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Westsibirien und neue Chancen

4. Von der »Großen Chemie« zum Erdölprojekt unter Brežnev, 1964–1971unter Brežnev, 1964–1971

4.3 Westsibirien und neue Chancen

für die sowjetische Versorgungssicherheit

Es scheint fast abstrus, dass sich in einem Land mit derart großen Energie­

ressourcen wie in der Sowjetunion die Angst vor einem Energiedefizit in den Führungsetagen einschlich. Grund für diese Befürchtungen waren die auf­

wändigen, langwierigen Arbeiten in Sibirien und der Anspruch an eine immer größere Produktion der Energieträger, die mit inneren Bedürfnissen der Indust­

rien und Handelsvereinbarungen nach außen einhergingen. Zudem argwöhnten auch ausländische Quellen immer häufiger, dass sich Energieproduktion und verbrauch in nicht allzu ferner Zukunft angleichen würden. Die sowjetische Antwort war eine Strategie zwischen dem Ziel einer kurz­ bis mittelfristigen Anhebung der Erdölproduktion in perspektivreichen kleineren Regionen bei einer weiteren Fortentwicklung der Erdölfelder am mittleren Ob’. Gleichzeitig weitete die Sowjetunion ihre Suche nach Handelskooperationen aus. Dabei drohten die Verstrickungen in diese Kooperationen immer größer zu werden.

Die Arbeiten in Westsibirien versuchte man zu fördern, wo es nur ging, und schloss bald auch eine erste mediale Kampagne an. 1966 liefen die Arbeiten der Produktionsvereinigung Juganskneft’ auf dem Erdölfeld Ust­Balyk auf Hoch­

touren.59 Der Bau einer Pipeline von Ust­Balyk in die Raffinerie nach Omsk wurde durch das Mingazprom umgesetzt. Ebenso sah eine Anordnung von Gasminister Kortunov vor, dass die Siedlungen Uraj, Surgut, Jugansk, Nižne­

vartovsk und Megion nun mit einer Trinkwasserversorgung und Kanalisation ausgestattet werden sollten.60 Doch eine weitere Entdeckung ließ das Potenzial und den möglichen Beitrag Westsibiriens zur sowjetischen Versorgungssicher­

heit in einem vollkommen neuen Licht erscheinen. 1965 wurde am mittleren Ob’

15 Kilometer nördlich von Nižnevartovsk das bis dato größte Erdölfeld entdeckt.

Das Samotlor­Feld, welches sich unter einem gleichnamigen See befand, änderte die Vorzeichen des gesamten geologischen Vorgehens in Westsibirien. Bis zu diesen Tagen hatte man eine Strategie verfolgt, die die geologische Erkundung auf die Umgebung der bereits entdeckten Felder, unter anderem des Felds Ust­

Balyk bei Surgut, beschränkte, um so die Explorationskosten möglichst gering

59 Aus dem Erlass Nr. 68 von Glavtjumenneftegaz über die Organisation von NPU Juganskneft’, uz. V. Muravlenko, 24. Januar 1966, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 21–22.

60 Aus dem Erlass des Gasministers A. Kortunov über »Maßnahmen zur Verstärkung der Arbei­

ten beim Ausbau der Erdöl­ und Erdgaslagerstätten in der Oblast Tjumen’ und den Bau der Pipeline Ust­Balyk – Omsk«, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 22–24.

Westsibirien und neue Chancen für die sowjetische Versorgungssicherheit 131 zu halten. Doch als sich in den späten 1960er Jahren herausstellte, dass Samotlor das gigantischste Erdölfeld Westsibiriens war, intensivierte dies die Diskussion um eine Erschließung Westsibiriens parallel zu den immer genaueren Progno­

sen der Geologen über die Größe Samotlors.

Auch die Presse machte jetzt mobil und veröffentliche Artikel und literarische Werke, die nicht selten an (militärische) Heldengesänge des sowjetischen »mobi­

lisierenden Kulturmodells«61 erinnerten: Am 12. Februar 1966 erschien in der Zeitung Izvestija (Nachrichten) ein Artikel über das Tjumen’er Öl, welche den sich neu bildenden Industriestandort sowie die neue Besiedlung Westsibiriens lobte.62 Ein Artikel in der Pravda, verfasst vom Vorsitzenden des Lokalkomitees Ščerbina, sprach im Mai 1966 sogar davon, dass Westsibirien in den wichtigs­

ten Energiestandort des Landes verwandelt werden solle. Besonders positiv hob Ščerbina den Bau der ersten Pipeline von Šaim nach Tjumen’ in Rekordzeit her­

vor.63 Es stellte sich jedoch in der Folgezeit heraus, dass besonders das Trans­

portproblem bestehen blieb. Die meisten Erdölfelder lagen in unzugänglichen Sumpfgebieten, welche die Transportarterien der Infrastruktursysteme nur schwerlich durchdringen konnten. Auch eine lokale Bauindustrie hatte in der Region noch nicht aufgebaut werden können, die meisten Materialien stamm­

ten aus anderen Regionen der Sowjetunion. Sie erreichten die Ortschaften und jungen Industriekomplexe über den Fluss Ob’ im Sommer per Schiff und über die Winterstraßen (zimniki) auf den zugefrorenen Flüssen im Winter, zudem nutzte man den Flugverkehr. 1967 kam die Idee auf, eine eigene Fluggesellschaft für die Ölindustrie zu eröffnen, die auf die Bedürfnisse des Industriezweigs und den in den vergangenen Jahren angestiegenen Flugverkehr angepasst war.

Doch schnell wurde die Idee abgelehnt mit der einfachen Begründung, »dass dies eine zusätzliche Prüfung bedeutete«,64 die offensichtlich nicht gewollt war.

Es stellte sich jedoch heraus, dass auch der Downstreamsektor, also derjenige Sektor, der für den Abtransport der Ressourcen in die Raffinerien und zu den Verbrauchern zuständig war, eines weiteren Ausbaus bedurfte. Die Raffinerie­

kapazitäten in Sibirien wuchsen vorerst nicht mit und blieben über die Jahre ohne eine Erweiterung der Anlagen beschränkt. Deshalb wurde diskutiert, ob

61 Gestwa: Die Stalinschen Großbauten, S. 256.

62 Pjatiletka Tjumenskoj nefti, in: Izvestija (1966) 37, 12.02.1966, S. 2; siehe auch: Conolly, Vio­

let: Siberia today and tomorrow. A study of economic resources, problems and achievements, London 1975, S. 66.

63 »Die neue Region intensiv erschließen« Artikel aus der Pravda von B.E. Ščerbina vom 27. Mai 1966, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 53–63, hier S. 53.

64 Tchurilov: Lifeblood of empire, S. 79–80.

man eine weitere Raffinerie in Krasnojarsk erbauen oder die Ressourcen gar gleich in den westlichen Landesteil leiten sollte.65

Zeitgleich mit den großen Entdeckungen kam es immer häufiger zu Mut­

maßungen aus dem Ausland, die der Sowjetunion ein kommendes Erdöl­

defizit durch die sinkende Förderung im europäischen Landesteil attestier­

ten.66 Damit war derjenige Landesteil betroffen, der die geringsten Aussichten auf eine Erweiterung der lokalen Energieproduktion hatte, jedoch die größten Industrieregionen versorgte. Der Unterschied zwischen dem östlichen Landes­

teil, der große unerschlossene Kohle, Öl­ und Gasvorkommen sowie riesige Mengen an Energie aus Wasserkraft zu bieten hatte, und dem westlichen schien in der Wahrnehmung der Regierenden immer bedrohlicher zu werden, da dies eine vermeintliche Umstrukturierung bisheriger Rohstoff­ und Güterwege und der gewachsenen Wirtschafts­ und Besiedlungsstruktur bedeutete. Die Reaktion der politischen Führung auf ein mögliches Energiedefizit kristallisierte sich in einer Strategie heraus, die Förderung derjenigen Regionen anzuheben, in denen ein vereinfachter Zugang zum Transportnetz bestand. Dazu gehörte eine Fokussierung auf die alten Förderregionen im westlichen Landesteil, die Ölförderung am Kaspischen Meer und auf der Halbinsel Mangyšlak, wo man bis in die späten 1960er Jahre ebenfalls große Ressourcen vermutet hatte. Dar­

über hinaus forcierte die Strategie die Förderung in Zentralasien, und in einem Beschluss vom 4. Februar 1966 wurden sogar Investitionen in die unbedeutende Erdölindustrie der Belarussischen Unionsrepublik beschlossen,67 obwohl in Regierungskreisen bekannt war, dass hier kaum große Fördererträge zu erzielen waren. In Turkmenistan sollten die Raffineriekapazitäten, bisher bestehend aus einer Raffinerie bei Krasnovodsk, die im Kriegsjahr 1943 erbaut worden war, erweitert werden, damit sich die Regionen Zentralasiens unabhängig vom indus­

triellen Zentrum mit Erdölprodukten wie Benzin versorgen konnten. Auch der Abtransport des minderwertigen Erdöls aus Mangyšlak wurde nun so organi­

siert, dass dies nach Kujbyšev geleitet und dort mit höherwertigem Erdöl für

65 L.I. Gramoteeva/V.I. Komarova: Rol’ vostočnoj Sibiri v razvitii syr’evoj bazy chimičeskoj promyšlennosti, in: Izvestija SO AN SSSR (1967) 1, S. 28–33. Die Raffinerie in Omsk wurde mit dem Erdöl aus Romaškino versorgt, welches durch die Transsibirische Pipeline dorthin gelangte.

66 Depesche von J.G.B. Weait, Oil Department des Foreign Office, an S.N.P. Hemans, HM Em­

bassy in Moskau, vom 16. Februar 1968, in: Burdett, A.L.P.: Oil resources in Eastern Europe and the Caucasus – British Documents 1885–1978, Bd. 8, Cambridge 2012, S. 80–81.

67 Sitzungsprotokoll des Ministerratspräsidiums zum Fünfjahresplan 1966–1970 vom 4. Februar 1966, in: GARF, 5446, op. 100, d. 442, l. 35.

Westsibirien und neue Chancen für die sowjetische Versorgungssicherheit 133 die Weiterleitung beziehungsweise für die Raffinerie gemischt wurde.68 Obwohl dies zumindest im Zusammenhang mit der Erdöl­ und Erdgasindustrie nicht offen angesprochen wurde, mehrte sich im sowjetischem Machtzentrum mög­

licherweise die Befürchtung, dass die Peripherien des riesigen sowjetischen Imperiums nicht ausreichend industrialisiert und versorgt werden konnten, obwohl die sowjetische Moderne diesen Anspruch durchaus hatte.69 Eine Ant­

wort darauf mochte der weiterhin energisch propagierte Ausbau der Infra­

struktursysteme gewesen sein, dessen Realisierung aber von wirtschaftlichen Dissonanzen geprägt war.

Hinzu kamen ausländische Prognosen westlicher Regierungsorganisationen und Firmen, die der Sowjetunion zwar kein Produktionsdefizit, aber eine Angleichung von Produktion und Verbrauch im Energiesektor attestierten.

Dabei wurden die sowjetischen Erdöllieferungen an Kuba als ein Zeichen dafür interpretiert, dass sich die Sowjetunion selbst nicht in einem Produktionsdefizit befinde.70 Man vermutete aber dennoch, dass bald weniger Öl für den Export zur Verfügung stehe, weshalb neben den bereits seit langer Zeit von der Sowjet­

union aus dem Iran getätigten Gasimporten nun auch Öl aus Iran importiert und in die Satellitenstaaten Osteuropas, die die Sowjetunion seit den 1950er Jahren mit immer größeren Mengen an Rohöl belieferte, weitergeleitet werden sollte.71 Im Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit wird noch ausführlicher über die inter­

nationalen Handelskooperationen berichtet, die die UdSSR insbesondere mit den westlichen Ländern in der Entspannungspolitik seit 1969 suchte. Dass dies auch eine Diskussion darüber entspann, welche Art der Kooperation die UdSSR als wünschenswert betrachtete, wird später noch dargestellt. Denn seit ihrer Entstehung in den 1920er Jahren war die Sowjetunion darum bemüht gewesen,

68 Dienes/Shabad: The Soviet Energy System, S. 52–55.

69 Zur Modernität und ihren Ansprüchen siehe auch: Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 45–47.

70 Die Sowjetunion lieferte seit 1960 zu geringen Preisen Erdöl an Kuba und erhielt dafür einen Teil der Zuckerproduktion Kubas, die 80 Prozent des kubanischen Exportvolumens aus­

machte. Aus politischen Gründen – die Kubaner verweigerten bei einigen Gelegenheiten die politische Loyalität mit der Sowjetunion – wurden die Erdöllieferungen zunächst gedrosselt.

Nachdem Kuba 1968 die Militärintervention in der Tschechoslowakei unterstützt hatte, wei­

tete die Sowjetunion ihre Rohölexporte an Kuba wieder aus, in: Klinghoffer: The Soviet Union & International Oil Politics, S. 201–209.

71 Depesche von J.G.B. Weait, Oil Department des Foreign Office, an S.N.P. Hemans, HM Em­

bassy in Moskau, vom 16. Februar 1968, in: Burdett: Oil Resources in Eastern Europe and the Caucasus, Bd. 8, S. 80–81; Depesche von W.F. Marshall, Oil Department des Foreign Of­

fice, an J.L. Bullard, HM Embassy, vom 29. Februar 1968, in: Burdett: Oil Resources in Eas­

tern Europe and the Caucasus, Bd. 8, S. 84.

internationale Firmen und damit deren technisches Knowhow aus der Sowjet­

union fernzuhalten. Lediglich in Situationen, in denen sich die Staatsführung gezwungen sah, die Erdölförderung durch technisches Knowhow zu stabilisie­

ren, lud sie ausländische Firmen zur Teilhabe an der staatlichen Förderung ein.

Dieser Firmen entledigte sie sich so schnell wie möglich wieder.72 So fußte das Handelsmodell der Sowjetunion weitestgehend auf einem als Bartergeschäft73 bezeichneten Tauschhandel, in welchem Güter gegen Güter getauscht wur­

den. Die Sowjetunion unterhielt ein weites Netz an bilateralen Beziehungen, in denen sie Bartergeschäfte zu verschiedenen Zwecken anbot. Diese konnte Allianzen und Entwicklungshilfe signalisieren, jedoch erwarb die Sowjetunion über die Bartergeschäfte auch fehlende Konsumgüter und innovative techni­

sche Anlagen. Darüber hinaus waren Erdölverkäufe eine wichtige Einnahme­

quelle für Devisen, die in Geschäften mit anderen Partnern wiederum für den Erwerb von Gütern genutzt wurden.74 Im Rahmen solcher Verträge schien sich die Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre tatsächlich nach weiteren internationalen Energiekooperationen umzusehen, die Hilfestellung für die aufwändige Erschließung Westsibiriens Hilfe leisten würden und dafür im Gegenzug vom immensen Erdölreichtum der Region profitieren sollten.

Dabei visierte sie auch die osteuropäischen Staaten an, die bereits beim Bau der

»Družba« ­Pipeline in den Jahren 1959–1964 jeweils den Bau großer Strecken­

abschnitte finanziell und materiell übernommen hatten und Ende 1968 einen weiteren Strang der Erdölpipeline fertigstellen wollten.75 Nun hofften die sow­

jetischen Staatsplaner, dass die Felder Westsibiriens auf eine ähnliche Art und Weise erschlossen werden könnten. 1967 kam Bajbakov in Begleitung zahl­

72 Perović, Jeronim: Russlands Aufstieg zur Energiegroßmacht, in: Osteuropa 63 (2013) 7, S. 5–28, hier S. 6–8.

73 Bei Bartergeschäften handelt es sich um die reine Form des Kompensationsgeschäfts, bei dem zwischen zwei Partnern die Abwicklung von Warenlieferungen im gleichen Wert ohne Geld­

zahlungen erfolgt, in: Bestmann, Uwe (Hg.): Börsen­ und Finanzlexikon. Rund 4000 Begriffe für Studium und Praxis, München 2013, S. 90.

74 Klinghoffer: The Soviet Union & International Oil Politics, S. 29–30.

75 Zum Bau der »Družba«­Pipeline: Flade, Falk: Creating a Common Energy Space. The Buil­

ding of the Druzhba Oil Pipeline, in: Perović, Jeronim (Hg.): Cold War Energy. A Trans­

national History of a Soviet Oil and Gas, Cham 2017, S. 321–344.Zur Energiesituation in den Staaten des RGW siehe ebenfalls: Dietz, Raimund: Die Energiewirtschaft in Osteuropa und der UdSSR (Studien über Wirtschafts­ und Systemvergleiche 11), Wien 1984; Bethkenhagen, Jochen: Die Energiewirtschaft in den kleineren Mitgliedstaaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Entwicklungstendenzen in den achtziger Jahren, Berlin 1990; Balmeceda, Margarita M.: Der Weg in die Abhängigkeit. Ostmitteleuropa am Energietropf der UdSSR, in: Osteuropa 54 (2004) 9–10, S. 162–179.

Westsibirien und neue Chancen für die sowjetische Versorgungssicherheit 135 reicher Planer aus den sozialistischen Bruderstaaten nach Surgut, um diesen die schwierigen Bedingungen, die fehlende Infrastruktur und den hohen Aufwand zu erläutern, den die Ölförderung in Sibirien mit sich brachte.76 Die politische Führung war somit zu jenem Zeitpunkt auf die politische und wirtschaftliche Chance, welche die Tjumen’er Ressourcen boten, aufmerksam geworden.

Man hoffte, diese auf dem internationalen Markt anbieten zu können; idealer­

weise in Bartergeschäften zum Tausch gegen Technologien aus den westlichen Ländern und spezialisierten Arbeitskräften aus den Mitgliedstaaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (kurz RGW; russisch Sovet Ėkonomičeskoj Vsaimopomošči, kurz SĖV)

Dieser Verkauf von immer größeren Mengen an Erdöl war für die Sowjet­

union Mitte der 1960er Jahre schon zu einer Notwendigkeit geworden. Über den Rohölexport in die kapitalistischen westlichen Länder erwarb die Sowjet­

union, wie im Übrigen auch alle anderen Ölexporteure, für den Staatshaushalt lebenswichtige konvertierbare Devisen – die so genannten Petrodollar –, für die sie im Ausland weitere Einkäufe tätigte. Dazu gehörten unter anderem Weizen­

einkäufe beim Kontrahenten USA, die sich im Jahr 1972 bereits im Bereich von 1,1 Milliarden Dollar bewegten.77

Doch wurden die Importe von Konsumprodukten und Nahrungsmitteln nur selten in den direkten Kontext der Entwicklung der Erdölindustrie gestellt, obwohl die sowjetische Führung nun immer häufiger auch in der Öffentlich­

keit auf diese Zusammenhänge hinwies. Im Januar 1968 versammelte sich die Landesführung in Erdöl­ und Erdgasfragen in Tjumen’, um die Prognosen für die Region zu prüfen. Neben Kosygin nahmen auch Bajbakov, der Stellver­

tretende Vorsitzende des Ministerrats, Michail Timofeevič Efremov, und Gas­

minister Kortunov, Erdölminister Šašin und der Minister für Petrochemie an der Reise teil.78 Kosygin bekräftigte in einer Rede vor den lokalen Parteiführern und Industrieleitern in Tjumen’ den Wert des Tjumen’er Erdöls für den Außen­

handel und zur Begleichung der wachsenden Rechnung für Weizeneinkäufe.79 Kosygin informierte sich auch über die Möglichkeiten für die Petrochemie in der Region sowie über den Zustand der Infrastruktur, die Wohnsituation sowie

76 Slavkina: Bajbakov, S. 168.

77 Goldman, Marshall I.: Détente and Dollars. Doing business with the Soviets, New York 1975, S. 36.

78 »Genosse A.N. Kosygin in der Oblast Tjumen« – Information der Zeitung Tjumenskaja Prav­

da vom 6. Januar 1968 und 7. Januar 1968, in: Smorodinskov: Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 135–136, hier S. 135.

79 Tchurilov: Lifeblood of empire, S. 72.

zu Arbeitskräftefragen.80 Welche Industriezweige den finanziellen Zuschlag für die bedeutungsschweren Projekte und in diesem Rahmen unter anderem für den Pipelinebau erhalten sollten, darüber gerieten ihre Vorsitzenden wäh­

rend der Reise Kosygins nach Westsibirien allerdings in Streit. Die Frage nach dem Bau der Pipelines hatte sich bereits lange aufgedrängt. Doch das Mingaz­

prom genoss bei den Neftjaniki den äußerst schlechten Ruf, dass seine Pipe­

lines zu störanfällig seien und kaum fristgerecht in Betrieb gehen würden. Die Beschwerde des Erdölministers Šašin an Kosygin war von Erfolg gekrönt, auch wenn die Fristverzögerungen in den Gasindustriezentren eigentlich den Zuliefer

kombinaten der Pipelineindustrie geschuldet waren.81

Kurze Zeit später ging der Zuschlag Moskaus für den Anlagenbau samt not­

wendigen Mitteln an das Minnefteprom.82 Nach dem Aufenthalt von Kosygin und Bajbakov in Tjumen’ wurde Ėrv’e als Vorsitzender von Glavtjumen’geologija vom Mingeo der RSFSR aufgefordert, die Kader bei gesteigerter Produktivität zu verkleinern,83 wohl um Geld für weitere Investitionen freizustellen. Damit waren die geologischen Arbeiten zugunsten der Produktion zurückgefahren worden.

Kurze Zeit nach der Konferenz im Januar 1968 in Tjumen’ weilte Bajbakov in Japan, da er von einflussreichen japanischen Geschäftskreisen eingeladen wor­

den war,84 nicht zuletzt wohl auch, um weitere Projekte auf der internationalen Ebene voranzutreiben (siehe Kapitel 5 und 7).

Bajbakovs Reise nach Japan und die Zurückhaltung Kosygins nach sei­

nem Besuch in Westsibirien deuten darauf hin, dass die beiden langjährigen Führungskader große Zweifel an der schnellen Erschließung Westsibiriens heg­

ten und sich deshalb nach einer möglichen Zusammenarbeit mit dem westlichen Ausland, welches über weitaus bessere Technologien verfügte, umsahen. Der Anlagenbau für den Erdöl­ und Erdgassektor, insbesondere der Großröhren in den Betrieben Čeljabinskij Truboprokatnyj Zavod, Nevskij Zavod in St. Peters­

burg und Barrykady, war stets ein Problem gewesen.85 Kosygin und andere Offi­

80 »Genosse A.N. Kosygin in der Oblast Tjumen« – Information der Zeitung Tjumenskaja Pravda vom 6. Januar 1968 und 7. Januar 1968, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 135–136.

81 Campbell: Soviet Energy Technology, S. 204–209.

82 Tchurilov: Lifeblood of empire, S. 71.

83 Protokoll der Kollegiensitzung des Ministeriums vom 16. Januar 1968, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 137.

84 Slavkina: Bajbakov, S. 171.

85 Die Sowjetunion hatte nach dem Zweiten Weltkrieg bei westlichen Herstellern in den USA und Westeuropa die für den Pipelinebau benötigten Großröhren gekauft, u. a. während des 7. Fünfjahresplans zu 80 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland. Doch der Mauerbau in

Westsibirien und neue Chancen für die sowjetische Versorgungssicherheit 137 zielle aus Moskau schienen zu diesem Zeitpunkt dennoch nicht vollkommen von den Möglichkeiten in Tjumen’ überzeugt, zumal die als Investitionen geplanten 400 Millionen Rubel bald nicht mehr ausreichen würden, um die benötigte hochwertige Infrastruktur für die Polarregion sowie eine ausreichende Anzahl von qualifizierten Arbeitskräften bereitzustellen.86

Die geringe Berichterstattung lässt darauf schließen, dass die Entwicklung des Produktionsstandorts Westsibirien vorerst in eine Phase der intensiven Überprüfung ging. Der Abschlussbericht der Regionalkonferenz des Tjumen’er Lokalkomitees im Februar 1968 drückte ebenfalls Zweifel aus. Zwar lobte der Bericht die Geologen und den Bau der Pipeline Ust­Balyk–Omsk, blieb jedoch vage, was die Prognosen und die zukünftige Bedeutung der Region anging. Viel­

mehr rügte der Bericht die regionale Produktionsvereinigung Glavtjumennefte­

gaz und ihren Vorsitzenden Muravlenko, dessen Projektdokumentationen die inner­ und ausländischen Erfahrungen (opyt) außer Acht lassen würden. Aus dem Bericht ging auch hervor, dass die Erschließung nur langsam vorwärts ging und meist primitive Methoden angewandt wurden, wodurch die Erschließungs­

kosten für das Erdöl anstiegen.87 Dass die Arbeitsfortschritte tagtäglich durch verschiedene Faktoren behindert wurden, legte des Weiteren die Rede eines Bohrmeisters nahe. Sie zeigte auf, dass die Bohrungen aufgrund der natürlichen Begebenheiten äußerst schwierig zu bewerkstelligen waren, der Materialtrans­

Berlin und die Kuba­Krise schienen den Amerikanern genug Evidenz dafür zu sein, dass die Sowjetunion ihren Machtbereich weiter ausbauen wolle und ihr dies durch die Fertigstellung der Erdölpipeline »Družba« aus dem Volga­Ural­Gebiet in die RGW­Staaten, die unter an­

derem auch die Bundesrepublik Deutschland mit Erdöl beliefern sollte, auch gelinge. Daher beschlossen die USA 1962, die Lieferung von Großröhren zu unterbinden. Siehe: Wörmann, Claudia: Osthandel als Problem der Atlantischen Allianz. Erfahrungen aus dem Erdgas­

Röhren­Geschäft mit der UdSSR, Bonn 1986, S. 26–36. In der Sowjetunion selbst waren u. a.

Röhren­Geschäft mit der UdSSR, Bonn 1986, S. 26–36. In der Sowjetunion selbst waren u. a.