaning ‘the ineffable’ or ‘the impossible’ in Lacan’s thought“46. Man  kann bestenfalls noch von dem semantischen Konzept einer ‘Realität’ 

sprechen, aber damit hat man sich von der Ebene der Sprache nicht ent­

fernt. Man kann die Welt nicht in Worte fassen. Wenn man etwas in  Worte faßt, so ist es nicht die Welt, sondern es sind lediglich Worte über 

45  Es scheint unmöglich, daß man dann überhaupt von einer Unterscheidung von  Welt und Sprache sprechen kann, wenn man gar nicht fähig ist, einen Unterschied  zu erkennen. Aber man kann von diesem Unterschied sprechen. Mit der Realität  hat das zwar nichts zu tun, aber die Realität ist ohnehin nach Lacan nicht  zugänglich.

‘die Welt’, die die Illusion produzieren, daß man über einen außersprach­

lichen Inhalt redete. Die Sprache ist zwar ein Produkt des Menschen,  aber genauso ist die Welt (und damit der Mensch selbst) ein Produkt der  Sprache: „the Real is given its structure by the human power to name“47.  Wenn die ‘Realität’ also Rückschlüsse zuläßt, dann höchstens auf die  Sprache oder das Unbewußte des Sprechers. 

Bei dieser Schlußrichtung von der ‘Welt’ auf den Zustand des  Individuums, das die Welt wahrnimmt, fühlt man sich ein wenig an den  Transzendentalismus erinnert, und an Emersons Formulierung: „I—this  thought which is called I—is the mould into which the world is poured  like melted wax. The mould is invisible, but the world betrays the shape  of the mould“ (196). Lacans Weltsicht entbehrt aber im Gegensatz zum  Transzendentalismus   jeder   metaphysischen   Grundannahme  (über   die 

‘Physis der Sprache’ hinaus gibt es keine weitere ontologische Ebene48),  ist aber dafür zirkulär: Der Mensch schafft die Sprache, und die Sprache  schafft den Menschen. Lacan richtet sich bewußt gegen die Metaphysik  und schreibt: „the claims of the spirit would remain unassailable if the  letter had not in fact shown us that it can produce all the effects of truth  in man without involving the spirit at all“.49 

47  Bowie, “Jacques Lacan” in Structuralism and Since: 133.

48  Es ist genaugenommen auch eine metaphysische Annahme, von einer 

Unzugänglichkeit der Welt auszugehen. Es ist eine negative Metaphysik, die ich  als Fehlen metaphysischer Annahmen bezeichne.

49  Lacan, “The Insistence of the Letter in the Unconscious” in Modern Criticism 

Das bei Freud noch vage Stadium der Vermittlung zwischen der  sprachlichen   Verschiebung   zensierter   Triebrepräsentanzen   und   dem  realen Verhalten ist nun präzisiert, da nicht nur das Bewußtsein, sondern  auch das Unbewußte auf sprachlichen Bahnen funktioniert; zwischen  Verhalten,   Welt   und   Unbewußtem   besteht   kein   ontologischer  Unter­

schied, den wir erkennen könnten. Alles ist für uns nur auf sprachlicher  Ebene vorhanden. Um begründen zu können, wie die Sprache sich selbst  erklärt (ohne die Existenz einer Wirklichkeit zu implizieren), integriert  Lacan die Theorie Saussures, derzufolge sprachliche Konzepte und se­

mantische Kategorien nicht in der Wirklichkeit verankert sind, sondern  sich nur aneinander orientieren und ein ontologisch flaches, relationales  System bilden: ein Wort läßt sich in einem Lexikon durch andere Worte  definieren  —   es   steckt   kein   Ding  an   sich   dahinter,   dem  das   Wort  entspricht. David Lodge faßt die Kombination von Freud und Saussure  wie folgt zusammen:

The points that emerge with most force from this [...] discourse  are:   (1)   that   there   is   no   getting   outside   language,   and   that  language is innately figurative, not transparently referential; (2)  that the human subject is constituted precisely by the entry into  language, and that the Christian­humanist idea of an autonomous  individual self or soul that transcends the limits of language is a  fallacy and an illusion.50

and Theory: A Reader: 91.

Philosophisch betrachtet ist diese Formulierung nicht ganz richtig, da die  Idee einer Seele kein logischer Schluß ist (sondern ein Axiom) und damit  auch kein Fehlschluß sein kann. Neutral formuliert könnte man sagen,  daß Lacan im Gegensatz zur christlich­humanistischen Tradition statt  eines metaphysischen Systems mit unterscheidbaren ontologischen Eben­

en ein rein kausal­logisches Konzept aufbaut, das ohne metaphysische  Axiome auskommt, ohne das Axiom einer übergeordneten Realität und  das einer Seele, die diese Realität erkennen kann — das dafür aber  zirkulär ist.

Wenn in Austers City of Glass  die Emerson­Karikatur Stillman  durch Veränderung der Sprache die ‘Welt’ verändern will, so kann sie  das nach Lacanscher Theorie durchaus bewerkstelligen, denn Sprache  und ‘Welt’ sind weitgehend synonym. Auch zeigt uns Stillman, daß alles  Sprache ist, indem seine Spaziergänge durch New York sich auf dem  Stadtplan in Buchstaben verwandeln.

David Lodge (London: Longman, 1993): 80.