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Wie gelingt Partizipative Gesundheitsforschung (PGF)

8 Machtfragen und abschließende Antworten (Reinhard Burtscher, Theresa Allweiss,

8.2 Abschließende Antworten

8.2.3 Wie gelingt Partizipative Gesundheitsforschung (PGF)

Die Partizipation von Menschen mit Lernschwierigkeiten in Forschungsprojekten ist für akademisch Forschende vielfach noch ungewöhnlich. Aufgrund spezifischer Aus-gangsbedingungen, die die Personengruppe mitbringt (z. B. kognitive Beeinträchti-gung, besondere Schulbiografien, Tendenz zur Fremdbestimmung durch institutionelle Settings, geringere Erfahrung mit Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen), ist ge-meinsames Forschen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten voraussetzungsvoll. Hier fassen wir noch einmal unsere Erkenntnisse für die PGF mit Menschen mit Lernschwie-rigkeiten zusammen. Eine vertiefende Auseinandersetzung zu dieser Fragestellung findet sich insbesondere im fünften Kapitel.

PGF braucht spezifische Rahmenbedingungen.

PGF kann funktionieren, wenn die Strukturen und Rahmenbedingungen gut vorberei-tet sind. Das beginnt mit Überlegungen zur Erreichbarkeit der Adressat ∕ -innen-Gruppe,

beinhaltet die Abwägung von personellen und zeitlichen Ressourcen und endet mit der Frage, wie mit Forschungsergebnissen umgegangen wird. Es ist ein Missverständnis, wenn akademisch Forschende meinen, es genüge, die Adressat ∕ -innen-Gruppe einfach zu fragen, was sie wolle. Dann werde sich der Forschungsprozess wie von selbst ent-wickeln. Das funktioniert unserer Erfahrung nach nicht. Ein vorstrukturierendes und reflektiertes Vorgehen ist wichtig. Zum Ergründen der Anliegen und Bedarfe braucht es Raum und Zeit, es bedarf der Anregungen und möglicherweise der Inputs von außen, mit vorstrukturiertem Material, mit methodisch-didaktischen Hilfsmitteln und nicht zu-letzt mit dem Aufzeigen von Wahlmöglichkeiten. Auch Einfühlungsvermögen in die Lebenslagen der Mitforschenden und ein hohes Maß an Flexibilität sind notwendig, um einen Raum der Ko-Kreation von Wissen zu ermöglichen.

In der PGF ist die Beziehungsgestaltung von besonderer Bedeutung.

Ein Schlüssel zu erfolgreicher Partizipativer Forschung liegt in der Gestaltung der Be- ziehungen zwischen den Menschen mit Lernschwierigkeiten und den akademisch Forschenden. Die ersten unmittelbaren gemeinsamen Erfahrungen und die Art und Weise, wie die Beteiligten miteinander umgehen, entscheiden maßgeblich über den Verlauf des Forschungsprozesses. Damit die Beziehung zwischen anfangs fremden Personen gelingen kann, braucht es persönliche Begegnungen und eine ausreichend lange Kontaktzeit. Nur so kann eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden, kann Vertrauen wachsen und wechselseitig Wertschätzung entgegengebracht werden. Zwi-schen den akademisch ForZwi-schenden und den MitforZwi-schenden sollte anstelle einer pro-fessionellen Distanz eine professionelle Nähe gepflegt werden. Es geht darum, sich gegenseitig besser kennenzulernen, indem man sich auf den Anderen einlässt, sowie darum, dass man eigene Stärken und Schwächen zu erkennen gibt. Dieses Einlassen auf den Anderen geht einher mit der Bereitschaft, formale Statushierarchien und da-mit verbundene Machtdynamiken zu besprechen. Die unterschiedlichen beruflichen Positionen sollten zugunsten gemeinsamen Handelns am und mit dem Forschungs-gegenstand an Bedeutung verlieren. Aus unserer Sicht ist es falsch, so zu tun, als ob alle Mitglieder in der PGF gleich seien. Vielmehr geht es darum, gleichberechtigt mit-zubestimmen und mitzugestalten. Das ist ein fundamentaler Unterschied: „Wir sind alle gleich!“ verschleiert soziale Zuschreibungen und Statuszuweisungen. „Wir sind alle verschieden!“ ermöglicht es, die unterschiedlichen Rollen und die damit einherge-henden Kompetenzen wahrzunehmen, anzuerkennen und als wertvolle Ressource zu sehen. Auch wenn der Ansatz der PGF eine maximale Mitgestaltung aller Beteiligten anstrebt, bedeutet das nicht, dass alle das Gleiche tun müssen. Ein Leitsatz aus un-serer Erfahrung lautet daher: Nicht alle können das Gleiche tun. Aber es müssen auch nicht alle alles tun.

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Eine verständliche Kommunikation ist dringend erforderlich.

Eine verständliche Kommunikation ist in allen Belangen des Forschungsprozesses unumgänglich – sie sollte sich an den Bedürfnissen der Mitforschenden orientieren.

Gerade für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist ein bewusster und sensibler Umgang mit Sprache besonders bedeutsam. „Leichte Sprache” kann dabei hilfreich sein, sie ist aber nicht das einzige Mittel. Rückversicherungsschleifen (teach-back method ∕ show-me show-method) unterstützen den Verständigungsprozess ebenfalls. Dabei werden die Aussagen eines Gegenübers mit eigenen Worten wiedergegeben. Falsch verstandene Informationen können so korrigiert, und eine verständliche Kommunikation kann aufgebaut werden. Für akademisch Forschende ist die verständliche Sprache unter Umständen eine Herausforderung. Sie können sich nicht hinter einer Fachsprache verstecken. Sie müssen selbst die fachwissenschaftlichen Inhalte durchdrungen und verstanden haben. Erst dann ist es möglich, eine klare und deutliche Sprache zu fin-den und in einfachen und kurzen Sätzen zu formulieren. Neben dem Bemühen um ver-ständliches Sprechen und Schreiben kann der bewusste Einsatz von Bildern nützlich sein. Die Auswahl von Bildern ist jedoch eine eigene anspruchsvolle Aufgabe, denn Bilder sind vielfältig interpretierbar.

PGF wird durch ein gemeinsames Thema angeregt und weniger durch die Festlegung von Zielen.

Neben dem Wohlfühlen in der Lern- und Forschungsgruppe (also einer positiven Grup-pen- bzw. Arbeitsatmosphäre) ist das gemeinsame Thema die verbindende Klammer und der treibende Motor in der PGF. Mit dem gemeinsamen Thema ist ein Denk- und Handlungsraum abgesteckt, mit dem sich die einzelnen Gruppenmitglieder identifi-zieren können. Es stellt den Kristallisationspunkt zur Gemeinschaftsbildung dar. Die Verständigung auf gemeinsame Ziele ist sicherlich wertvoll und wichtig, aber wir mussten feststellen, dass sowohl die Menschen mit Lernschwierigkeiten als auch wir akademisch Forschenden teilweise unterschiedliche Ziele verfolgten. Verbunden und immer wieder zu Anstrengungen motiviert hat uns letztlich das gemeinsame Thema der Gesundheitsförderung.

Die Unmittelbarkeit von Sinn und Bedeutung führt zum Erfolg.

PGF ist für Menschen mit Lernschwierigkeiten interessant, wenn ein unmittelbarer Gewinn erfahrbar wird. Die Zusammenarbeit mit akademisch Forschenden muss für sie zeitnah sinnvoll und bedeutsam sein. Wenn dem Lernen und Forschen kein Sinn und keine Bedeutung mehr beigemessen werden kann, geht die persönliche Motiva-tion verloren und die Beteiligung wird aufgekündigt. Dabei können die subjektiven

Gewinnerwartungen und -erfahrungen sehr unterschiedlich ausfallen. Für die einen genügt das Thema allein, um Neugierde und anhaltende Spannung zu erzeugen. An-dere erleben die Beziehungserfahrungen innerhalb der Gruppe als positive Sinnerfah-rung. Sie machen mit, weil sie Anerkennung, Abwechslung und ∕ oder Spaß erleben.

Wiederum andere sehen eine Chance zur Persönlichkeitsentwicklung oder eine Gele-genheit zur Qualifizierung. Sie erkennen Möglichkeiten, Einfluss auf sich und andere zu nehmen. Diese Aufzählung könnte noch weitergeführt werden. Wichtig erscheint jedoch, dass von den akademisch Forschenden ein Gewinn durch die Zusammenarbeit nicht in ferner Zukunft versprochen wird, sondern dass dieser Gewinn zeitnah als un-mittelbare Erfahrung erlebt werden kann.

PGF kann gelingen, wenn ethische Fragen reflektiert werden.

PGF lebt vom „kulturellen Insiderwissen” bzw. vom authentischen Expertenwissen der beteiligten Akteur ∕ -innen (Kapitel 5). Die in diesem Kontext entstehenden ethischen Fragen (Unger 2014) können zu Dilemmata führen. Ein typisches Beispiel betrifft die Vertraulichkeit und Anonymisierung bei der Veröffentlichung von Forschungsergeb-nissen. Wenn Mitforschende in Vorträgen ihre Ergebnisse präsentieren, dann bekom-men sie ein Gesicht und geben einen Teil von sich preis – das kann auch negative Folgen haben. In der PGF ist deshalb das Prinzip der „Schadensfreiheit” wichtig. Es besagt, dass die möglichen Folgen von Forschungshandlungen von den Beteiligten eingeschätzt werden müssen. Ein informiertes Einverständnis über die Ziele, den Entstehungsprozess und die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen ist immer anzustreben. Um sich informiert entscheiden zu können, brauchen Menschen mit Lernschwierigkeiten zuweilen persönliche Unterstützung und Aufklärungsmaterial in Leichter Sprache. Und dennoch lässt sich Einigkeit zwischen akademisch Forschenden und Mitforschenden nicht immer herbeiführen. Wenn das nicht gelingt, stecken die Beteiligten in einem ethischen Dilemma. Aus forschungsethischer Perspektive gilt, dass alle Beteiligten mögliche Risiken gut abwägen sowie Maßnahmen ergreifen sollten, um die Risiken zu verringern und Schaden zu vermeiden. Aufgrund ihrer akademischen Erfahrung und ihrer wissenschaftstheoretischen Ausbildung haben hier insbesondere die Akteur ∕ -innen aus der Hochschule eine besondere Verantwortung.

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