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Ausgangssituation und Überblick

2 Gesundheitsforscher ∕ -in der WfbM – Der Gesundheitskurs (Reinhard Burtscher)

2.1 Ausgangssituation und Überblick

Wir entwickelten einen Gesundheitskurs mit dem Titel „Gesundheitsforscherin ∕ Gesund-heitsforscher in der Werkstatt für behinderte Menschen“. Die Kursplanung erfolgte nicht nur am Schreibtisch, sondern wir nutzten unterschiedliche Datenquellen und Erhebungsmethoden, um die Bedarfe von Menschen mit Lernschwierigkeiten besser kennenzulernen. Die wichtigsten Informationsquellen für die Planung waren:

• eine Literaturrecherche,

• eine Fragebogenerhebung während eines Sommerfestes der LWB (90 Fragebögen),

• zwei Probeworkshops zum Thema Gesundheitsförderung im Berufsbildungsbereich der LWB,

• Gespräche mit Praktikerinnen und Praktikern in der LWB und auf Fachkonferenzen,

• Beratungen und Diskussionen im Projektteam und im Projektbeirat.

Unser leitendes Interesse war, die Forschung so partizipativ wie möglich zu gestalten.

Damit verbanden wir die Hoffnung, Fragestellungen im Bereich der (Betrieblichen) Ge-sundheitsförderung partnerschaftlich mit Menschen mit Lernschwierigkeiten bearbei-ten zu können. Das bedeutete für den Kurs, dass wir mit einem inhaltlichen Grobkon-zept starteten, ohne alle Inhalte schon zu Beginn festzulegen. Wir hatten einen „roten Faden”, aber die inhaltliche Konkretisierung entwickelten wir gemeinsam mit den Kurs-teilnehmenden, die sich im Fortgang des Kurses immer intensiver einbrachten und be-teiligten. Die Interessen der Teilnehmenden, ihre Fragen und Bedarfe führten zu einer

GESUnDHEIT

IcH BETRIEB

PARTIzIPATIV FoRScHEn

kontinuierlichen Fortschreibung des Gesamtcurriculums. Der Kurs sollte Menschen mit Lernschwierigkeiten neugierig machen auf das Thema Gesundheitsförderung. Unser ziel war die Erweiterung der individuellen Gesundheitskompetenz (Schaeff er & Pelikan 2017) bei den Kursteilnehmenden. Vor allem sollten sie lernen, ihre eigenen gesund-heitsspezifi schen Anliegen wahrzunehmen, zu formulieren, zu vertreten und möglichst auch durchzusetzen. Darüber hinaus qualifi zierten wir die Kursteilnehmenden zu Mit-forschenden im betrieblichen Kontext. Sie lernten Aufgaben von Forscherinnen und Forschern kennen und wurden angeleitet, eigenständige Forschungsfragen zu Gesund-heitsthemen im Betrieb zu entwickeln.

Das Bild einer Vier-Felder-Matrix diente uns zur zuordnung von Themen und Inhalten.

Vier Ausgangspunkte bildeten die Grundstruktur des curriculums. Damit konnten wir ein inhaltliches netz knüpfen, zusammenhänge herstellen und Verbindungslinien auf-zeichnen. Die vier Punkte defi nierten wir wie folgt:

• ICH steht für Inhalte mit starkem persönlichen Bezug (Erfahrungswissen, biografi sches Wissen).

• GESUNDHEIT meint spezifi sches Fachwissen und Gesundheitsinformationen.

• BETRIEB umfasst die Inhalte mit der Ausrichtung auf die Kolleg ∕ -innen und Mitarbeiter ∕ -innen sowie die Werkstatt als organisation.

• PARTIZIPATIV FORSCHEN behandelt methodisches Wissen aus dem Bereich der Forschung.

Die Logik des curriculums folgte einem off enen und didaktisch fl exiblen Angebot ent-sprechend den Lernbedürfnissen der Teilnehmenden. Die Vier-Felder-Matrix erleichterte die Systematisierung im Gesamtkontext.

Abb. 2.1: Vier-Felder-Matrix von Themen

Gemeinsam forschen – Gemeinsam lernen 33

2

Bei den meisten Kursthemen starteten wir mit dem Erfahrungswissen der Teilneh-menden. Wie wir methodisch-didaktisch vorgingen, ist in unserer Praxishilfe ausführ-lich dokumentiert (Burtscher et al. 2017). Hier ein Beispiel zur Verdeutausführ-lichung unseres Vorgehens:

„Schmerz” in der Themen-Matrix

Der Anlass war ein Gespräch über Kopfschmerzen bei der Arbeit und die Frage nach der Ursache der Schmerzen. Im Gesundheitskurs griffen wir diese Fragestel-lung auf. Das Ich und die persönliche Erfahrung bildeten den Ausgangspunkt.

Im Kurs erweiterten wir gemeinsam den Blick und stellten spezifisches Wissen aus den Gesundheitswissenschaften zur Verfügung (Bezugspunkt Gesundheit).

Wir sprachen zum Beispiel über verschiedene Formen von Schmerzen, suchten bestimmte Wörter zur Beschreibung von Schmerz und lernten die Funktion von Schmerz kennen. Danach fragten wir nach Ursachen und kamen auf den Betrieb zu sprechen. Wir untersuchten die Lärmbelastung im Betrieb und sprachen über das Raumklima. Wir interessierten uns dafür, ob auch andere Menschen im Be-trieb über Kopfschmerzen klagten. Gemeinsam stellten wir Fragen zusammen und führten eine mündliche Befragung in einer Abteilung der LWB durch (Bezugspunkt PARTIzIPATIV FoRScHEn). Mit den Ergebnissen erhielten wir Hinweise auf die betrieblichen Verhältnisse. Die Behandlung des Themas unter den verschiedenen Bezugspunkten führte uns schließlich zu den zwei zentralen Ansätzen für Präven-tion: 1. Durch die Diskussion über mögliche Ursachen von Kopfschmerzen und die Stärkung der Persönlichkeit zielten wir auf eine Verhaltensprävention ab: Wie kann ich selbst Kopfschmerzen vorbeugen? 2. Indem wir die Situation am Arbeits-platz einbezogen, suchten wir nach strukturellen Ursachen und leisteten einen Beitrag zur Verhältnisprävention: Welche belastenden Arbeitsbedingungen gibt es, die zu Kopfschmerzen führen? Wie lassen sich diese Bedingungen verändern?

neben der inhaltlichen Strukturierung des curriculums erfolgte auch eine tätigkeitsori-entierte Strukturierung. Das curriculum gliederte sich somit in a) eine kursspezifische Phase und b) eine projektorientierte, offene Phase.

Die kursspezifische Phase war stärker vorstrukturiert und mit klassischen Workshops in der Weiterbildung vergleichbar. Sie dauerte sechs Monate und konnte mit einem zertifi-kat abgeschlossen werden. Anschließend folgte eine Phase, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eigene Projekte vorbereiteten und mit Begleitung durchführten. Die projektorientierte Phase endete nach drei Monaten mit einer Ergebnispräsentation im Betrieb.

Aus der Tabelle 2.1 ist die Struktur der kursspezifischen Phase ersichtlich: die Anzahl der Module, die Titel der Module und eine zeitangabe in Form von Lerneinheiten (LE

= 45 Minuten). In GESUnD! fand der Kurs wöchentlich am Mittwochvormittag von 8 bis 12 Uhr statt. Bei jedem Termin von vier Zeitstunden konnten jeweils vier Lerneinheiten abgehalten werden. Mit der Pausenregelung orientierten wir uns am Bedarf innerhalb der Gruppe. Wir starteten Mitte September und berücksichtigten jahreszeitliche Ereig-nisse (z. B. Herbstzeit = Erkältungszeit) und Feierlichkeiten (Weihnachtsfeier im Kurs).

Tab. 2.1: Die kursspezifische Phase

Nr. Titel des Moduls Lerneinheiten

1 Einführung 4

2 Gesund leben 8

3 Bewegung 8

4 Ernährung 8

5 Stressreduktion und Entspannung 8

6 zwischenauswertung 4

7 Das Gesundheitssystem 8

8 Frauen- und Männergesundheit 4

9 Gesundheit im Betrieb 4

10 Motivation, Lust und Frust 4

11 Partizipation: Mitbestimmung und Mitentscheidung 4

12 Abschluss Phase 1: Evaluation und Ausblick 4

Mit der Absolvierung der kursspezifischen Phase erreichten die Teilnehmenden niveau-stufe 1. Danach erhielten sie die Möglichkeit, ihr forschendes Lernen in einer projekt-orientierten Forschungswerkstatt fortzusetzen und damit niveaustufe 2 zu erreichen (Tabelle 2.2). Der Kurscharakter wurde in dieser zweiten Phase aufgelöst. In zwei klei-neren Projektgruppen vertieften wir zusammen über einen Zeitraum von drei Monaten jeweils ein spezifisches Thema.

Tab. 2.2: Die projektorientierte Phase

Nr. Titel des Moduls Lerneinheiten

13 Gesundheitsforschung 4

14 Projekte planen und umsetzen 4

15 Projektphase 40

16 Präsentation der Projekte 4

17 Evaluation und Ausblick 4

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Man könnte auch so formulieren: Die Kursgruppe teilte sich in zwei gemischte For-schungsteams, bestehend aus Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Rolle als Mitforschende und uns, den akademisch Forschenden. Wir boten methodische und strukturierende Hilfen an und unterstützten die Mitforschenden in allen Phasen des Projekts.

Im Sinne von Partizipativer Forschung

• entwickelten die Forschungsteams die Fragestellungen,

• erhoben sie Daten,

• diskutierten, systematisierten und interpretierten sie die Ergebnisse der Datenerhebung,

• erarbeiteten sie konkrete Empfehlungen für den Betrieb,

• stellten sie Ergebnisse mittels Projektpräsentationen vor.

Die Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer im Projekt GESUND! wählten die beiden Themen „Gesundes Essen“ und „Lärm im Betrieb“ für die Projektphase aus. Die For-schungsteams realisierten zusammen Befragungen in unterschiedlichen Abteilungen der WfbM, führten ein Fotoprojekt durch, deckten Probleme auf und entwickelten Empfehlungen und Lösungsstrategien (siehe Abschlussberichte, online: https:∕∕www.

vdek.com∕projektgesund.html).