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Verschiedene Aspekte von Macht

8 Machtfragen und abschließende Antworten (Reinhard Burtscher, Theresa Allweiss,

8.1 Verschiedene Aspekte von Macht

Kraus und Krieger (2014) bieten eine empfehlenswerte Einführung zum Thema Macht in der Sozialen Arbeit. Sie schreiben:

„Macht” […] ist ein höchst unsympathischer Begriff. Wir assoziieren ihn mit der Behinderung der freien Persönlichkeit, der Unterdrückung von gesellschaftlichen Gruppen, der rücksichtslosen Durchsetzung parti-kularer Interessen und sogar mit der politischen Hintertriebenheit, dem zu verantwortenden Unrecht auch noch Legitimation zu verschaffen. Wir assoziieren ihn mit Boshaftigkeit, Arglistigkeit und Eigennützigkeit.

Ein solcher Begriff der Macht suggeriert allzu leicht eine Personifizierung jener Kräfte, denen das Sub-jekt – wider Willen – unterworfen ist. Die Alltagssprache fasst noch wie selbstverständlich den Begriff der Macht so, als ob sie sich im Besitz von Wenigen befinde, als ob sie ein Gut sei, eine Disposition, ein Kapital, welches durch vorteilhafte Umstände Privilegierten zufalle. Dabei wird übersehen, dass Macht von Menschen gemacht wird, dass sie in sozialen Prozessen unvermeidlich entsteht, wo immer Regeln geschaffen, Kompetenzen verteilt, Abhängigkeiten arrangiert und ausgewählten Rollenträgern ein An-spruch auf bestimmte Rechte und Ressourcen zugesprochen wird. […] Es gibt, so sagt es POPITZ daher keine „machtsterilen Verhältnisse.” (Kraus & Krieger 2014, S. 9 ff.)

Unsere Erfahrungen stützen die These, dass die Entstehung von Machtstrukturen in sozialen Prozessen unvermeidlich ist, dass aber zu wenig darüber gesprochen wird. In der Praxis der Partizipativen Forschung wird eher ungern über Machtfragen reflektiert, weil damit konfliktreiche Auseinandersetzungen verbunden sein können (Dieterich &

Hahn 2012, S. 117). Wir nehmen zudem eine Kluft wahr zwischen dem theoretischen

Anspruch auf geteilte (Entscheidungs-) Macht und der realen Handlungspraxis. Wenn beispielsweise unterschiedliche Meinungen in einer Forschungsgruppe gegeben sind, wenn Dilemmata-Situationen vorliegen, dann zeigt sich das Machtgefälle unter den Beteiligten deutlich. Eine „kritische Reflexivität“ und die Auseinandersetzung mit for-schungsethischen Fragen (Roth & Unger 2018) ist dann besonders gefragt, aber eben auch besonders schwierig.

Machttheoretische Diskurse können auf unterschiedlichen Ebenen und unter verschie-densten Gesichtspunkten abgehandelt werden. Im Folgenden wollen wir drei Ebenen der Macht kurz benennen, weil sie den Prozess und die Ergebnisse von Partizipativer Forschung beeinflussen. Außerdem können wir auf allen drei Ebenen Erfahrungen aus unserer Forschungspraxis einfließen lassen.

8.1.1 Machtverhältnisse in der Interaktion von Menschen

In der Partizipativen Forschung arbeiten akademisch Forschende (aus dem Wissen-schaftsbetrieb) mit Menschen zusammen, die vom unmittelbaren Forschungsgegen-stand betroffen sind. Das Bemühen, auf Augenhöhe zu interagieren, gleichberechtigt und in einem symmetrischen Beziehungsverhältnis, stellt dabei oft eine Herausforde-rung dar. Die Asymmetrie der Beziehungen zeigt sich in den unterschiedlichen Erwar-tungen, die gegenseitig ausgesprochen oder zugesprochen werden. Diese Erwartungen wirken in den sozialen Handlungen, die durch Interaktionsprozesse provoziert werden.

Machtdynamiken werden bewusst eingesetzt oder entwickeln sich unbewusst; sie tre-ten offen zutage oder werden verdeckt innerhalb des Beziehungsgefüges aktualisiert.

Ein wesentlicher Wirkfaktor ist dabei die ausgewiesene Rolle der Beteiligten und die damit verbundenen und zugeschriebenen Kompetenzen. Ein ∕ e Akademiker ∕ -in aus dem Wissenschaftsbetrieb bringt anderes Wissen (z. B. Kenntnisse über theoretische Modelle, Methodenwissen) in den Forschungsprozess ein als ein ∕ e Mitforschende ∕ r (z. B. Lebensweltexpertise, implizites Wissen1). Die bewusste Anerkennung und Nut-zung dieser unterschiedlichen Wissensformen sowie die offene Benennung von Gren-zen eigener Kompetenz könnte ein positives, d. h. ein ausgeglichenes Machtgefüge begünstigen. Wenn aber eine Auseinandersetzung darüber nicht stattfindet, dann wird die Rede von einer „Zusammenarbeit auf Augenhöhe” oder von „geteilter Ent-scheidungsmacht” zur wohlklingenden, aber irreführenden Floskel. Eine Formulierung

1 Wir verweisen hier auf die Praxistheorie (Theorie sozialer Praktiken; Praxeologie) die für die Partizipa-tive Forschung fruchtbringend sein könnte, aber bislang wenig beachtet wurde. Die Theorie sozialer Praktiken beschäftigt sich u. a. mit „der Praxis in Körpern und Artefakten, der ‚impliziten‘ Logik der Praxis im praktischen Wissen sowie der Routinisiertheit und gleichzeitig Unberechenbarkeit der Praxis“.

(Reckwitz 2003, S. 284)

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wie „Wir haben gemeinsam entschieden.“ verschleiert allzu oft, dass die Entscheidung allein von den Wissenschaftler ∕ -innen getroffen wurde (vgl. Kapitel 5).

Auch im Projekt GESUND! war es nicht immer leicht, zu einer „gemeinsamen” Ent-scheidung zu gelangen. Zum einen hing das mit der Rollenzuschreibung als Akade-miker ∕ -innen zusammen, zum anderen mit der für die Mitforschenden ungewohnten Situation, Entscheidungen verantwortungsvoll mitzubestimmen. Nicht selten wurden unsere Vorschläge oder auch Bedenken zu Themen von den Mitforschenden kritiklos übernommen. Als Akademiker ∕ -innen mussten wir sehr behutsam vorgehen und eine große Sensibilität entwickeln, um die tatsächlichen Auffassungen und Meinungen der Mitforschenden wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Wunsch und Wille der Mitfor-schenden kamen oftmals nur in Pausengesprächen zum Ausdruck. Diese Äußerungen aufzugreifen und sie in den Entscheidungsfindungsprozess einzubauen, war ein wich-tiges Element kritischer Reflexivität.

8.1.2 Die strukturelle Macht der Systeme

In der Partizipativen (Gesundheits-) Forschung geht es darum, Menschen, die benach-teiligt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, zu unterstützen und zu stärken. Soziale Benachteiligung ist das Ergebnis sozialer Ungleichheit, die in der un-gleichen Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen zum Ausdruck kommt.

Verschiedene Systemwelten (re-) produzieren diese Ungleichheit. Systemwelten sind u. a. das Bildungssystem, die Arbeitswelt, das Einkommenssystem, das Wissenschafts-system, aber auch das symbolische Kapital (das „Anerkennungssystem”) nach Pierre Bourdieu (2015 ∕ 1992). Wenn unterschiedliche Barrieren den Zugang verhindern, dann zeigt sich hierin die strukturelle Macht der Systeme. Dazu drei Beispiele:

• Das derzeitige Bildungssystem hält für Menschen mit Lernschwierigkeiten kaum Angebote im Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung bereit, Hochschulen und Universitäten bleiben ihnen als Bildungsinstitutionen nahezu vollständig ver-schlossen. Die Chance, sich nach der Pflichtschulzeit im Rahmen organisierten Ler-nens weiterzubilden, ist in Ermangelung passender Angebote weitgehend verwehrt (BMAS 2016, S. 140 ff.). Im Projekt GESUND! organisierten wir eine Forschungs-werkstatt im Rahmen eines Hochschulseminars (Kapitel 3) und stellten damit die Wirksamkeit lernenden Forschens mit der Zielgruppe unter Beweis. In der Umset-zung der Idee einer inklusiven Hochschule sehen wir auch zukünftig eine wichtige Aufgabe, um für Menschen mit Lernschwierigkeiten neue Bildungsmöglichkeiten zu erschließen.

• Das Sozialsystem mit den bestehenden Regeln zur Grundsicherung bei Erwerbs-minderung hält die Menschen gewissermaßen in einer „Falle” gefangen. Jedes

zu-sätzliche Einkommen, das von Betroffenen erzielt werden kann, wird direkt von der Grundsicherung abgezogen. Daher lohnt es sich für Bezieher ∕ -innen der Grund-sicherung zumindest aus monetären Gründen kaum, sich anzustrengen. Letztlich bleibt vom selbst verdienten Geld nichts oder nur wenig übrig. Diese „Sozialhilfe-falle” erlebten die Mitforschenden im Projekt GESUND!, wenn sie beispielsweise für Vorträge ein Honorar bekamen und nichts davon behalten durften.

• Das Wissenschaftssystem übt häufig Definitionsmacht und Deutungshoheit über die soziale Wirklichkeit aus. Dieser Einfluss kann problematische Folgen haben.

Die in den 1970er-Jahren begründete Psychiatriekritik zeigt etwa Beispiele wissen-schaftlicher Machtausübung auf, wenn sie beschreibt, wie die psychiatrische Klassi-fizierung bestimmte Zwangsmaßnahmen gegenüber den Patient ∕ -innen nach sich zog. Im Projekt GESUND! definierten wir die Menschen mit Lernschwierigkeiten als Adressatengruppe. Wir stellten sie bewusst in den Mittelpunkt, um sie zu unterstüt-zen. Nach unserer Definition waren sie eine vulnerable und benachteiligte Zielgrup-pe (vgl. Ausschreibungstext des BMBF 2013). Gleichzeitig ist das aber auch eine defizitorientierte Definition, die stigmatisierend und ausgrenzend sein kann. Denn sie blendet auf den ersten Blick Ressourcen und Kompetenzen aus. Und Menschen, die nicht unter diese Definition gefallen wären, hätten nicht teilnehmen können.

8.1.3 Die transformative Macht der Partizipativen Forschung

Partizipative Forschung könnte eine transformative Kraft entfalten, die hilft, den vor-herrschenden Wissenschaftsansatz zu ergänzen und damit neue Erkenntnisse zu gewin-nen. Durch Partizipative Forschung entsteht eine neue Praxis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (Wright & Kongats 2018). Sie hinterfragt die Definitions- und Deu-tungsmacht von Wissenschaft, indem sie Menschen aktiv einbezieht, die von Forschung unmittelbar betroffen sind. Durch das Wirken von Partizipativer Forschung kann zudem eine sich gegenseitig befruchtende Dynamik im Verhältnis zu anderen Wissenschafts-ansätzen entstehen, etwa im Bereich der Methodenentwicklung oder in Fragen des Theorie-Praxis-Transfers von Forschungsergebnissen. Wenn Partizipative Forschung ihre Stärke und ihren Wert deutlich machen kann, dann beeinflusst sie möglicherweise zu-künftig verschiedene Forschungsprogramme, die Auswahl von Forschungsthemen und die Zuweisung von finanziellen Mitteln und Ressourcen. Dadurch könnte Partizipative Forschung mehr Macht erhalten, die Lebensqualität von benachteiligten Menschen zu verbessern. Dieser Begriff von Macht entspräche dem etymologischen Ursprungsbe-griffs der „potentia”, was so viel bedeutet wie: in der Lage zu sein, etwas zu tun; etwas zu können; fähig zu sein, etwas zu vermögen.

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