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energie betrachtet, mit der Tugend in Parallele gestellt werden kann

Im Dokument CHRISTLICHE SITTENLEHRE. (Seite 108-122)

g. 4 . V e r h ä l t n i s « d e s S i t t l i c h e n zur k ü n s t l e r i s c h - ä s t h e t i s c h e n , l o g i s c h - w i s s e n s c h a f t l i c h e n und p r a c i i e c h - i n d u s t i i e l l e n L e b e n s b e t h ä t i g i m g . N ä h e r e V e r w a n d t s c h a f t m i t d e r l t e l i g i o n

und d e m R e c h t s l e b c n . N o t l n v c n d i g k e i t und M ö g l i c h k e i t der G i e n z r e g u l i i i m g .

Bevor wir zur Feststellung dessen, was denn, inhaltlich ge­

nommen, sittlich gut sei oder worin das sittliche Ideal bestehe, übergehen ( § . 5 ff.), gilt es noch zu genauerer Abgrenzung des dargelegten formalen Begriffs das Verhältniss der Sittlichkeit zur künstlerischen, wissenschaftlichen und industriellen Thätigkeit des Menschen näher zu präcisiren, insbesondere aber die enge Verwandtschaft des Moralischen mit der Religions- und Rechts-ephäre ine Auge zu fassen. Denn Religion und Recht scheinen

sich mit der Domaine des Sittlichen so nahe zu berühren, ja zum Theil so tief in dieselbe einzugreifen, dass eine scharfe Grenzregulirung "Vielen kaum möglich zu sein dünkt.

In der gesammten menschlichen Gulturentwickelung finden wir zwecksetzende (teleologische J "Willeiisbethätigung. Kein Gebiet geschichtlichen Lebens ist daher von der Sittenlehre aus-zuschliessen. Nur handelt es sich in letzterer nicht um die detaillirte Erforschung der betreffenden Thatsachen und ihres motivirten Zusammenhangs, noch auch um genaue Angaben der betreffenden Yerhaltungs- oder Zwcckmfissigkcitsregeln, sondern, wie aus unsrer bisherigen Deduction sich ergiebt, um die Ent­

wicklung derjenigen principiellen Grundlagen und Grundgesetze des Handelns, welche mit Beziehung auf einen höchsten, abso­

luten Lebenszweck in der Kategorie von Gut und Böse sich be­

wegen. Die Geschichte samint ihrer Culturentwickelung in Kunst und Wissenschaft, Handel und Wandel ist und bleibt nur „das Bilderbuch der Sittenlehre" ( S c h l e i e r m a c h e r ) , welches wir in unserer Weise bereits im ersten Theile dieses Werkes perlustrirt und ausgebeutet haben; die Sittenlehre aber hat die allgemeinen Formeln festzustellen, aus welchen die ab­

solut verbindlichen Gesetze menschlicher Lebensbewogung zur Erreichung des höchsten Gutes nach der Norm der Pflicht in der Kraft wahrer Tugend sich ergeben, mit einem Wort: die allgemeinen Gesetze sittlicher Lebensbothätigung im Organismus der Menschheit darzulegen.

Da erseheint denn die Grenzbestiiumung zunächst der k ü n s t l e r i s c h e n T h ä t i g k e i t gegenüber ebenso wichtig, als einfach. Nur darf das sittliche und ästhetische Urtheil nicht, wie das zum Beispiel bei der romantischen Schule und ihrem Philosophen .T. Fr. F r i e s oder, wenn auch in bedeutend modi-ficirter Form, bei H e r b a r t und seinen Schülern zu Tage tritt, mit einander vermischt und verwechselt werden. Das wahre sittliche Urtheil ist nach F r i e s ein Urtheil über geistige Schön­

heit der menschlichen Handlungen und wurzelt lediglich im Gefühl. Die Ethik ist ihm daher die Lehre von der Schönheit der Seele. Nach H e r b a r t ist das sittliche Urtheil insofern mit dem ästhetischen eins, als es ein unintercssirtes Gesolmiaeks-Urtheil ist, durch welches Gefallen oder Missfallen über gewisse Willensverhältnisse erzeugt wird. „Das Schöne und Gute kommt" — nach H a r t e n s t e i n — „darin überein, dass beides einen reinen und unbedingten Beifall als unwillkürlichen Erfolg der leidenschaftslosen Auffassung des Gegenstandes in der Form

§. 4. unterschied des Sittlichen vorn Aesthetisehen.

eines allgemein gültigen Urtheils in Anspruch nimmt." In allen sittlichen Fragen soll also das ästhetische Wohlgefallen als Ge-sclmiacksurtheil das Entscheidende sein.

Durch solche Vermengung des Aesthetisehen und Ethischen wird aber die an sieh klare Sachlage nur verwirrt. Die Kate­

gorien Schön und Hässlich, welche im Gebiete des Aesthetisehen herrschen, haben an und für sich mit der moralischen Unter­

scheidung von Gut und Böse schlechterdings n i c h t s zu thun.

Jene auf platonischem Gefühlsidealismus ruhende Verwechselung von Gut und Schön {χαλάν χάγαίτύν, pulchrum et aptum gegen­

über dem bonum) hat unsägliche Verirrung auf dem Felde sitt­

lichen Urtheils und sittlicher That hervorgerufen und ebenso der Acsthetik wie der Ethik geschadet.

Bei der ästhetischen Leistung, die vom Gefühl des Schönen getragen ist, und zunächst nicht im Gewissen, sondern in der produetiv gestaltenden Phantasie wurzelt, handelt es sich stets um individualisirende, eharactervolle Ausprägung eines ideal Ge­

dachten in der leiblich-realen Sphäre. Der Künstler hat das Erhabene zum Ziel, d. h. die möglichst ausgeprägte Tndivi-dualisirung des allgemeinen Gedankens, mag der letztere sittlich berechtigt oder unberechtigt, gut oder bö-e sein. Auch das Böse eignet sieh zur schönen d. h. zur a d ä q u a t e n , har­

monischen und durch seelenvolle Wahrheit überwältigenden Darstellung des Bildners; und das Gute kann sehr hasslich d. h.

ohne Ebenmaass uud richtige Individualisirung zur Gestaltung und Erscheinung kommen. Auch zweifelt Niemand daran, dass ein künstlerisch sehr begabter und ästhetisch Grossartiges leistender Mann sittlich corrumpirt und verworfen sein kann.

Und ein moralisch trefflicher Mensch ist vielleicht nicht im Stande, die kleinste Schönheitsaufgabe zu erfüllen oder Aesthetisches, sei es zu geniessen, sei es zu produciren. Das Sittliche fordern wir von Jedem; des Künstlerischen freuen wir uns an dem sonderlich Begabten. Die Kategorien von Gut und Böse im sittlichen Sinne beziehen sich also auf den absoluten, für alle Menschen gültigen Lebenszweck und dessen annähernde Erreichung im Handeln; die Begriffe Schön und Hässlich aber kommen dort zur Geltung, wo es sich um den, nur nach dem Maasse genialer Begabung für den Menschen erreichbaren Selbst­

zweck künstlerischer Production, d. h. wo es sich darum han­

delt, irgend eine Idee, oder-irgend ein seelenvoll Reales zu an­

gemessener individualisirter Ausprägung und sprechender Er­

scheinung zu bringen.

I

Selbstverständlich sind damit die ästhetischen und sittlichen Interessen oder Urtheile nicht als gänzlich heterogene, sich aus-schliessende oder widersprechende bezeichnet. Denn die künst­

lerische Thätigkeit in ihrer wahren Vollendung und in ihrem ernsten Streben nach Individualisirung braucht den allgemein gültigen Gesetzen der Sittenlehre nicht nur nicht zu wider­

sprechen, sondern kann und soll denselben vielmehr zu character-voll schöner Exemplificiruug und begeisternder Anregung dienen.

Es verhält sich damit beispielsweise wie mit den architecto-nischen Ausführungen gegenüber den Gesetzen der Mathe­

matik, oder den malerischen Gruppirungen gegenüber den Ge­

setzen der Physik, näher der Farben- oder Lichtlehre. Kein Gebäude ist deshalb schön, weil es nach den Gesetzen der Dynamik oder Mechanik richtig gebaut ist; aber es wird, um ein wahrhaft schönes zu sein, doch nicht jene Gesetze ignoriren oder gar verachten, denselben nie widersprechen dürfen. Und kein Gemälde ist schön , weil es die Gesetze von Licht und Schatten oder die Regeln der Farbengruppirung befolgt; aber es wird auch nimmermehr den Anspruch auf Schönheit machen können, wenn es jenen Gesetzen ins Augesicht schlägt. So wird auch die Beurteilung ästhetischer und sittlicher Art, jene in den Gesetzen der harmonischen Formgebung und im Gefühl der Schönheit, diese in den ewigen Sittengesetzen und im Gewissen, als dem Unterscheidungsorgan für Gut und Böse ruhend, allezeit scharf und bestimmt von einander unterschieden werden müssen, weil die Qualität der Urtheile dort durch das Gesetz der angemessenen characteristischen Gestaltung, hier durch das Gesetz der normalen Handlungsweise gegenüber dem absoluten Lebenszweck bestimmt erscheint. Aber mit einander in Wider­

spruch zu treteu brauchen sie nicht, sondern können und sollen einander dienen, ein „jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat." Der Schönheitsgedanke wird in plastischer und lebens­

voller Ausführung die sittliche Grundidee characteristisch ver­

körpern und so zur Nachahmung und weiterer Verbreitung der­

selben das Seinige thun; der Sittlichkeitsgedanke wird dem Kunstwerke die humane Weihe geben und dasselbe in den Dienst gesunder Culturentwickelung und wahren Fortschritts stellen. —

Dass nun die Sphäre des Sittlichen mit der l o g i s c h ­ w i s s e n s c h a f t l i c h e n Thatigke.it des Menschen nicht iden-tificirt oder vermischt werden darf, scheint auf der Hand zu liegen. Denn Klugheit und iutellectuelle Bildung gehen

keines-§. 4. Unterschied des Sittlichen vmn Inlellcctuellen. 87 Wegs mit sittlicher Entwicklung und sittlicher Kraft Hand in Hand. Das Denkvermögen und das dadurch bedingte Wissen steht oft sogar in einem gewissen Gegensatze zu dem Willens­

vermögen und dem dadurch bedingten Handeln. Und doch hat man nicht bloss in socratisch-platoniecher Zeit die Tugend als lernbar und lehrbar, als eine Sache des Wissens, und die Philo­

sophen als die Aristocraten des Staates bezeichnet, sondern auch die neuere Weltweisheit hat im Zusammenhange mit der

«Bestimmung des Gelehrten / die Wissenschaft als den Kern des Lebens ( P i c h t e ) , die logische Idee als Erzeugerin des Seins ( H e g e l ) , kurz das Bewusstsein als Mutter der sittlichen That zu verherrlichen gesucht. In diesem Irrthum ruht auch der Grundfehler des abstracten oder vulgären Rationalismus, welcher die Vernunfterkenntniss ohne Weiteres als ausreichen­

des Motiv, als reale Kraft zu normalem Handeln nahm und da­

bei vergase, dass der Wille eine vor dem Intellect schon vor­

handene, urwüchsig keimende Kraft ist und dass kein Bewusst­

sein des Wahren bereits das wirkliche Sein des Guten in sich schliesst, nicht einmal als Potenz.

Zwar werden wir im Laufe unserer weiteren Deduction mehrfach die Wahrnehmung machen, dass Erkennen und Wollen im menschlichen Geist in steter Wechselbeziehung stehen. Jeder theoretische Irrthum hat eine ethische Seite, und jede Willens­

richtung ist mitbestimmend für die Richtung des Denkens, ein­

fach schon deshalb, weil kein Denken, keine wissenschaftliche Thätigkeit ohne Aufmerksamkeit, ohne Interesse für die Sache zu Stande kommt; Aufmerksamkeit und Interesse sind aber Willensbestimmtheiten. Auch lässt sich die Behauptung kaum bestreiten, dass „die Wahrheit der Erkenntniss durch die Rein­

heit der Gesinnung" ( U e b e r w e g , Logik) mit bedingt ist. Der S c h l e i e r m a c h e r ' s c h e Satz von dem blossen „Wissen, als Zweck des Denkens" ist ebenso einseitig, als der F i c h t e ' s e h e von dem „Wissen lediglich um des Wissens willen." Vielmehr lehrt die Erfahrung, nicht bloss dass „der Mensch heranwächst, seine Vorstellungen an dem Erfolg und den Erscheinungen regelnd" ( T r e n d e l e n b u r g ) , sondern dass auch alle wissen­

schaftlichen Wahrheiten „die Bestimmung haben, im Leben ver­

wirklicht zu werden, um hier ihre Bestätigung oder ihr Correctiv zu finden" (A. O n c k e n ) . In dem Sinne können wir es zuge­

stehen, dass „allen Wissenschaften ein normatives Moment ein­

geprägt ist." Allein das ist doch nicht das Wesen und die Idee der Wissenschaft. Selbst die Ethik, sofern sie

Wissen-i

ί

schaft ist, will zunächst nicht das Leben bessern oder ändern, sondern den Zusammenhang und die Normen desselben er­

forschen. Daher auch Logik und Ethik als w i s s e n s c h a f t l i c h e Thätigkeit in dieselbe begriffliche Kategorie gehören. Sie wollen beide Erforschung des Seienden, Peststellung der absolut wahren Gesetze des Denkens oder Handelns. Die Sittlichkeit oder die sittliche Arbeit will aber direct ins Leben eingreifen. Sie sucht alle Lebensmomente durch den Willen aus- oder umzuge­

stalten im Dienste eines einzigen, absoluten Lebenszweckes.

Daher muss auch der Unterschied zwischen Denken und Wollen und somit zwischen der logischen und ethischen Sphäre mit Entschiedenheit festgehalten werden, wenn wir nicht die Grenzen des Sittlichen ungebührlich erweitern oder gänzlich verwischen wollen. Am klarsten lässt sich derselbe so formuliren: in der wissenschaftliehen Thätigkeit suchen wir die Denkgesetze fest­

zustellen, die als solche das Sein der Dinge in ihrem ursach­

lichen und begrifflichen Zusammenhange lediglich zu erfassen, nicht aber practisch zu bestimmen oder zu verändern im Stande sind; bei der ethischen Arbeit hingegen stellen wir die normativen Willensgesetze in den Vordergrund, welche auf der Basis des realen Seins einem idealen Lebenszwecke entsprechen, welche daher auf den Zustand der Personen und Dinge modificirend und verändernd influiren, also ein Handeln ermöglichen und hervorbringen sollen.

So scheint denn das Ethische mit der p r a c t i s c h e n T h ä t i g k e i t überhaupt zusammenzufallen, wie sie in der technischen Arbeit, in der industriellen Leistung, in der realen Beschaffung menschlicher Lebensbedürfnisse, kurz in der Förderung menschlichen Behagens und Wohlergehens durch fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte für die Cultur-zwecke der Menschheit zu Tage tritt. Die gesammte eudämo-nistisch-practische Richtung der Gegenwart scheint seit dem Vorwalten des modernen Oeconomismus und Industrialismus dieser Anschauung mehr oder weniger zu huldigen. Und dilettan-tenhafte Philosophen wie B u c k l e und L e c k y übernehmen, trotz ihrer theoretischen Opposition gegen den crassen und ge­

wöhnlichen Utilitarismus, in eigentümlichem Selbstwiderspruche die Apologie jener Richtung, welche mit dem öconomisch er­

rungenen Reichthum, mit der Vollendung des Erfindungsgeistes und der technischen Leistung das goldene Zeitalter eines ewigen Friedens herbeigekommen wähnen. Allein, so sehr das gesammte Gebiet technischer und industrieller Arbeit ein

Docu-§. 4. Unterschied des Sittlichen vom Industriellen. 89 ment dafür ist, dass der Mensch durch zwecksetzende Thätig-keit sich über die blosse Natursphäre erhebt, wie wir o b e n ( § . 1) bereits sahen, so wenig lässt sich bereits in der Beschaffung des materiellen Reichthums und der industriellen Fertigkeit, überhaupt innerhalb dieses Kreises menschlicher Thätigkcit der höchste Lebenszweck suchen und finden oder empirisch nach­

weisen. Ja, es lässt sich sogar behaupten, dass, wo diese Ge­

nuss- und Lebens-Mittel zum Selbstzweck werden, d. Ii. auf­

hören eben bloss Mittel zu höheren geistigen Zielen zu sein, sie an ihrem Theil die sittliche Entwickelung des Menschen hemmen, indem sie ihn an die Materie ketten und den Egoismus in ihm gross ziehen. Es besteht also zwischen dem practisch Nützlichen und Angenehmen einerseits und dem sittlichen Le­

benszweck andererseits so lange eine Kluft, ja ein exclusiver Gegensatz, als jenes nicht in den Dienst des letzteren gestellt,

demselben nicht ein- und untergeordnet wird. An und für sich aber gehen beide Gebiete in soweit Hand in Hand, als die an den Naturobjecten sich versuchende, menschlich-zwecksetzcnde Arbeit industrieller, culturgeschichtlicher oder civilisatorischer Art dem sittlichen Lebenszweck die W e g e ebnen hilft und nur, wenn sie von dem sittlichen Willen getragen ist, der segens­

reichen Entwickelung der gesammten Menschheit wie der ein­

zelnen Person zu dienen im Stande ist. —

Während wir dem ästhetischen, wissenschaftlichen und in­

dustriellen Leben gegenüber die Eigenart des ethischen Objectes zu wahren im Stande und genöthigt sind, erscheint diese Grenz-regulirung gegenüber der R e l i g i o n und dem R e c h t e theils unnöthig, theils unmöglich. Denn in diesen beiden Sphären geschichtlichen Culturlebens bethätigt sich nicht bloss natur-gemäss der sittliche Gestaltungs- und Bildungstrieb des Menschen, sondern sie scheinen mit ihrem speeifischen Inhalte mit zum Objecte der Ethik zu gehören, weil alle Sitten und menschlichen Gebote, sofern sie Allgemeingültigkeit für humanes Yerhalten beanspruchen, die Religion zum primitiven Hintergrunde, das Recht und die bürgerliche Gesellschaftsordnung zum nothwen-digen practischen Ziele haben. Allein gerade in dieser Yer-hältnissbestimmung liegt bereits der Unterschied von dem Sitt­

lichen angedeutet und demgemäss die Notwendigkeit enthalten, den speeifisch religiösen und juridischen Stoff gegen den In­

halt der Sittenlehre abzugrenzen.

Seit je her ist über das Verhältniss der R e l i g i o n zur Sitt­

lichkeit gestritten worden, indem entweder in hierarchischem

Interesse das gesammte moralische Leben an das äusserlich apodictische Religionsgebot gebunden und so auf Kosten der Gewissensfreiheit geknechtet wurde, oder aber in angeblich humanem Interesse die Sittlichkeit als die gemeingültige Lebens­

sphäre sich gegen das beengende „religiöse Yorurtheil" und gegen alles, was Dogma heisst, zu emaneipiren suchte.

Wenn ich recht sehe, wird sich, je nachdem man dazu neigt in dem Wesen der Sittlichkeit das reeeptive oder active, das mystische oder practische Moment, die Leidentlichkeit oder Selbstthätigkeit zu betonen, die Verhältnissbestimmung zur Re­

ligion entgegengesetzt gestalten. Alle mystisch tingirten Welt­

anschauungen mit pantheistischer Tendenz werden Religion und Sittlichkeit auf Kosten der letzteren zu vermischen oder zu identificiren die Neigung haben. Das Aufgehen in Gott, die

„Entwerdung" des Menschen, ja die Vernichtung des eigenen Willens erscheint diesem quietistischen Standpunkte mit ideali-sirend platonischer Färbung als das Wesen der sittlichen Auf­

gabe; vollendete Sittlichkeit wird identisch mit vollendeter Religiosität. Sobald aber die autonome Selbstständigkeit, die Fähigkeit durch eigene Vernunft und Geisteskraft sich über Gott und Natur zu erheben von der rationalistisch - deistischen Weltanschauung mit aristotelisch-realistischer Färbung in den Vordergrund gestellt wird, muss das Moment der Frömmigkeit zurücktreten und in der wahren Sittlichkeit die Religion als

„überwundener Standpunkt" erscheinen. Dort droht die Gefahr, dass die Religion ohne practisch zielsetzliche Arbeit, ohne sitt­

liche Thatkraft zu mystischer Weltentfremdung und ästhetischem Quietismus werde; hier muss man befürchten, dass die Sittlichkeit ohne Religion, ohne Ehrfurcht und Scheu vor dem lebendigen Urquell alles Guten zu autonomer Selbstüberhebung oder platter Vielgeschäftigkeit im Streben nach irdischem Glück ausarte.

Berühmt ist die K a n t ' s c h e Verhältnissbestimmung der Re­

ligion zur Sittlichkeit geworden. Befolgung des Sittengesetzes als eines gottgegebenen characterisire den religiösen, Be­

folgung des Sittengesetzes als eines selbstgegebenen (auf Auto­

nomie ruhenden) kennzeichne den moralischen Menschen. Der moralische Standpunkt erscheint demnach als der höhere, in welchem die Religion wie eine abgebrauchte oder unnütz gewordene Krücke bei Seite geworfen wird; dio Religion wird höchstens als Vorstufe und volkstümliches Erziehungsmittel für die Moralität anerkannt. An und für sich aber, meint K a n t , „besteht die Tugcndlehre durch sich selbst, auch ohne den Begriff von Gott.

§. 4. Verhältniss des Sittlichen znr Religion. 91 Das Gewissen will schlechterdings keinen Leiter-, es ist ein Be­

wusstsein, das für sich selbst Pflicht ist; es ist die sich selbst richtende moralische Urteilskraft." In anderer Weise der Motivirung hat auch R o t h e der Religion die Aufgabe gegeben

»in die Sittlichkeit überzugehen." Er sucht namentlich den formalen Begriff des Sittlichen (Vergeistigung der Materie) von der Idee Gottes abzulösen, ist sich aber in dieser Forderung

»der neueren Bildung" selbst nicht consequent, da er in seiner Grundlegung der Ethik zugesteht, die Idee des Sittlichen könne

°hne die Idee Gottes weder verstanden, noch begriffen werden.

Im Ganzen neigt unsere gesammte Zeitrichtung, selbst wo sie noch nicht in Materialismus versunken jede Berücksichtigung des religiösen Lebensfactors desavouirt, sondern den Ernst und die Selbstständigkeit der moralischen Weltordnung betont, ent­

schieden dahin, den Gedanken des Sittlichen vom Religiösen ab­

zulösen. Philosophen wie J. IL F i c h t e mit seiner Hervorheb­

ung der „Gottimiigkeit" — (übrigens ein dem System K r a u s e ' s entlehnter Ausdruck) —• als Basis aller wahrhaft sittlichen Ge­

sinnung, oder C h a l y b ä u s mit seiner Betonung der Religion

ab des „eigentlich Beseelenden," als der Grundbedingung der

«absoluten Sittlichkeit, in welcher der ethische Organismus der Menschheit sich vollenden soll," dürften heut zu Tage wohl als Ausnahme in der philosophisch gebildeten Gelehrtenwelt be­

zeichnet werden. Neuerdings hat P f l e i d e r e r (Moral und Re­

ligion. Leipzig 1872) diesen Gegenstand einer erneuten, historisch kritischen Beleuchtung unterworfen, welche zuerst ganz richtig die Religion als principiello Wurzel aller Sittlichkeit bezeichnet, dann aber doch die Sittlichkeit als „realen Selbstzweck" hin­

stellt, zu dessen Verwirklichung die Religion nur als subjectives

„Anregungsmittel" dienen soll, was wiederum an die K a n t ' s c h e Verhältnissbestimmung erinnert. Die humane Erscheinung des Sittlichen in der äusseren Welt gilt ihm, wie bei R o t h e , als einzig berechtiges Ziel. Religion und Kirche sind nur Krücken für den l a h m e n Wanderer.

Mir scheint aus dem B e g r i f f des Sittlichen bereits die Schlussfolgerung gezogen werden zu können, dass selbst das Sittlich-Böse gar nicht ohne einen religiösen Hintergrund ge­

dacht werden kann. Denn die Abnormität des Handelns ist ebenso durch die Anerkennung einer höchsten Lebensnorm, die man eben übertritt, nothwendig bedingt, als das Sittlich-Gute mit der dem Absoluten entsprechenden Willensbewegung sich deckt. Es lässt sich die innigste Wechselbeziehung beider

Ge-biete, des Religiösen und Sittlichen, schlechterdings nicht leugnen,

Sötern in allein sittlichen Leben mit jener als a b s o l u t geltenden Lebensnonn auch ein Ausser- und Uebermenschliehes anerkannt wird, zu den) sich der sittlich Handelnde in ein abhängiges Verhältniss gesetzt glaubt (S. o. S. 6 8 ) . Die Isolirung des Sitt­

lichen von der Religion ist nicht nur falsch, sondern eine Illusion, eine Unmöglichkeit. Selbst S c h o p e n h a u e r , sonst principieller Gegner der Einnierigung des religiös Metaphysischen in die Sitt­

lichkeit, giebt in seinen „Grundproblemen der Ethik" zu, dass

„jede Religion ihr Dogma der j e d e m M e n s c h e n f ü h l b a r e n m o r a l i s c h e n T r i e b f e d e r zu Grunde legt und es so eng

„jede Religion ihr Dogma der j e d e m M e n s c h e n f ü h l b a r e n m o r a l i s c h e n T r i e b f e d e r zu Grunde legt und es so eng

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