erlebnis: Sehen und Sein
1.3 E DGAR A LLAN P OE
1.3.1 Poe, written self, writing self und die Lesbarkeit des Menschen
Poe liebt es, die Rolle des Autors so zu verschleiern, daß die fiktive Kon
struktion seiner Erzählungen nicht mehr greifbar ist. Ein extremes Beispiel dieser Technik findet sich etwa in The Narrative of Arthur Gordon Pym, in dessen Vorwort die Autorschaft des Romans verkom
pliziert wird, bis man den Überblick verliert. Auf der allerersten Seite, die dem Roman vorgeschaltet ist wie eine Information des Verlegers, erklärt ein gewisser „A. G. Pym“ (dessen Name dem Poes verdächtig ähnelt), daß er nur teilweise für den folgenden Text verantwortlich sei. Er habe haarsträubende Abenteuer erlebt, erklärt er, und man habe ihm angeraten, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Er möchte aber aus vier
Gründen nicht zum Autor seiner Erlebnisse werden: erstens, und typisch für Poe, aus rein privaten Gründen, die dem Leser nicht mitgeteilt werden. Zweitens fürchtet er, aus dem Gedächtnis nicht genug Details für eine glaubhaft wirkende Erzählung reproduzieren zu können: „I feared I should not be able to write, from mere memory, a statement so minute and connected as to have the appearance of that truth it would really possess“ (CWP 1: 55). Drittens werde ihm sowieso niemand glauben, weil die Erlebnisse wirklich unglaublich gewesen seien. Der vierte Grund besteht in „a distrust in my own abilities as a writer“ (CWP 1: 55).
Auch das Argument eines gewissen „Mr. Poe, lately editor of the Southern Literary Messenger“ (CWP 1: 55), daß der Text nur glaubwür
diger sei, wenn er ein paar Ungereimtheiten enthielte, vermag Pym nicht zu überzeugen. Dann schlägt Poe vor: „that I [Pym] should allow him [Poe] to draw up, in his own words, a narrative of the earlier portion of my adventures, from facts afforded by myself, publishing it in the Southern Messenger under the garb of fiction. To this [...] I consented, stipulating only that my real name should be retained.“ (CWP 1: 56). So kommt es also, daß der fiktive Poe den Beginn der Geschichte für Pym aufschreibt und ihn als frei erfunden kennzeichnet. Als das Publikum diesen Text aber trotzdem für wahr hält, entschließt sich Pym, selbst weiterzuschreiben und seinen Namen nun nicht weiter zu verheimlichen.
Tatsächlich ist die Sache natürlich einfach: Poe ist der wahre Autor, und Pym ist eine Romanfigur. Poe benutzt seinen eigenen Namen als Namen einer fiktiven Person. In der Fiktion ist es komplizierter: dort ist Pym genauso der wahre Autor wie auch Poe. Das written self, das als Rekonstruktion des Autors durch den Leser entsteht, ist auf dieser Ebene gespalten. Poe und Pym haben beide Teil an der Produktion des Textes, und die Leser können (wenn man die fiktive Situation der Autorschaft zu Grunde legt) unmöglich zwischen Poe und Pym unterscheiden — wenn sie die Person eines Autors rekonstruieren, so muß diese eine Chimäre aus Poe und Pym sein. Der Leser wird gesondert darauf hingewiesen, wenn Pym zum Schluß seiner Vorbemerkung erklärt: „This exposé being made, it will be seen at once how much of what follows I claim to be my own writing; and it will also be understood that no fact is misrepresented in the first few pages which were written by Mr. Poe“ (CWP 1: 56). Aber Pym und Poe sind anhand des Textes überhaupt nicht voneinander zu un
terscheiden, schon gar nicht auf Anhieb. Und der erste Satz der Erzählung von Pyms Erlebnissen — ein Satz, der den letzten Worten des Exposés folgend vom fiktiven Poe geschrieben wurde — lautet: „My name is Arthur Gordon Pym“ (CWP 1: 57).
Schon die Autorschaft dieses Satzes ist nicht zu klären. Es ist der erste Satz, also sollte er von Poe stammen, da Pym gerade von „the first few pages“ gesprochen hatte, „which were written by Mr. Poe“.
Andererseits wollte Pym zunächst seinen Namen unerwähnt wissen, so daß völlig unklar ist, warum Poe als ersten Satz diesen Namen ins Spiel bringen sollte. Ist der Name „Pym“ auch in der Fiktion fiktiv? Haben sich Poe und Pym auf ein Pseudonym geeinigt? Oder hat Pym diesen Satz selbst geschrieben und nachträglich eingefügt? Man weiß nicht, wer schreibt. Und übrigens weiß man auch nicht, was aus Pyms obskuren privaten Gründen geworden ist, die ihn zunächst davon abhielten, seine Geschichte aufzuschreiben.
Dennis Pahl erklärt: „Poe thus dramatizes his own disappearance, his ‘death,’ in writing“.21 Auster kopiert diese Technik in City of Glass, wo er auch als Figur in der eigenen Erzählung auftaucht und vor allem am Ende des Romans die Autorschaft problematisiert. Auster dient diese Technik wie Poe dazu, den Autor als subjektiven Filter zu variieren, der zwischen den Geschehnissen und der Erzählung steht. Der Autor wird vom Leser als notwendige Ursache des Textes rekonstruiert — oder besser: das written self wird so konstruiert. Vom writing self weiß man nichts. Aber selbst die Konstruktion des written self wird zum Möbius
band, wenn das writing self (zumindest dem Namen nach) in der Fiktion auftaucht. Die Person des realen Autors und die Persona des vom Leser anhand des Textes rekonstruierten Autors passen nicht gleichzeitig ins
21 Dennis Pahl, Architects of the Abyss: The Indeterminate Fiction of Poe, Hawthorne, and Melville (Columbia: University of Missouri Press, 1989): 43.
Bild, und der Leser muß sich entscheiden, ob er den Text für wahr oder den wahren Autor für Text halten soll.
Auch Poes „MS Found in a Bottle“ spielt mit diesem Möbius
band. Anders als bei The Narrative of Arthur Gordon Pym gibt es keinen Überfluß an Erzählern, sondern eigentlich gar keinen: der Erzähler ist nur als Text vorhanden, er läßt sich nur aus den Worten der Flaschenpost rekonstruieren. Genauso verhält es sich mit Austers Fanshawe in The Locked Room, der dem Leser stets als Text begegnet — in Form seiner Briefe und Romane, in Erzählungen seiner Frau Sophie oder schließlich als Stimme hinter einer Tür. Der Autor wird zum Bild seines Selbst in der Öffentlichkeit.
Auster nutzt nicht nur Poes Technik der Verschleierung der Autorschaft. Wie man automatisch versucht, aus dem Text den Schöpfer des Texts zu erkennen (wie sagt Black in Austers Ghosts so schön? „We always talk about trying to get inside a writer to understand his work better. But when you get right down to it, there’s not much to find in there“; NYT 208), kann man auch umgekehrt versuchen, einen Menschen aus Fleisch und Blut zu lesen. Austers Figur Quinn in City of Glass entziffert Buchstaben in den Spaziergängen des verrückten Sprach
forsches Peter Stillman Senior. Hier wiederholt Auster Poes Idee in „The Man of the Crowd“. In Poes bekannter Erzählung, die Walter Benjamin im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Einflusses von Poe auf
Baudelaire „das Röntgenbild einer Detektivgeschichte“22 nennt, folgt der Erzähler einem geheimnisvollen Fremden durch die Menschenmenge Londons. Der Fremde geht verschlungene Wege, bewegt sich ziellos durch die Straßen, „refuses to be alone“ (2: 515). Ein Verbrechen geschieht nicht, aber die Unfähigkeit, ein Muster oder Ziel im Verhalten des Fremden auszumachen, bedrückt. Seine Handlungen scheinen irre:
„He entered shop after shop, priced nothing, spoke no word, and looked at all objects with a wild and vacant stare“ (2: 513). Der Erzähler folgt eine ganze Nacht und den kommenden Tag hindurch bis zum Abend, bis er schließlich, „wearied unto death“ (2: 515), von seinem Vorhaben abläßt, den Fremden lesen zu lernen.
Die Erzählung ist zu Beginn und am Schluß in die Worte „er lasst sich nicht lesen“ (2: 506 und 515) gefaßt. Aus den Handlungen eines an
deren läßt sich hier nicht auf dessen Gedanken schließen. Die buch
stabenförmigen Bewegungen des verrückten Stillman in Austers City of Glass lassen sich zwar lesen, was ein direkter Kontrapunkt zu Poes „Man of the Crowd“ ist. Aber auch aus den Worten auf dem Stadtplan kann man nicht auf Stillmans Ziel schließen. In Austers Roman begeht die Figur, die sich sicheren Schritts scheinbar ziellos durch die Stadt bewegt, Selbstmord. Mit dem Tod des Beobachteten verschwindet auch Quinn,
22 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des
Hochkapitalismus, ed. Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969): 50.
der Beobachter, der nun überflüssig ist, da es nichts mehr zu beobachten gibt.
Poes „Man of the Crowd“ hat einen Erzähler, sollte man dazusagen, dem man nicht trauen kann: er ist rekonvaleszent, noch nicht auf der Höhe seiner Gesundheit, und „in one of those happy moods [...when] the intellect, electrified, surpasses [...] greatly its everyday condition“ (2: 507). Es ist also letztlich nicht sicher zu sagen, ob das Spazieren des Fremden wirklich irre ist oder ob der Irrsinn in der Wahrnehmung des Erzählers liegt. Auch Auster betont, daß zwei Menschen notwendig sind, um die Handlungen des einen zu beurteilen.
Seine Figur Quinn sitzt erstaunt vor dem Satz „The Tower of Babel“, den er anhand der Spaziergänge Stillmans auf einem improvisierten Stadtplan von New York in seinem Notizbuch selbst eingezeichnet hat, und fragt sich, ob diese Hieroglyphen auch außerhalb seiner Einbildung existieren: „And yet, the pictures did exist—not in the streets where they had been drawn, but in Quinn’s red notebook“ (NYT 86). Stillman ging spazieren, und Quinn beschrieb die Spaziergänge auf dem Papier. Erst im Zusammenspiel der beiden entsteht das Unheimliche.
Angesichts der Zeichen in der Umgebung suchen Poes Protagonisten (etwa in The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket) nach dem Autor oder dem written self. Ein Teil der unheim
lichen Stimmung kommt aus der Unsicherheit darüber, ob das written
self ein Mensch sein kann oder nicht; die Hieroglyphen könnten auch natürlich eruptiv entstanden sein. In diesem Fall müßte man hinter den scheinbar zufälligen natürlichen Prozessen den Plan einer vernunft
begabten Entität vermuten. Umgekehrt unterstellt man einem Menschen immer zielgerichtetes Handeln (oder doch zumindest die Begabung zur Vernunft), so daß es unheimlich wird, wenn man daran zweifeln muß.
Die Wege des „Man of the Crowd“ durch die Stadt scheinen zufällig wie der Weg eines Blattes, das vom Baum fällt.