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Widerspruchslinie II: Widersprüche zwischen der Lebensqualität in und

4 Vermarktlichung und Subjektivierung in Industrieunternehmen und der

4.3 Widersprüchliche Dynamiken in Industrie- und Pflegearbeit unter vermarktlichten

4.3.2 Widerspruchslinie II: Widersprüche zwischen der Lebensqualität in und

Wie wir oben dargestellt haben (vgl. Kap. 3.3), wird es gesellschaftlich zunehmend als indi-viduelle Verantwortung organisiert, trotz der hohen (und teils widersprüchlichen) Anforde-rungen in verschiedenen Lebensbereichen die eigene Reproduktion zu organisieren. Diese Gestaltung des Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und restlichem Leben ist dabei aber stark

von indirekten und direkten Zwängen, hohem Leistungsdruck und hohen Verfügbarkeitser-wartungen in Unternehmen geprägt (Kratzer 2003: 208f, Boes u.a. 2008: 60f, D'Alessio u.a.

2000). Die Spielräume in der Vereinbarkeit von unterschiedlichen Lebensbereichen sind vor allem der lebensweltlichen Flexibilität und nicht der arbeitsweltlichen Flexibilisierung ge-schuldet (Vgl. Jurczyk u.a. 2009, Kratzer 2003: 209). Beschäftigte haben unter diesen Bedin-gungen Probleme, individuell gesetzte Grenzen immer wieder aktiv zu behaupten (ebd., Boes u.a. 2008: 60f).

Insbesondere zeitlich und räumlich entgrenzte Arbeitsformen, die auf (oft informelle) Aus-handlungsprozesse setzen, verstärken oft den Druck auf die Beschäftigten, die Lebensführung den Anforderungen der Erwerbsarbeit flexibel anzupassen. Dieser Druck nimmt dabei ver-schiedene Formen an: In der Industrie gibt es eine Heterogenität durch die verver-schiedenen Ar-beitszeitmodelle. Im Fertigungsbereich mit standardisiert flexibler Schichtarbeit plant eine knappe Personalbemessung Überstunden als Normalität ein, während Handlungsspielräume von Hochqualifizierten durch indirekte Steuerungsformen wie hochflexible Gleitzeit oder Vertrauensarbeitszeit gekennzeichnet sind. Die dominanten Karrieremodelle in den techni-schen Berufen der Industrie sind an männlichen Karrieremustern orientiert, d.h. wer stark in familiäre Sorgearbeit eingebunden ist, kann die geforderte Präsenz nicht aufbringen. Im Be-reich der Altenpflege sind die Spielräume der Beschäftigten durch Schichtarbeit und spontane Zusatzdienste geprägt.

Dass ein gut lebbares Verhältnis zwischen Lohnarbeit und menschlichen Reproduktions-bedingungen schwer herstellbar ist, wird u.a. an aktuellen Studien zu gesundheitlichen Belas-tungen deutlich. Im „System permanenter Bewährung“ werden Beschäftigte „dazu getrieben, sich gegen ihre Gesundheit zu wenden“ (Boes u.a. 2008: 53). Der Wandel von Vertrauens- zu Kontrollkultur und die permanente Reorganisation von Prozessen und betrieblichen Arbeits-zusammenhängen stellen spezifische Belastungskonstellationen dar. Vermarktlichung kontkariert Nachhaltigkeit und Qualität der Arbeit; permanente Verfügbarkeitserwartungen er-schweren das Grenzenziehen zu anderen Lebensbereichen (ebd.). In einer repräsentativen Betriebsrätebefragung von WSI und PAREGMA21 gaben 79% der Betriebräte an, dass die psychischen Belastungen für die Beschäftigten steigen. Die Erhöhung des Leistungs- und Zeitdrucks hat dabei eine zentrale Bedeutung (Dunkel u.a. 2010, Böhle 2010). Krankenkassen verzeichnen seit Jahren einen massiven Anstieg der psychischen Erkrankungen. Sie sind mitt-lerweile der häufigste Grund für gesundheitsbedingte Frührenten (Heyde/Macco 2010: 31).

Ihre Bedeutung für Erwerbsunfähigkeit nimmt insgesamt zu (ebd.). Insbesondere im Pflege-bereich ist die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen als Grund für Erwerbsunfähigkeit besonders hoch. Gerade für Eltern verschärft sich das Problem der Reproduktion dahinge-hend, dass nicht nur die Sorge für die Kinder, sondern auch ihre Selbstsorge stark darunter leidet (Jurczyk 2010: 254).

Die Belastung durch die Leistungs- und Präsenzansprüche der Betriebe werden von den Beschäftigten nicht einheitlich verarbeitet und determinieren den Lebensalltag der Beschäftig-ten nicht vollkommen. Diese setzen dabei vielmehr aktiv die Bereiche der Erwerbsarbeit und des sonstigen Lebens ins Verhältnis zueinander. Dabei wägen Beschäftigte Vor- und Nachtei-le der unterschiedlichen Formen, wie dieser Druck verarbeitet wird, ab. Eine Prioritätenset-zung auf einen Bereich geht dabei in der Regel mit Einschränkungen der eigenen Gestal-tungsmöglichkeiten im anderen Bereich einher. Wie im vorherigen Unterkapitel gezeigt, ist die Ausweitung von Lohnarbeitszeit nicht allein Resultat (direkter und indirekter) betriebli-cher (Sach-)Zwänge, sondern wird auch durch subjektive Ansprüche der Beschäftigten

21 Forschungsprojekt „Partizipatives Gesundheitsmanagement“, www.pargema.de

prägt und aufrechterhalten. Beschäftigte entscheiden sich selbsttätig für Mehrarbeit innerhalb ihrer Lohnarbeitsverhältnisse (z.B. Kratzer 2003: 211); die entgrenzten Arbeitsbedingungen erfahren zumindest eine „verbale Normalisierung“ (Schier u.a. 2011: 405).

Eine Form, in der diese Normalisierung stattfindet, ist, dass ein Teil der Beschäftigten die-se Entgrenzung ihrer Erwerbsarbeit zwar als etwas wahrnimmt, was ihre Lebensqualität ein-schränkt; sie denken sich diese Entgrenzung aber als eine zeitlich begrenzte Angelegenheit.22 Ein Grund für die Akzeptanz der (als vorübergehend gedachten) Mehrarbeit liegt dabei oft darin, dass diese Erwerbsarbeitsphasen als inhaltlich spannende Phasen wahrgenommen wer-den. Andere Beschäftigte nehmen die Mehrarbeit deshalb als normal und akzeptabel hin, weil sie die Art und Weise, wie sie Lohnarbeit zu anderen Lebensbereichen ins Verhältnis setzen, selbst gestalten können (z.B. die Art der betrieblichen Mehrarbeit hinsichtlich der Tageszei-ten, der Wochentage u.ä.). Hierüber sorgen sie teilweise auch dafür, dass sie innerhalb der Lohnarbeit in bestimmten Phasen gut arbeiten können (z.B. früh morgens allein im Büro sein). Ein weiteres Moment dieser Normalisierung hängt mit Widerspruchslinie eins zusam-men: Sofern Beschäftigte ihr Arbeitszeit selbsttätig ausweiten, um inhaltliche Befriedigung zu erreichen, kompensieren sie Einschränkungen bei der Erfüllung subjektiver Ansprüche an die Lebenswelt (Muße, Zeit für sich, Hobbys, Freundschaften etc.) teilweise durch die Erfüllung subjektiver Ansprüche an die Erwerbsarbeit (Kratzer 2003: 210ff).

Daneben gibt es auch Lebensweisen, in denen Menschen die Prioritäten auf das Leben au-ßerhalb der Lohnarbeit setzen und die zeiträumliche Flexibilität und Verfügbarkeit bewusst einschränken (Schier u.a. 2011: 406). Probleme gibt es beispielsweise dort, wo die Entschei-dungsgewalt über hochflexible Arbeitszeiten und räumliche Mobilität allein beim Arbeitgeber liegt bzw. Planungen wenig verlässlich und kurzfristig sind (ebd.). Sofern eine eingeschränkte Verfügbarkeit akzeptiert wird, ist sie oft damit verbunden, dass die Beschäftigten (bewusst) hierfür einen Preis zahlen, z.B. in Form der geminderten Teilhabe an den Prozessen innerhalb der Lohnarbeit, sei dies ein Verzicht auf soziale Beziehungen am Arbeitsplatz oder eine Nichtbeteiligung an inhaltlich spannenden oder zukunftssichernden Projekten (Kratzer 2003:

212f). Dennoch weiten auch einige Beschäftigte ohne lebensweltliche Verpflichtungen ihre Arbeitszeit (zugunsten der Lebenswelt) bewusst nicht aus, sondern belassen sie bei dem for-mal notwendigen Maß.

In Forschungsergebnissen im Bereich Altenpflege wird keine solche Vielfalt von mögli-chen Gestaltungs- und Verarbeitungsweisen entgrenzter Arbeitsverhältnisse gezeigt. Ihre Schwerpunktsetzung liegt in der Regel darauf, dass die Akzeptanz von Mehrarbeit bei Pflege-kräften stark verbreitet ist. Ihre subjektiven Gründe für diese Akzeptanz hängen eng mit dem eigenen Berufsverständnis und einem Gefühl der besonderen Verantwortung für die Men-schen zusammen, für deren Wohlergehen sie zuständig sind (Becker 1998, Dunkel 1995, 2005, Senghaas-Knobloch 2008). Pflegebeschäftigte müssen aufgrund der physischen und emotionalen Belastung der Arbeit das Freizeitverhalten an den Bedürfnissen ausrichten, die aus dieser Belastung entstehen (Dunkel 1995: 225). Mit ihren Lebensweisen arbeiten sie da-her aktiv darauf hin, den entgrenzten Arbeitszeiten und den hohen persönlichen Anforderun-gen in der Pflegearbeit gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund machen Altenpflege-Forschungen (anders als viele Altenpflege-Forschungen im Industriebereich) häufig die Lebensführung zu einem Ausgangspunkt der Untersuchungen.

22 Kratzer betont, dass diese zeitliche Begrenzung nicht unbedingt der Realität entsprechen muss, aber den-noch in der Wahrnehmung der Beschäftigten das ausschlaggebende Argument dafür ist, dass sie die Mehrarbeit akzeptieren.

So hat beispielsweise Dunkel Mitte der 1990er Jahre die Frage bearbeitet, wie Altenpfle-gekräfte ihre Pflege-Arbeit mit anderen Lebensbereichen abstimmen und welche Bedeutung sie der Pflegearbeit dabei geben. Dabei ging er davon aus, dass es für die Berufspraxis, die Menschen entwickeln, „von entscheidender Bedeutung“ ist, ob und wie es ihnen gelingt, „be-rufliche und familiale Anforderungen sowie die Ansprüche, die sie an ihr Leben stell[en], in einen Zusammenhang zu bringen, der auf der alltagspraktischen Ebene des Handelns funktio-niert und auf der Ebene des Denkens und Fühlen sinnvoll erscheint“ (Dunkel 1995: 213). Ins-gesamt arbeitet er fünf Typen von Arrangements in der Lebensführung heraus. Bei allen liegt ein hohes Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein sowie eine generalisierte Arbeitsmoral vor. In dreien davon zeigt er unterschiedliche Formen der „Funktionalisierung sowohl des familialen Bereichs als auch der persönlichen Ansprüche im Sinne der beruflichen Anforde-rungen“ (Dunkel 1995: 234). Daneben sieht er (bei Jüngeren) zwei weitere Typen, bei denen die „persönlichen Ansprüche“ und Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen. Spontan sieht es hier so aus, als würde dies im Gegensatz zu einer pflichtorientierten Lebensführung stehen. Allerdings dient die Pflegearbeit hier – fast ähnlich wie in früheren Zeit bei der Or-densschwester – als Mittel für etwas anderes, Höheres, nämlich Selbstverwirklichung durch ein entsprechendes biografisches Projekt (Dunkel 1995: 243).23 Die Orientierung an hohen ethischen Ansprüchen führt auch hier zu der notwendigen Selbstdisziplinierung (ebd.).

Auch Kumbruck thematisiert die Frage nach der Haltung der Beschäftigten zum Verhältnis von Pflegearbeit und dem Rest des Lebens. Sie sieht dabei ähnlich wie Dunkel (2005: 241) Differenzen zwischen unterschiedlichen Generationen: Das Selbstverständnis von Älteren ist oft noch stark davon geprägt, dass sie mit Altenpflege der Berufung zum Helfen gefolgt und bewusst den Weg gegangen sind, als ganze Person in der Pflege aufzugehen (Kumbruck 2009b: 65). Pflegende der neueren Generation erwarten hingegen oft selbstverständlich, dass sich diese mit der „Tätigkeit als Frau und Mutter“ (ebd.: 66; Kumbruck 2009a: 73ff) verbin-den lässt. Doch zugleich beschreiben auch diese Pflegekräfte, dass „Pflege für sie ein beson-derer Beruf ist, der viel emotionalen und zeitlichen Einsatz verlangt“ und für deren befriedi-gende Gestaltung das Privatleben ggf. zurückgestellt werden müsse. Insofern habe dieser Be-ruf immer noch „Anteile von 'BeBe-rufung'“ (ebd.: 66). Dies führt teilweise zu Konflikten im Hinblick darauf, wie gut man den eigenen Ansprüchen als Mutter gerecht wird (Kumbruck 2009a: 73). Dabei berichten die befragten Pflegerinnen fast durchweg über Verständnis und Unterstützung ihrer Ehemänner und Partner (ebd.).

Einsparungs- und Rationalisierungsmaßnahmen im Pflegebereich erschweren es zuneh-mend, dass Pflegekräfte aus ihrer Pflegearbeit eine Befriedigung ziehen können, die diesem hohen persönlichen Einsatz entspricht. Dunkel formuliert, dass gerade eine Haltung, die Selbstverwirklichung in der Pflegearbeit sucht und nicht mehr zur „Selbstverleugnung“ bereit ist, mit der Ökonomisierung und der zunehmenden Entgrenzung der Verhältnisse in der Pfle-ge auf Grenzen stößt (Dunkel 1995, 2005).

Dunkel stellt für die Entwicklung von Pflege fest, dass die Lebensführung als „Schlüssel-thematik“ zu betrachten ist, wenn es insgesamt um die gesellschaftliche Weiterentwicklung von Pflege „als eines bereits heute hoch problematischen und zugleich hoch zukunftsträchti-gen Bereiches beruflicher Arbeit“ geht. Fachkräftemangel und Durchsetzung hoher Qualitäts-standards können nur dann bewältigt werden, „wenn die Bedingungen pflegerischer Arbeit auch im Hinblick auf deren `Lebbarkeit` gestaltet werden“ (Dunkel 2005: 228). Solche

23Neben diesen hohen Ansprüchen (und nicht etwa anstatt dieser beruflichen Ansprüche) haben auch vielfäl-tige Freizeitaktivitäten einen hohen Wert; um Familie geht es dabei aufgrund der Lebenssituation der Befragten eher selten (Dunkel 1995: 245).

sagen haben in Bereichen wie der Pflegearbeit sicher eine besondere Dringlichkeit, da hier aufgrund der Verknüpfung von Schichtarbeit, spontanen Diensten und hoher Beanspruchung der Pflegenden auf allen Ebenen ein besonderer Druck existiert, die gesamte Lebensweise an diesen Anforderungen auszurichten. Grundsätzlich gilt allerdings für alle Branchen, dass die Frage, wie arbeitsfähig und motiviert Menschen in ihrer Erwerbsarbeit sind, sich auch darüber entscheidet, wie es ihnen gelingt, Lohnarbeit und Lebensweise in Einklang zu bringen. Dieser Zusammenhang findet heute unter Bedingungen einer allgemeinen gesellschaftlichen Repro-duktionskrise auch in solchen arbeitssoziologischen Kontexten verstärkt Aufmerksamkeit, die sich lange Zeit durch eine relative Gleichgültigkeit gegenüber individuellen Reproduktions-formen auszeichneten (vgl. 3.2).

4.3.3 Widerspruchslinie III: Kooperation versus Fragmentierung der Beschäftigten