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ist ja die Freiheit und Lebensbewegung der Einzelpersönlichkeit nicht gehemmt, sondern erst wahrhaft ermöglicht. Die

Im Dokument CHRISTLICHE SITTENLEHRE. (Seite 60-70)

neutesta-mentliche Gemeinde hat nicht, wie D e l i t z s c h in seiner Apo­

logetik mir gegenüber missverständlich b e h a u p t e t s c h l e c h t h i n aufgehört „Volksgemeinde" zu sein. Denn mit dem „Reich

i) Vgl. D e l i t z s c h , System der christl. Apologetik. Leipzig 1869, S. 476 ff.

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Gottes" ist auch „das heilige Volk, das Volk des Eigenthums"

(1. Petri 2, 9) in die neutestamentliche Sphäre hinübergetreten, wenn auch in dem modificirten Sinne des geistlich verklärten Universalismus gegenüber dem alttestamentlich an das natürliche Volksthum gebundenen Particularismus. Wegen der g l i e d l i ­ c h e n Stellung der Einzelchristen zum Ganzen soll auch die Per­

son des Christen nie als ein „in sich selbst ruhendes und sein selbst mächtiges Wesen" bezeichnet werden. Gerade die Social­

ethik bewahrt vor dem Nivellement der Unterschiede, wie vor falscher Apotheose der wiedergebornen Persönlichkeiten. Nur Gott ist „ein in sich selbst ruhendes und sein selbst mächtiges Wesen". Der Mensch, auch als Person und Christ betrachtet, bleibt ein stets abhängiges und nur in Gott und inner der gott­

gesetzten Heilsgemeinde gefreites Wesen.

Die socialethische Betrachtungsweise desavouirt somit kei­

neswegs die Bedeutung des christlichen Einzclsubjects, sondern weist ihm bloss seine richtige, bescheiden gliedliche Stellung an, wie sie dem Genossen des Volkes Gottes und allen denen ge­

bührt, in Bezug auf welche Paulus sagt: „gleicher Weise, als wir in Einem Leibe viele Glieder haben, also sind wir viele Ein Leib in Christo, aber unter einander ist einer des anderen Glied"

(Rom. 12, 4 f.). „Ihr seid der Leib Christi und Glieder, ein jeglicher nach seinem Theil" (1 Cor. 12, 27; Eph. 4, 12; 5, 30;

Col. 1, 24 etc.). Das ist wahrhaft christliche Socialethik! — Wenn aber auch innerhalb der also aufgefassten „Social­

ethik" der p e r s o n a l e F a c t o r zum Recht und zur Anerken­

nung kommen soll, kann dann überhaupt der B e g r i f f dersel­

ben klar und widerspruchslos ausgestaltet werden ? Bleibt nicht auch bei Betonung der Solidarität und des Gemeinschaftsfactors die Ethik doch wesentlich Individual- und Personalethik?

Ich bin weit entfernt diesem letzten, mir von verschiedenen Kritikern, namentlich aber von Dr. W a h l b e r g gemachten Vorwurf gegenüber, mich eigensinnig auf den von mir erfunde­

nen Namen zu steifen oder denselben auch nur anzupreisen. Ich leugne durchaus nicht, dass er eine Einseitigkeit involvirt, indem er den meiner Ansicht nach bisher zu sehr vernachlässigten Fac­

tor ethischen Lebens stark betont und ihn so zu sagen vor­

schlagen lässt, wie bei dem Ausdruck Personalethik der persön­

liche, bei der Benennung theologische Ethik der göttliche vor­

schlägt. Es ist eben das Geschick Staubgeborener, dass sie — namentlich im Gedränge wissenschaftlichen Ringens — nicht ohne Einseitigkeit sich bewegen können. Ich will auch gern

Klärung des B e g r i f f s der Socialethik. 37 zugestehen, dass eine particula veri darin liegt, wenn F r a n k sagt1), es geschehe mitunter, dass wer z u e r s t in eine Fund­

grube noch nicht verarbeiteter Stoffe sich vertieft und ihrer Be­

deutung für den weiteren Ausbau der Wissenschaft inne wird, mit seinen Erwartungen und Hoffnungen „über das Ziel hinaus-schiesst." Aber darin irrt er, dass ich j e aus der Moralstatistik

„eine Ethik habe construiren" oder durch die Betonung der „Ge-sammtethik" die „Ethik der Einzelnen" habe zurückdrängen wollen.

Socialethik und Personalethik fallen mir allerdings in ge­

wissem Sinne zusammen, weil in dem Ausdruck E t h i k bereits das Persönliche, mit dem Willensmoment Zusammenhängende, enthalten ist. Dadurch erledigt sich auch das von W a h l -b e r g2) aufgestellte Dilemma: „Entweder", sagt er, „sind die sittlichen Bewegungsgesetze der Socialethik mit denen der Indi-vidualethik identisch oder nicht identisch. Im ersten Falle — (es ist das derjenige Fall, den ich aeeeptire und vertrete) — ist a l l e Ethik Socialethik; im zweiten Falle (den ich mit W a h l b o r g perhorrescire) giebt es eine doppelte Buchhaltung auf dem Gebiete des Moralischen, eine für das Gemcinleben und eine für den Hausgebrauch des Einzellebens." Es ist von mir in meinem Buche wiederholt darauf hingewiesen worden, dass es meiner TJeberzeugung nach keine „Privatothik" geben dürfe, die mit allgemein gültigen Sittengesetzen in Widerspruch treten könnte. Sie wäre lediglich ein Mittel, die Immoralität zu be­

fördern. Aber der erstere Fall, in welchem aus den genannten Gründen alle Ethik S o c i a l e t h i k ist, erscheint deshalb nicht bloss acceptabel, sondern vollkommen berechtigt, weil eben und sofern der Process des Ethischen stets innerhalb der Gemein­

schaft oder, was dasselbe, innerhalb der G e s c h i c h t e sich voll­

zieht. Ich möchte daher den N a m e n „ S o c i a l e t h i k " nur des­

halb vorläufig beibehalten, um jedem Leser damit anzudeuten und von vorn herein zu sagen, wess Geistes Kind meine Sitten­

lehre ist, d. h. dass ich Moral, Sittlichkeit, Heilsleben, Glaube, Liebe, Tugend etc. etc. nicht ohne Gemeinschaftsbedingung und Gemeinschaftsbeziehung begrifflich zu denken im Stande bin, mit andern Worten, dass mir P r i v a t - M o r a l , trete sie auch unter dem vornehmen Titel einer „morale independante" 3) auf, ein Unding und ein Unsinn ist.

i) Vgl. Zeitschr. für Protest, u. Kirche а. a. 0 . S. 101.

*) Vgl. Tüh. Zeitschr. für Staatsw. а. a, 0 . S. 566.

3) Vgl. C. C o i g n e t , la morale independante. Paris 1869. Individualis­

mus und abstracte Gleichheitstheorie reichen sich hier die Hand.

Daher kann ich auch dem wohlgemeinten Rathschlage mei­

nes katholischen Recensenten nicht beistimmen, wenn er s a g t ' ) :

„Socialethik und Personalethik sollen nicht als Gegensätze be­

trachtet werden, sie sollen sich wechselseitig tragen und ergän­

zen; dann dürfe die Wissenschaft sich in dieser Hinsicht eines ächten Realismus rühmen." Mir scheint, der gesunde Realismus werde nur dann gewahrt, wenn man die Thatsachen reden lässt und die Erfahrung belauscht. Aus der Empirie aber ergiebt sich mir, dass eine Personalmoral nicht eine Ergänzung, sondern eine Zerstörung der wahrhaft ethischen Weltanschauung wäre.

Denn die Erfahrung lehrt, dass die Einzelperson n u r als Glied am Ganzen sittlich sich zu entwickeln und der Sitte gemäss zu handeln vermag. Im Wesen des Ethischen, als dem normativen Ausdruck für geistig-sittliche Geschichtsbewegung, liegt das Persönliche bereits mit enthalten, erscheint in demsel­

ben so zu sagen „aufgehoben" (um mit H e g e l zu reden) und gelangt zu seiner wahren, universell humanen Bedeutung.

Wir dürfen nie vergessen, dass Selbstlosigkeit — (Christus nennt es: „sein Loben verlieren") - die wenn auch für unseren Egoismus schmerzliche, aber unumgängliche Bedingung persön­

licher Grösse im christlichen Sinne ist. Selbstlosigkeit nicht im S c h o p e n h a u e r ' s c h e n oder H a r t m a n n ' s c h e n Sinne der Selbstvernichtung, sondern im Sinne der liebenden Hingabe an das Gute, als den gottgewollten G e m e i n s c h a f t s z w e c k !

Dass „diejenige Privatmoral, welche ich in Abgang decre-tiren zu müssen glaube, uuter Christen nie bestanden hat", wie P a l m e r s a g t2) , muss ich nach meiner Kenntniss namentlich rationalistischer Ethik bestreiten. Auch P a l m e r giebt zu, dass sie im practischen Leben vorkommt, nur dass er die Ethik nicht dafür verantwortlich machen will. Uebrigens bin ich vorläufig zufrieden mit dem Zugeatändniss, das er mir am Schlüsse seiner Kritik macht, indem er die von mir illustrirten Thatsachen als

„höchst dankenswerthe, das sittliche Auge schärfende Belege für alte ethische Wahrheiten" anerkennt, die „wir uns auf's Neue zu Herzen nehmen wollen, die uns auch in der wissen­

schaftlichen Ethik auf manches erst recht aufmerksam machen, was man sonst (— also doch? — ) mehr oder weniger unbe­

achtet Hess".

Namentlich haben einzelne treffliche, gegen den Schweizer

ii Vgl. Keusch'β theol.-Litcraturbl. а. a. 0. S. 469.

2) Vgl. Jahrbb. für deutsche Tlieol. a. a. 0 . S. 400.

Socialethik im Gegensatz zum Socialismns. 39 V i η e t und den Dänen K i e r k e g a a r d gerichtete Partieen in M a r t e n s e n ' s 4) jüngst erschienenen „christlichen Ethik" den schlagenden Nachweis geliefert, wie es auch positiven Christen gegenüber heut zu Tage Noth thut, immer wieder den „Indivi­

dualismus" zu bekämpfen, der sich nirgends so gern breit macht als innerhalb der subjectivistischen oder schwärmerischen Ge­

fühlsrichtung. Auch was M a r t e n s e n „Socialismus" als krank­

hafte Ausartung des Gemeinschaftstriebes nennt und bekämpft, ruht, wie mir scheint, mit dem Individualismus auf demselben principiellen Boden. Unter Socialismus verstehe ich aber nicht

„diejenige Richtung, durch welche die Gemeinschaft als höchster Endzweck der ethischen Entwickelung gesetzt wird." Die nivel-lirende Gleichheitstheorie ist es ja gerade, welche den Menschen lediglich als Einzelsubject und die Menschheit als Sammelbe­

griff, die jeweiligen sittlichen Organismen als Additionssummen schlechthin gleichberechtigter P e r s o n e n auffasst und eben da­

mit die tiefe Bedeutsamkeit gegliederter und geschichtlich ge­

wordener Gemeinschaft zerstört. Socialistische Ethik ist im schroffen Gegensatz zu der von mir befürworteten Socialethik nichts anderes als egoistische Personalethik „in des Worts ver­

wegenster Bedeutung". —

Freilich aber bin ich es der wissenschaftlichen Welt gegen­

über noch schuldig geblieben, die Probe für mein Exempel zu liefern. Daher meint selbstDr. A V a h l b e r g , von dessen Kritik ich am meisten gelernt, weil sie die sachlich schärfste war, sich noch eine „Reserve" in seinem Urtheil auferlegen zu müssen, wenn er meine Begriffsbestimmung der Socialethik eine unklare nennt und einen Widerspruch darin findet, dass ich bei Be­

tonung des socialen Factors doch mitunter die ethische Persön­

lichkeit in den Vordergrund ziehe. Allein bei dem nothwendi-gen Wechselverhältniss von Individuum und Gattung ist das, so scheint mir, nicht anders möglich. Die Schwierigkeit des vorliegenden Problems mag immerhin manche Unklarheit in dem Versuch der Lösung, wie in.der Präcisimng des Objects der Untersuchung zurückgelassen haben. Doch darf ich mich dar­

auf berufen, dass auch Gegner meiner Grundanschauung die Klarheit der Begriffsbestimmung anerkannt haben. Selbst W u t t k e 2) gesteht zu, dass nach meiner Darstellung es evident

1) Vgl. M a r t e n s e n , die christl. Ethik. Allg. Theil. Gotha 1871, S. 286—340.

2) Vgl. Zeitschr. für luth. Theol. а. а. О. S. 762.

sei, dass die „Socialethik" als diejenige E t h i k (wohl zu mer­

ken, sie bleibt immer Ethik d. h. Willens-, Sitten- und Charak­

terlehre) von mir bezeichnet werde, die „nicht von der Person zur Gesellschaft, sondern von der Gesellschaft zur Person fort­

geht", d. h. also die Gemeinschaft nicht als durch das Streben und den freien Entschluss der Einzelpersonen erst entstanden, sondern als das begriffliche und natürliche prius des Personen­

lebens der Einzelnen ansieht. Und B r u c h ' ) hebt sogar aner­

kennend die „unverkennbare Klarheit in dem Begriff der Social­

ethik hervor, sofern sie zum Zwecke hat, die allgemeinen Ge­

setze der Willensbewegung innerhalb des sittlichen Collectivkör-pers zu erforschen und zu bestimmen." — Dieser Begriff „erregt ihm zwar auch Bedenken", weil seiner Meinung nach auf die­

sem W e g e die Socialethik leicht wieder in die Bahnen der So-cialphysik einlenken, d. h. die Freiheitslehre und den geistig normativen Charakter des Gesetzes alteriren könnte; aber er bescheidet sich, ein Schlussurtheil zu fällen, bevor das Ganze vorliegt.

Indem ich das nunmehr vorliegende „Ganze" nicht ohne Zaghaftigkeit dem öffentlichen Urtheil unterstelle, möge es mir erlaubt sein, in wenigen Worten noch die Ilauptgesichtspunkte für die Gliederung und Behandlung des Stoffes in diesem deduc­

tiven Theile meiner Arbeit hervorzuheben.

Zunächst könnte es auffallen, dass ich dem versprochenen

„Systeme" einen allgemeinen grundlegenden Theil voraufschicke, welcher unleugbar viele in das System selbst hineingehörende sachliche Punkte vorausnimmt. Die propädeutisch einleitende Behandlung, so könnte es Manchem erscheinen, schwächt den Eindruck der systematischen Besprechung der einschlagenden ethischen Grundgedanken, und ermüdende Wiederholungen sind dann unvermeidlich.

Die Entschuldigung für dieses Verfahren liegt in einem doppelten Moment begründet, einem sachlich wissenschaftlichen und einem persönlichen.

In wissenschaftlicher Hinsicht erschien es mir wünschens-werth, ja n o t w e n d i g , zum Zweck einer Fundamentirung der Ethik2) zuvor festzustellen, was denn inhaltlich in der

systema-<) Vgl. Protest. Kirchenzeitung a. a. 0 . S. 151.

2) Vgl. Ε. M. Fr. Z a n g e , über das F u n d a m e n t der Ethik. Leipzig.

Gliederung dos Stoffes im deductivcn Theile. 41 tischen Disciplin der christlichen Ethik zu behandeln sei (das on) und -wie d. h. in -welcher Form und weshalb grade so jener Inhalt zur wissenschaftlichen Erkenntniss gebracht werden könne (das διότι).

Eine s a c h l i c h e Begrenzung der Aufgabe in propädeu­

tischer Form, gleichsam als allgemeine S u b s t r u c t i o n des Sy­

stems , war unumgänglich gegenüber der allbekannten Verwir­

rung, in welcher die philosophische wie theologische Ethik heut zu Tage sich findet, wenn es gilt klar und bestimmt zu sagen, wo die principiellen Grenzen ihres Inhalts nicht etwa bloss der Dogmatik, sondern auch der Rechtslehre, Staatswissenschaft, Na-tionaloconomic, Kunstlehre und Culturgcschichte gegenüber lie­

gen. Noch heut zu Tage gilt der Satz, den R o t h e vor etwa dreis-sig Jahren schon in der ersten Auflage seines Werkes aussprach:

„Eine Hauptursache des unleugbaren Zurückbleibens der Ethik, als philosophischer wie als theologischer hinter den meisten übri­

gen philosophischen und theologischen Disciplinen liegt augen­

scheinlich in der Unklarheit, über die man bei der Feststellung ihres Objectes nicht hinaus zu kommen pflogt". Es giebt in neuerer Zeit Theologen, welche dieses Gebiet gewissermaesen als „herrenlosen Urwald betrachten, in welchem sie nach rück­

sichtslosem Belieben roden, bauen und sich für allerhand Lieb-Hngsspeculationen behaglich einrichten können."

Wir könnten in dieser Beziehung von der Ethik mit grös­

serem Rechte als von der Dogmatik den von D a u b gebrauchten ~ Ausdruck aeeeptiren, dass sie eine „problematische Wissenschaft"

geworden sei. Ich brauche bloss an den Wirrwarr der „Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre" zu erinnern! Seit S c h l e i e r ­ m a c h e r den Gedanken ausgesprochen und zu begründen ge­

sucht hat, dass „vollendete Ethik Physik und vollendete Physik Ethik sei," ist die Grenzrogulirung selbst den Naturwissenschaften und der Volkswirthschaftslehrc gegenüber eine schwierige

ge-1872. An diesem mir soeben zu Gesicht kommenden Büchlein ist mir auf­

fallend erschienen, dass der „ B e g r i f f " der E t h i k , sofern es sich darum handelt, ob sie nach K a n t eine d e m o n s t r a t i v e oder nach S c h o p e n ­ hauer eine d e s c r i p t i v e W i s s e n s c h a f t sei, unter das ST» oder den I n ­ h a l t der E t h i k subsummirt werden soll! Das gehört doch ganz eigentlich zur principiellen Formfrage. Ausserdem giebt aber die genannte Schrift nicht, wie der Titel verspricht, ein^Fundament, eine Grundlegung der Ethik, sondern lediglich eine Kritik des Kant'sehen und S c h o p e n h a u e r ' s e h e n Moralprincips von Herbart'schen Prämissen und mit Herbart'schem Re­

sultat.

worden i) , während auf der anderen Seite in kirchlichen Krei­

sen die Gefahr droht, die Ethik ihrem Inhalte nach verkümmern und verschrumpfen zu lassen, indem man sie bloss als ein prac-tisches Anhängsel der Dogmatik oder Religionslehre zu betrach­

ten geneigt ist. Daher kann es für die ungestörte deductive Darlegung im System selbst nur ein Vortheil sein, wenn in den apologetisch gefärbten Prolegomenen des grundlegenden Theiles zuvor die Aufgabe selbst s a c h l i c h präcisirt wird. Es müssen vor Allem die Grundprobleme der Ethik ( S c h o p e n h a u e r ) in sauberer Umgränzung vorliegen und die sogenannten „patholo­

gischen Moralprincipien", wie sie neuerdings F r . J. S t e i n in etwas ungeschickter Weise bezeichnet hat, ausgeschieden wer­

den 2) .

Aber auch in Betreff der F o r m der Ethik, die ihr ja erst den w i s s e n s c h a f t l i c h e n Charakter und die fundamentale Begründung sichert, ist eine allgemeine, den Plan und die Be-handlungsweise des Ganzen eingehend motivirende erkenntniss­

theoretische Darstellung nicht zu vermeiden. Denn wie das de­

ductive Verfahren sich hier, auf dem Boden christlicher Sitten­

lehre, im Anschluss an die durch lnduction gewonnenen forma­

len Gesetze der Willensbewegung im ersten Theile, durchführen lässt, will sowohl der einseitig speculativen als der einseitig em­

pirischen Auffassung gegenüber gerechtfertigt sein.

Dass ich beide, die materiale wie die formale Grundlegung mit dem Zweck einer „Rechtfertigung der Socialethik" auszu­

führen versuche, erklärt sich bereits aus den in diesem

einlei-l) Vgl. den Aufsatz von H e m a n über „ S c h l e i e r m a c h e r ' s Idee vom höchsten Gut etc." in den Jahrbb. für deutsche Theol. 1872, S. 443 ff. Die­

ser treffenden Darlegung gemäss ist S c h l e i e r m a c h e r ' s Ethik eigentlich eine „höhere Nationalöconomie für die gesammte Menschheit." Denn es handle sich bei dem „Aufnehmen der Natur in die Vernunft" im Grunde um eine „Transsubstantiation des irdischen materiellen Gutes in die Theilnahme am menschlich persönlichen Leben", also um eine Art „Weltöconomie." Dass auch E o t h e ' s Grundansicht nicht weit davon entfernt ist, habe ich in §. 1 nachzuweisen gesucht.

2) V g l . Fr. J. S t e i n , historisch-krit. Darstellung der p a t h o l o g i s c h e n M o r a l p r i n c i p i e n und einiger ihrer vornehmsten Erscheinungsformen auf dem socialen Gebiete. Wien 1871. Was Dr. L i n s e n m a n n in Betreff des

„Unlogischen" der von S t e i n projectirten Fassung und Gliederung dieses Begriffs (in der theol. Quartalschrift 1872 S. 472 f.) ausgesprochen hat, ist sehr richtig. Aber um so nothwendiger erscheint eine kritische Prüfung der ethischen Pathologie. Vgl. §. 9 ff.

Die „allgemeine Grundlegung" und das „System." 43

tenden Vorworte enthaltenen apologetischen Gedanken meinen zahlreichen Gegnern gegenüber. Dass die propädeutisch-grund-legende Ausführung einen solchen Umfang gewonnen, hat (neben etwaiger Unfähigkeit des Verfassers kurz zu sein) einen durch­

aus zufälligen Grund, über welchen ich meinen Lesern noch Rechenschaft schuldig bin.

Ich habe im „zweiten Buche" das System selbst nicht aus­

führen, sondern nur im „Abriss" geben wollen, gleichsam als einen versuchsweisen „Entwurf zu einer christlichen Socialethik", wie ich sie mir denke. Daher musste die „Grundlegung" mehr Fleisch und Blut erhalten, gleichsam um den Leser vor der er-tödtenden Langeweile eines bloss skizzirten Systems zu be­

wahren.

Ich weiss, es ist immer etwas Oedes und Dürftiges um einen

„Abriss". Das Skelettartige lässt auf den ersten Blick nicht einmal die innere Nothwendigkeit des Zusammenhanges stets deutlich erkennen. Die Glieder des Ganzen werden dann leicht als bloss in einander gefügte oder an einander gehängte ange­

schen. Zusammensetzung, nicht organisches Wachsthum scheint uns entgegenzutreten und muthet nicht wohlthuend an. W o hingegen ein von innen pulsirendes Leben bis in die einzeln­

sten Glieder hinein das Ganze mächtig durchdringt, wo Fülle und Farbe in der Darstellung des Gesammtorganismus sich vereinigen, da werden wir eher angezogen und gefesselt.

Ich bin daher darauf gefasst, dass dieser systematische Theil wenige Leser ansprechen und befriedigen wird. Aber daran liegt mir zunächst auch nicht.

Wenn der Leib gut gebaut ist, so muss dieser Vorzug des Baues auch am Skelett hervortreten. Jedenfalls treten Fehler und krüppelhafte Gebilde deutlicher am Knochenbau hervor.

Woher käme es sonst, dass Künstler, die den Leib in den Grundverhältnissen seiner Gliedmassen richtig in plastischer oder malerischer Form reproduciren wollen, vor Allem ihre Studien dem Knochenbau zuwenden.

Je weniger die Darstellung blendend ist, je weniger eine etwa rhetorische oder sonst gefällige Diction den Leib umhüllt, desto eher werden die Fehler hervortreten, desto schärfer kann die Kritik ausfallen. Und daran liegt mir vor Allem. Nicht als lebte ich der Zuversicht, das Gold meiner Arbeit sei so feuer­

fest, dass keine Schlacken, kein „Holz, Heu und Stoppeln" sich finden und im Läuterungsfeuer wahrer Kritik verzehrt werden könnten. Ich wünsche durch ein unhestochenes öffentliches

Ur-theil zu lernen. Daher scheue ich mich nicht, den Gesammtleib, das eigentliche System christlicher Sittenlehre, wie ich mir das­

selbe vom socialethischen Gesichtspunkte aus vorstelle, zunächst in dieser dürren Gestalt ohne ausschmückendes Beiwerk der wissenschaftlichen Welt zu übergeben. Die „Grundlegung" mag als zeitgemässc und orientirendc Einführung in dasselbe für wei­

tere Leserkreise gelten.

Um in dem grundlegenden Theilc den Uoberblick des Ge­

dankenganges zu erleichtern, gleichsam als Corollarium für die Orientirung des Lesers, habe ich am Schluss jedes Paragraphen das „Resultat" der Entwickelung kurz zusammengefasst. In dem systematischen Theil erschien eine solche compendiöse Zusam­

menfassung nicht nothwendig, da die Darstellung selbst in mög­

lichst knapper Lehrsatzform sich bewegt. Ich hoffe dadurch auch meinen Zuhörern im Colleg einen Anhaltspunkt dargeboten zu haben, der sie des leidigen mechanischen Nachschreibens überhebt.

Der Citato glaubte ich mich in diesem deduetiven Theile, da sie nicht wie im ersten Bande zur Quellenangabe nothwendig waren, ganz enthalten zu können. W o ich Ansichten Anderer, sei es beifällig, sei es zum Zwecke der Abwehr, berühre, wie namentlich in der „allgemeinen Grundlegung" öfters geschieht, da habe ich stets den Namen des Autors hinzugefügt, aber die Anmerkungen oder Nebenausführungen unter dem Text vermie­

den. Ich hoffe der Leser wird mir in Rückerinnerung an die ermüdende Anmerkungsfülle des ersten Theilos für dieses Ver­

fahren Dank wissen.

Eine eventuelle Ausführung des „Abrisses" sowie die Hin- j zufügung einer bereits von mir in Angriff genommenen „ G e - j schichte der Ethik" möge der Zukunft überlassen bleiben. Es liegt mir daran, zuvor das öffentliche Urtheil über den vorlie­

genden „Versuch" abzuwarten. Eine gründliche Geschichte der Ethik ist solch eine Riesenarbeit, dass sich das „nonum prema- j tur in annum" dem gewissenhaften Forscher unwillkürlich vor =

die Seele stellt. f

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