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XXV scheuen Rigorismus auf geselligem Gebiete. Die christliche Beurteil

Im Dokument CHRISTLICHE SITTENLEHRE. (Seite 24-51)

ung und Gestaltung der g e s e l l i g e n U n t e r h a l t u n g , des S p i e l e s , der

§. 118· Das I d e a l des staatlichen Lebens oder der vollendete Staaten­

bund als Verwirklichung des Η umanitätsgedankens. Der Gegensatz des heidnischen und jüdischen Volksideals. Die Aufhebung der sündigen und zeitlichen Momente im Rechtsorganismus und die Bewahrung der

volkstümlichen Gliederung im geistleiblichen Organismus der gotter­

lösten Menschheit. — U9- Die volkstümliche H o f f n u n g des Chri­

sten in ihrer Wirkung auf seine irdische staatsbürgerliche Berufsstellung.

Die Gefahren der naturalistischen Ueberschätzung und pietistischen Unterschätzung der patriotischen Volksideale. Die christliche Gemein-schaftshoffnung im Hinblick auf das ewige V a t e r l a n d . —

Dritter Abschnitt. Die Betätigung christlichen Heilslebens in der religiös-sittlichen oder kirchlichen Gemeinschaftsform. §. 120—127.

Cap. 1. D e r Ii e i l s g e s c h i e b t Ii с he U r s p r u n g der c h r i s t l i c h e n K i r c h e oder die N e u g e b u r t der K i r c h e a l s B a s i s des c h r i s t ­ l i c h - k i r c h l i c h e n G l a u b e n s . §. 120 — 122.

§. 120· Die wunderbare N e u g e b u r t der Kirche oder die gottmenschliche Genesis des Himmelreiches auf Erden (ethische Bedeutung des Pfmgst-wunders). Die sittlichen Gefahren bei der magischen oder dynamischen, romanisirend - hierarchischen. und sectirerisch - schwärmerischen Auf­

fassung der Entstehung der Kirche. Die o r g a n i s c h e n Bildungs- und Wachsthumscleiucnte des Leibes Christi in der Wort- und Sacraments-verwaltung (Stiftung des kirchlichen Amtes). — §. 121· Die sittliche Idee (Urgestalt) der Kirche als der sichtbar-unsichtbaren G e m e i n ­ s c h a f t des G l a u b e n s (fides qua creditur). Die innere Notwendigkeit und sittliche Berechtigung kirchlich confessi noller В е к en ut η i s s -b i l d u n g gegenü-ber den Extremen des hierarchischen (o-bjcctivistischenl

Traditionalismus und des seetirerischen (subjectivistiseheni Indcpenden-tismus. Das Formal- und Materialprincip der kirchlichen Glaubensent­

wickelung in seiner socialethischen Bedeutung.—§. 122· Die k i r c h ­ l i c h e Pietät, oder der k i r c h l i c h e G l a u b e des Christen im Hinblick auf den heilsgeschichtlichen U r s p r u n g und die gottgesetzte Grundlage der Kirche, als der geistlichen M u t t e r alles christlichen Lebens. Die sittlichen Gefahren des gesetzlichen (schablonenhaften) Orthodoxismus und der willkürlichen (subjectivistischen) Heterodoxie. Die freie Gebunden­

heit und die Individualisirung der kirchlichen Glaubensentwickelung. — Cap. 2. D i e c o n c r e t - g e s c h i c h t l i c h e L e b e n s b e w e g u n g der K i r ­

che in d i e s e r W e l t und d i e k i r c h l i e h e L i e b e s t h ä t i g k e i t des C h r i s t e n . §. 123—125.

8 123· Die Kirche a l s o r g a n i s i r t e H e i l s an st a l t und ihre empirische zeitliche Erscheinungsform im K i r c h e n t h u m . Die ethische Unterscheid­

ung des Heilsordnungsmässigen und Kirchenordnungsmässigen im christ­

lichen Gemeinleben, gegenüber den Extremen des kirchenstaatlichen For­

malismus und des freikirchlichen Idealismus. Die confessionelle Ausge­

staltung des Kirchenthums in L e h r e und С u 11 u s, Z u c h t und M i s s i o n , V e r f a s s u n g und K i r c h e n r e g i m e n t . — §. 124· Der sittliche Beruf kirch­

licher A m t s t r ä g e r und die Stellung der sogenannten k i r c h l i c h e n O b ­ r i g k e i t . Die Extreme des teocratisch-centralisirenden Hierarchienms (schroil'er Gegensatz des clericalen und Laienstandes) und des democratisch-nivellirenden Congregationalismus (Gemeindeprincip). Die etiiischenGrenzen und die sittliche Berechtigung kirchlicher Amtstätigkeit und

Disciplinarge-walt. — §. 125· Die k i r c h l i c h e L i e h e (Theilnahme undMitteilung) der Confessionsgenossen oder die practische Bethätigung des allgemeinen Priesterthums. Die kirchliche Toleranz und kirchliche Entschiedenheit gegenüber den Extremen des bekenntnissüchtigen C o n f e s s i o n a l i s m u s und bekenntnisscheuen U n i o n i s m u s . Der kirchliche Gemeinsinn in seiner s p e c i e l l e n Bewährung nach innen (Erbauung, Theilnahme am kirchlichen Gottesdienst, Sonntagsheiligung, kirchliche Liebeswerke, Ver­

einswesen) und nach a u s s e n (kirchliche Propaganda, innere und äussere Mission).

C a p . 3. D i e s c h l i e s s l i c h e V o l l e n d u n g der K i r c h e a l s B a s i s d e r k i r c h l i c h e n E e i c h s h o f f n u n g des C h r i s t e n . §. 126. 127.

8· 126· Die sittliche Idee der triumphirenden, universellen Herrlich­

k e i t s k i r c h e gegenüber der streitenden Kreuzkirche auf Erden. Die gefahrdrohenden Extreme der materialistischen Verweltlichung und spiri-tualistischen Verhimmelung des kirchlichen Ideals. Die letzte Krisis für die Kirche und die schliessliche Verherrlichung durch dieParusie des Herrn (die socialethische Bedeutung des Chiliasmus gegenüber dem ju­

daisirenden Realismus des israelitischen Volkskirchenthums und dem ethni-sirenden Idealismus des blossen Humanitätskirchenthums). — §. 127·

Die kirchlich-eschatologische Reichshoffnung des Christen in ihrer ethischen Bedeutung. Die Gefahren des chiliastischen und des personal­

christlichen Eudämonismus. Die Vollendung aller christlich - kirchlichen Ideale im Organismus der c i v i t a s Dei. —

D r u c k f e h l e r - V e r z e i c h n i s » (für p. 1—388).

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8 Zeile 15 von unten lies : m e i n e m statt: meinen.

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55 „ 19 ·» ·· „ s e l b s t n o r m i r e n d e statt: selbstnormirende

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bessert, statt: , bessert, d e r a l s statt: als der.

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248 „ 4 „ oben s o c i a l e t h i s c h e statt: social-cthisch.

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h ü l l e n statt: hüllt.

E i n l e i t e n d e s V o r w o r t .

w enn irgend eine Zeit dazu angethan ist, ein tieferes Ver-ständniss für die Bedeutung dos Gemeinschaftsfactors in dem Gesammtgebiete sittlicher Lebensbethätigung anzubahnen, so ist es ohne Zweifel die gegenwärtige. Insbesondere waren es die unvergesslichen Kriegsjahre an der Spitze unseres Jahrzehnts, welche den mühselig sich abarbeitenden Theoretiker mit einer Fülle socialethischen Materials wundersam bereicherten. Sie re­

deten deutlicher, als alle wissenschaftlichen Argumentationen.

Sie predigten gewaltiger, als alle theologischen Deductionen.

Dass in dieser Zeit die Wahrheit des grossen Gesetzes der Solidarität mit Blut geschrieben ward, ja dass vielleicht noch Ströme von Blut werden fliessen müssen, um den Menschen jene Wahrheit fassbar und verständlich zu machen, kann uns wohl mit Angst und Schrecken erfüllen ob der Schwere der Gottes­

gerichte, die über Jung und Alt, über „Böse und Gute, Gerechte und Ungerechte" ergehen.

Um so ernster wird die Frage an unser Gewissen treten, wie solch eine Thatpredigt Gottes zu verstehen sei und was wir aus ihr zu lernen haben. Jedenfalls das Eine Grosse, dass Völker und Staaten wie verantwortliche und zurechnungsfähige morali­

sche P e r s o n e n mit einander ringen, und dass der Erfolg sol­

chen Ringens vor Allem bedingt ist durch die sittlichen Güter und Kräfte, die in ihrem gegliederten Gemeinwesen zur Aner­

kennung und Blüthe gelangt sind.

Zwar wäre es ein bedenklicher Missgriff, aus dem Siege der einen Nation über die andere die sittliche Yortrefflichkeit jener und die vollkommene Entsittlichung dieser zu entnehmen.

Denn abgesehen davon, dass auch den Sieger ein schweres Ge­

richt, eine ernste Heimsuchung trifft, wenn er den Leib seines Gemeinwesens aus tausend Wunden muss bluten sehen, kommt es vor Allem doch darauf an, wie er den Sieg sittlich'

verwer-T . O E N I N G E N , S O C I A L E verwer-T H I K . verwer-T H L . П . \

thet; ob er ihn für die Organisation und Regeneration seines so­

cialen, politischen und kirchlichen Lebens auf die Dauer auszu­

beuten versteht.

Die gewaltigen Siege des ersten Napoleon haben deutlich bewiesen, dass ein ephemerer Erfolg weder das geistige und sittliche Uebergewicht einer ganzen Nation documentirt, noch auch die Freiheit und gesunde Entwickelung derselben gewähr­

leistet. Und wiederum, die grossen Errungenschaften der Jahre 1813—15 haben der deutschen Nation zwar nach heil­

samer Demüthigung eine Periode des Aufschwungs gebracht, aber noch keineswegs die Früchte volkstümlicher Einigung und innerlicher Kräftigung, welche den damaligen Anstrengungen des nationalen Gemeingeistes entsprochen hätten.

So würde auch in der Gegenwart die Frucht des Segens bei der allseitig sich kund gebenden deutschen Bewegung aus­

bleiben oder verkümmern, wenn statt vertiefter Selbsterkennt-niss in Betreff der eigenen Mängel und Sünden eitle Selbstbe-spiegelung im Licht der glücklichen Erfolge, wenn statt gestei­

gerter Selbstkritik eine bornirte Selbstüberhebung in Folge des Sieges um sich griffe. Der Sieg schliesst für den einzelnen Menschen wie für ganze Nationen grössere Gefahren in sich, als die ernsteste Niederlage, welche so zu sagen von selbst mit er­

neuerter Selbstprüfung gesunde Demüthigung bringt. Aus den Wehen eiserner Drangsal und Noth wird dann neues Leben ge­

boren. Aber auch jeder Sieg ist für ein Gemeinwesen eine be­

deutsame Krisis, in welcher neben der Macht und Leistungs­

fähigkeit die Schäden und Schwächen des eigenen Gesammtie­

bens greifbar zu Tage treten. Kleinwerden in seinen eigenen Augen gegenüber der Grösse göttlicher Gnade, wie sie das ehr­

würdig greise Haupt deutscher Nation bei jedem Schlachten­

erfolge so schön zu rühmen wusste, das ist die köstlichste Frucht, welche eine Zeit heissen und siegreichen Kampfes zu zeitigen vermag. Ist diese Frucht wirklich gereift in der 'Hitze der Tage, so birgt sie den gesunden Keim zukünftiger Erneuerung in wahrhaft christlichem Sinne. Dass man es lerne, an die eigene Brust zu schlagen, ist für Völker wie für Personen die Grund­

bedingung ihrer Wiedergeburt.

Gleichwohl dürfen wir es bekennen, dass vor Allem-sittliche und ideale Factoren die entscheidenden Momente wie in jedem, so auch in diesem Völkerkampfe gewesen, Factoren, die den National­

geist auf beiden Seiten kennzeichnen und somit die Nationalkraft im Fall gegenseitiger Messung bestimmen. Alle Kraft erprobt sich

Die Zeitlage, in ihrer socialethischen Bedeutung. 3 am Widerstande und der Glaube ist auch hier der Sieg, der die "Welt überwindet. Der Glaube nicht im Sinne einee sub­

jectiven Wahnes oder dunklen Gefühles, sondern als die felsen­

feste Zuversicht, dass man für unveräusserliche Güter und pflichtmässig zu bewahrendes Recht in den Kampf geht! Die siegreiche Begeisterung wird stets aus der Ueberzeugung geboren, dass in dem nationalen Organismus, dem wir angehören, Kräfte des ewigen Lebens, geistige Werthe und Güter verborgen liegen, welche nicht untergehen können und dürfen, und für welche wir Rechenschaft abzulegen haben vor dem, der sie uns zu Lehen gegeben.

Er lässt sich daher das Gottesgericht in diesem welthisto­

rischen Kriege als ein berechtigtes nur dann verstehen, wenn wir vor Allem die organische Gesammtheit für die Qualität ihrer sittlichen Bestrebungen verantwortlich machen; wenn wir nicht den einzelnen Franzosen und den einzelnen Deutschen als indi­

viduelle Grössen sittlicher Art einander gegenüberstellen und mit einander vergleichen, sondern Franzosenthum und Deutsch­

thum als ethisch geartete Mächte, als eigenartige Typen mit ausgeprägter, historisch gewordener, geistig - sittlicher Physio­

gnomie in's Auge fassen.

Selbstverständlich ist es nicht meine Aufgabe, diesen Ver­

gleich hier auszuführen. Ich kann nur nicht umhin, auch die wissenschaftliche Frage, die uns in diesem Buche beschäftigen soll, in das Licht der grossen Zeit zu stellen, welche zu erleben wir von Gott gewürdigt worden sind. Nur die s o c i a l e t h i s c h e Weltanschauung vermag den Schlüssel zu den Problemen dar­

zubieten, welche solch ein Völkerkampf in sich birgt. Daher schien es mir nicht unerlaubt, den mir obliegenden V e r s u c h e i n e r R e c h t f e r t i g u n g u n d D u r c h f ü h r u n g c h r i s t l i c h e r S o c i a l e t h i k gegenüber den mannigfachen Kritiken, welche der erste Theil meiner Arbeit erfahren hat, an jene grossartige Weltbewegung anzuknüpfen, deren Schwingungen noch immer in allen näher oder ferner betheiligten Gemüthern nachzittern.

Und zwar thue ich das nicht bloss, weil von diesen politischen Gedanken und Interessen alle Welt erfüllt und bewegt ist, son­

dern weil mir in der That das Grundgesetz der Solidarität zum Greifen klar in jener erhebenden Zeitbewegung sich abspiegelt.

In ihrem Licht wird es mir doppelt unbegreiflich, dass der in meinem Buche ausgesprochene Hauptgedanke von der noth-wendigen gliedlichen Zusammengehörigkeit des Einzelindividu­

ums mit dem Gesammtkörper, dem er angehört, so erasten and

mannigfachen Wiederspruch hat wachrufen können. „Ueberau, wo sich der Einzelne dem Ganzen o p f e r t , übernimmt er eine Leistung, die in der Bestimmung der Gesammtheit liegt, die aber nur von Einzelnen durchgeführt werden kann. Dadurch gewin­

nen solche Leistungen einen idealen Werth, der den materiellen weit übertrifft. Der geworbene Söldling, der im Kampfe fällt, giebt auch sein Leben dar; aber man nennt seinen Tod nicht mit der­

selben Emphase einen Opfertod, wie den Tod eines Bürgers, der im Kampfe für sein Vaterland stirbt, der sein Leben pro aris et focis, für sein Volk und die Seinigen einsetzt" So war auch in diesem Kampfe jeder Deutsche, der für sein Vaterland den Heldentod erlitt, ein verkörperter Beweis für die Wahrheit der Idee der Stellvertretung. Jeder Blutstropfen, der für die gute Sache vergossen wird, ist eine Versiegelung des Glaubens an die Gattungegemeinschaft. Jede gewonnene Schlacht ist ein D o -cument des sittlichen Collectivwillens, ja wir könnten sagen in jedem Schuss Pulver explodirt ein Stück des lebendigen Natio­

nalgeistes. Und wenn wir armen ergrauenden Theoretiker nicht mit ins Feld ziehen können, wenn wir in einsamer Zelle unsere besten Jahre unter verstaubten Büchern verbringen, wenn wir in geistigem Ringen und reflectionsmässiger Arbeit unter vielem Seufzen unsere Kräfte verzehren, so tröstet es uns gewaltig, aus dem Kanonendonner das Echo unserer individuellen uns lieb gewordenen Gedanken zu vernehmen. Wir werden gestärkt und gehoben, wenn wir mit der Zeitbewegung so zu sagen Fühlung gewinnen und aus ihrem scheinbar chaotischen Durcheinander die deutliche Stimme zu vernehmen glauben, die das Ja und Amen zu unsern vielleicht nur schüchtern geäusserten Theorien in ihrem Schoosse birgt.

So reichen sich Wissenschaft und praktisches Leben fördernd die Hand, und werden zugleich sich gegenseitig zum Correctiv.

Unsere Theorie muss die Probe an der lebensvollen Wirklichkeit bestehen und das geschichtliche, politische wie kirchliche Natio­

nalleben erhält wiederum seine Regulative aus der Hand der fortarbeitenden Wissenschaft. —

So sehr uns Männern der Geisteswissenschaft vor Allem da­

ran liegen muss, im Läuterungsfeuer d e r Kritik zu bestehen, die das Leben und die Geschichte ausübt, so wenig darf es uns aber gleichgültig sein, ob und wie die eigentlichen Fachgenossen in l i t e r a r i s c h e r Kritik unserem Bedürfniss entgegenkommen,

!) Vgl. L i n s e n m a n n , Lehre von Gesetz und Freiheit. Theologische Quartalschrift 1872. S. 215.

Die literarische Kritik gegenüber'der Moralstatistik. 5 das heisst nicht dem eitlen Bedürfniss, gelobt, sondern dem ge-k sunden Bedürfniss, gelesen, verstanden und sachlich beurtheilt .zu werden. In dieser Hinsicht muss ich zunächst ein

Geständ-niss ablegen, welches einem Widerrufe nicht unähnlich sieht.

Wenn ich mir die grosse Anzahl von Besprechungen verge­

genwärtige, welche mein Werk in den verschiedenartigsten W e r ­ ken und Zeitschriften von Staatsrechtslehrern, Philosophen, Na­

tionalökonomen, Statistikern, Publicisten, Naturforschern, Medi-cinern und Theologen erfahren, so muss ich mit Beschämung bekennen, dass ich die Gefahr, todtgeschwiegen zu werden, mir unnütz vorgespiegelt habe. Namentlich möchte ich die im Vor­

worte zur zweiten Abtheilung meiner Moralstatistik ausgespro­

chene leise Anklage gegen meine theologischen Fachgenossen als eine damals verfrühte und jetzt keineswegs mehr berechtigte, öffentlich hiermit desavouiren. Es ist mir das um so mehr eine Gewissenspflicht, als manche meiner geehrten Recensenten — z . B . Dr. A . O n c k e n in der Augsburger Allgemeinen Zeitung *)

— durch meine desfallsige Aeusserung sich zu der Meinung veran­

lasst gesehen haben, dass mir „die Hauptgegnerschaft für meine Ideen aus der Phalanx meiner theologischen Fachgenossen drohe."

Gerade von Theologen verschiedenster Färbung, von der protes­

tantischen Kirchenzeitung ab bis zu den römisch-katholischen Literaturblättern hinauf sind mir die eingehendsten, zum Theil sehr wohlwollenden Beurtheilungen entgegengetreten 2) . Aller­

dings habe ich in Betreff meiner moralstatistischen Voruntersuch­

ung, namentlich wegen meiner empirischen Methode und auch

1 ) Vgl. Augsb. Allg. ZeituHg 1871, Nro. 153 S. 2739.

2) Abgesehen von den Besprechungen in verschiedenen theologischen Werken hebe ich hier, als Anhaltspunkt für die weiter unten vorkom­

menden Citate, die ausführlicheren, auf die Sache selbst eingehenden Kri­

tiken von t h e o l o g i s c h e r Seite hervor: Protest. Kirchenzeitung 1870, Kr. 7, S. 151 ff. (Anz. von l l r u c h ) . — R e u s c h ' s Theol. Literaturbl.

1869, Nr. 9, S. 310 ff. und 1870, Nr. 12, S. 463 ff. (Anz. von S i m a i O . — Jahrbb. für deutsche Theologie 1869. II. S. 372 ff. und 1870, II. S. 394 ff.

(Anz. von P a l m e r ) . — Zeitschrift für luth. Theologie, 1869, IV. S. 761 ff.

(Anz. von W u t t k e ) . —'Zeitschrift für Protest, u. Kirche 1870, II. S. 75

— 109 ( F r a n k ) . — Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche 1869, III. S. 406 ff. (Ληζ. von O. M a r p u r g). — Vgl. ausserdem noch: Mitthei­

lungen und Nachrichten für die evangelische Kirche Russlands 1869, Märzheft. — Beweis des Glaubens 1809, S. 12 ff. — Allg. luth. Kirchen­

zeitung 1870, Nr. 11, S. 764 ff. — Studien nnd Kritiken 1871, I. S. 61.

— Theol. Itter. Centraiblatt von Z ö c k l e r und A n d r e a Bd. VIII, S. 249 8. 329 ff. Band X (1872) S. 170 ff. und S. 25S ff.

in Hinsicht auf den Grundgedanken meiner Ethik gerade von biblischen und kirchlichon^Theologen den schärfsten Widerspruch erfahren. Derselbe ist mir aber lieber gewesen und hat mich wegen seines sachlichen Charakters wohlthuendcr berührt als

die mitunter schiefen panegyrischen Anzeigen, durch welche ei­

nige deutsche Publicisten und besonders englische Reccnsenten documentirten, dass sie das Buch entweder nicht gelesen oder nicht verstanden.

Im Ganzen freut es mich, dass doch viele Hauptpunkte, auf welche ich Nachdruck gelegt, wie mir scheint, zur Aner­

kennung gelangt und andere wiederum so sehr ein Gegenstand allgemeiner Discussion geworden sind, dass ich auch aus der Art des Widerspruchs zu erkennen vermochte, wie nothwendig die eingehende Behandlung des mir vorliegenden Problems war.

Schon dass die von mir aufgeworfene Frage in den Gemüthern vieler enragirter Personalethiker rumorte, durfte mir ein Beweis dafür sein, dass ich meinen Zweck nicht ganz verfehlt.

Zu besonderem Danke, den ich hiermit öffentlich ausge­

sprochen haben möchte, fühle ich mich denjenigen nicht theo­

logischen Kritikern gegenüber verpflichtet, welche meine Aus­

einandersetzungen in sachlicher Objectivität geprüft und trotz mehrfacher Opposition in ihrem Kerne erfasst und verständniss­

voll verwerthet haben.

So hat Dr. А. О п е к е η ') in geistreicher Durchführung den Zusammenhang von „Socialethik" und „Socialwissenschaft" im Anschluss an mein Buch darzustellen und namentlich Mi 11 ge­

genüber den berechtigten Gedanken tiefer zu begründen gesucht, dass alle Wissenschaft in ihrer Beziehung auf die socialen Ge­

meinschaftsgebilde mit dem „Sein" auch das „Sollen" ins Auge zu fassen habe, wenn sie anders ihren Charakter als „positive"

Wissenschaft nicht einbüssen oder vom praktischen Leben sich nicht emaneipiren wolle, ein Gedanke, der namentlich auch ge­

genüber der H e r b a r t 'sehen Philosophie und ihrem bekannten Losungsworte von der notwendigen „Trennung der Ethik und Metaphysik", des Sollens vom Sein zu beherzigen i s t2) .

1 ) А. a. 0 . Augsb. Allg. Zeitung 1871, Beilage Nr. 153. 157. 158.

Ich verweise auch auf desselben Verfassers anregende Schrift: »Unter­

suchungen über den Begriff der Statistik.« Leipzig. E n g e l m a n n 1870.

2 ) Ich verweise auf die treffliche Arbeit von J. K a f t a n : Sollen und Sein in ihrem Verhältniss zu einander. Leipzig 1872. Ев ist das eine

»Studie zur Kritik H e r b a r t s « , auf welche ich später im methodologi­

schen Theil (Buch I, Abschnitt 2. Cap. 2) zurückkommen werde.

Die einzelnen Kecensenten. (A. Oncken. G. F. K n a p p . ) 7 Ferner hat mein geehrter College K n a p p in seinem glän­

zend geschriebenen Vortrage: „Die neueren Ansichten über Mo­

ralstatistik" 4 das Verhältniss der deutschen und französischen Forscher auf diesem Gebiete einer geistvollen Beleuchtung unter­

zogen. Hier wird mein Versuch, den S ö c i a l p h y s i k e r n wie den A t o m i s t e n der Manchesterschule auf Grund des moral­

statistischen Materials entgegenzutreten, geschichtlich und kri­

tisch ins rechte Licht gestellt. Namentlich illustrirt K n a p p in treffender "Weise die b e i d e n Grundpfeiler meiner Argumen­

tation: die Freiheitsidee u n d die Solidarität. Meine Auffassung der Moralstatistik, meint er, würde man zu eng definiren, wenn man sie bloss als Auflehnung gegen die materialistisch-mecha­

nische Betrachtungsweise Q u e t e l e t ' s bezeichnete. Freilich sei mir der Gedanke, dass alle menschlichen Handlungen in natur­

gesetzlicher Weise vorherbestimmt seien, ein Greuel. Er stimmt mir zu, wenn ich es weit von mir weise, die Persönlichkeit ganz zum Product ihrer "Umgebung zu machen. Er meint, dass ich ein Recht habe von dieser nach physikalischen Analogien zuge-*

richteten Auffassung zu sagen, sie stelle sich die menschliche Gesellschaft mit allen ihren Einrichtungen im günstigsten Fall wie ein unbewusstes Gewächs, wie eine Pflanze v o r , an der die Individuen wie einzelne Blätter auftreten, grünen und dann wieder abfallen, um den Boden der Geschichte zu düngen.

Gerade den Söcialphysikern bleibe es unverständlich, dass die bedeutsamsten Institute der Gesellschaft, wie Staat und Kirche, nicht Maschinen sind um Lasten zu bewegen, sondern Einricht­

ungen von gebietender Art, welche zwecklos und sinnlos werden, wenn der Mensch nicht als ein Wollenkönnender, als ein in irgend welchem Grad freies Wesen erscheine. Aber K n a p p hebt auch richtig hervor, dass mir ebensoviel daran gelegen sei, mich gegen diejenigen zuwenden, welche den Menschen zwar als persönlich frei auffassen, aber das Individuum lostrennen aus allem Zusammen­

hang mit der Gemeinschaft. Für den Atomisten sei die „Gesell­

schaft" ein Haufe von Individuen, die höchstens zufällig oder gelegentlich auf einander wirken; er glaube an den contrat social, er kenne nur die Triebfeder des Egoismus. Dem Verbrecher gegenüber habe der Atomist die Empfindungen des dankbaren Pharisäers, dem Proletarier gegenüber die des Bessergekleideten und er rufe ihm zu: weshalb bist du nicht früher verhungert,

!) Vgl. G. F. K n a p p : Die neueren Ansichten über Moralstatistik.

Vortrag, gehalten in der Aula der Universität Leipzig am 29. April 1871.

Jena, Verl. von Fr. Mauke. 1871.

dann wäre für den kleineren Rest deiner Genossen ein höherer Arbeitslohn möglich. „Alle Schriftsteller dieser Art," — so schliesst K n a p p den betreffenden Abschnitt seiner Kritik, —

„haben von jeher die Statistik gehasst, und ( D e t t i n g e n erkennt am besten den Grund des kühlen Verhaltens: denn die Moral­

statistik, indem sie auf den gleichmässig fortfressenden Schaden der Massenarmuth und auf die ununterbrochene Kette der Cri-niinalität hindeutet, macht es auch dem Blindesten klar, dass hier keine zufälligen Einzelfälle, sondern Schäden und

statistik, indem sie auf den gleichmässig fortfressenden Schaden der Massenarmuth und auf die ununterbrochene Kette der Cri-niinalität hindeutet, macht es auch dem Blindesten klar, dass hier keine zufälligen Einzelfälle, sondern Schäden und

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