• Keine Ergebnisse gefunden

Das »große Öl«: Der Durchbruch sibirischen Erdöls zur Nationalressource 1969zur Nationalressource 1969

4. Von der »Großen Chemie« zum Erdölprojekt unter Brežnev, 1964–1971unter Brežnev, 1964–1971

4.4 Das »große Öl«: Der Durchbruch sibirischen Erdöls zur Nationalressource 1969zur Nationalressource 1969

Die krisenähnliche Lage um die Erschließung der gigantischen Vorräte des pola­

ren Westsibirien hatte sich bis zum Januar 1969 weiter zugespitzt. Dabei hatte sich zumindest die Tjumen’­Lobby schon Anfang 1968 Gedanken um eine Aus­

weitung der Förderung in der Oblast gemacht, die alles Bisherige in den Schat­

ten stellte: »In den bis zum heutigen Tag bekannten Lagerstätten kann man die Förderung auf 300 Milliarden Kubikmeter Gas und 150 Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr anheben, aber die potenziellen Fördermöglichkeiten schätzt man auf 400–500 Milliarden Kubikmeter Gas und 400–500 Millionen Tonnen Öl pro Jahr. Das ist ein Vielfaches dessen, was das Land bisher jetzt fördert.«97 Auch in den Förderplänen waren die Zahlen für Tjumen’ für das Jahr 1970 nach oben korrigiert worden, und zwar von 25 Millionen Tonnen 1966 auf bis zu 30 Mil­

lionen Tonnen 1969, für das Jahr 1975 plante man immer noch eine Förderung von 150 Millionen Tonnen ein. Wie aus dem vorherigen Kapitel dieser Arbeit hervorgeht, waren die Weichen für eine große Zukunft der Erdölindustrie am mittleren Ob’ längst noch nicht gestellt worden. Zu viele Bereiche des Aufbaus einer polaren Industrie jenseits der Extraktion waren bisher nicht beachtet wor­

den, auch hatte sich niemand wirklich um ein wirtschaftliches Programm für den entstehenden Komplex bemüht. Alle Forderungen nach einer einheitlichen Koordinationsstelle waren ins Leere gelaufen. Schon während seiner Reise hatte sich Kosygin aus allen detaillierten Fragen zurückziehen wollen und verlautbart, dass er nur bei großen Fragen in die Angelegenheit einbezogen werden wollte.98 Doch die durchaus verständliche Position des Premierministers hatte zur Folge, dass der Startschuss für ein koordiniertes Vorgehen nicht fiel. Stattdessen taten sich für die sibirische Energieversorgung weitere Quellen auf, die schnel­

97 Aus dem Abschlussreferat der 8. Parteikonferenz des Tjumen’er Lokalkomitees vom 15. Feb­

ruar 1968, in: Smorodinskov: Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 143–149, hier S. 144.

98 Tchurilov: Lifeblood of empire, S. 68.

Das »große Öl«: Der Durchbruch sibirischen Erdöls zur Nationalressource 1969 141 lere und wesentlich günstigere Energieflüsse zur Behebung des vermuteten Energiedefizits versprachen: Im nordkasachischen Ėkibastuz an der Grenze zum südlichen Sibirien hatte man stark aschehaltige Steinkohle gefunden, die seit den 1960er Jahren zwei große Wärmekraftwerke im Ural versorgte; die minder­

qualitative Kohle war dabei als ausreichend befunden worden, das Energiedefizit in den Schwerindustrien des Ural zu bekämpfen, die große Mengen an Ener­

gie verbrauchten. Die Kohle aus Ėkibastuz hatte zwar einen niedrigen Brenn­

wert, jedoch lag sie dicht unter der Erdoberfläche, was ihre Produktionskosten senkte. Zudem befanden sich diese Vorkommen an der südlichen Trasse der transsibirischen Eisenbahn, so dass der Abtransport der Kohle in den nahe­

gelegenen Ural gewährleistet war. 1970 waren bereits drei Sektionen Tagebau in einem Umfang von 20 Millionen Tonnen in Betrieb, im selben Jahr kam eine weitere Sektion im Umfang von 5 Millionen Tonnen hinzu. Weiter im Osten hatte man ebenfalls Kohle gefunden: Entlang der transsibirischen Eisenbahn wurde zwischen den Städten Kansk und Ačinsk dicht unter der Oberfläche ebenfalls Kohle gefunden, von der 1970 bereits 18,3 Millionen Tonnen gefördert wurden.99 Dass man diese Kohle dicht unter der Erdoberfläche entdeckt hatte und im Tagebau abbauen konnte, hatte es der Kohlelobby erlaubt, ihre neuen Projekte in Sibirien und Nordkasachstan schnell durchzusetzen. Dies schuf eine bedeutende Konkurrenz zur Erdölindustrie Westsibiriens, zumindest was die Energieversorgung innerhalb der UdSSR anbelangte. Zwar hatte der Primat der Kohle das letzte Mal vor dem Zweiten Weltkrieg gegolten, doch der wirtschaft­

liche Druck, unter dem die Sowjetunion mit ihrer Wachstumsideologie stand, sorgte dafür, dass die Suche nach günstigen Energieträgern auch ein Revival der Kohle andeutete. Wenn die westsibirische Erdöllobby folglich ihre eige­

nen Belange durchsetzen wollte, musste sie ein Projekt von großer politischer Schlagkraft entwickeln.

Ein Projekt, dem in Moskau diese benötigte Schlagkraft zugeschrieben wurde, stammte aus der Feder Aleksej Tichonovič Šmarevs, eines tatarischen Neftja­

nik und Geologen und Wirtschaftsmanagers aus dem Kreis der Erdölbranche.

Šmarev war in Moskau nicht unbekannt: Er hatte von 1950 bis 1955 die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreichste sowjetische Produktionsvereinigung Tatneft’

geleitet und den Aufbau der Erdölgewinnung in Romaškino begleitet. 1956 wurde er zum Vorsitzenden von Glavgaz ernannt, nach der von Nikita Chruščev durchgesetzten Administrativreform 1957 leitete er zunächst den tatarischen regionalen Volkswirtschaftsrat (Sovet narodnogo chozjajstva, kurz Sovnarchoz),

99 Dienes/Shabad: The Soviet Energy System, S. 110–119.

die nach der Wirtschaftsreform gängigen regionalen branchenübergreifenden Wirtschaftseinheiten und anschließend den regionalen Volkswirtschaftsrat an der en Volga.100

In seinem an den Ministerratsvorsitzenden Kosygin am 24. April 1969 gerichteten Schreiben mit dem Titel »Zur Frage der Brennstoff­ und Energie­

balance«101 schlug Šmarev eine Offensive vor, die nicht weniger als die komplexe elektroenergetische Erschließung Westsibiriens in bisher ungeahnten Maßstäben anstrebte. Anstatt, wie bisher geplant, das für die 1970er Jahre vorausgesagte Energiedefizit von lediglich 70–80 Prozent des erwarteten tatsächlichen Bedarfs im Ural und im europäischen Landesteil durch eine größere Kohleförderung im offenen Tagebau in Kansk­Ačinsk und Ėkibastuz zu kompensieren, plädierte Šmarev für die Errichtung eines gigantischen Energiekomplexes im Fernen Norden. Er entwarf die phantastische Vision einer automatisierten Energie­

produktion im polaren Westsibirien mit schwimmenden Atomstationen und der Errichtung von Gaskraftwerken und Tausende Kilometer überbrückenden Hochspannungsleitungen, die den Strom aus den Gaskraftwerken sogar bis nach Westeuropa transportieren würden. Damit kreierte er eine Alternative zum Wasserkraftwerksbau, die Strom aus Erdgas generieren und damit den energe­

tischen Aufstieg einer ganzen Region bewerkstelligen sollte. Im Rahmen des Projekts sollte die Erdölproduktion in Westsibirien auf 150 Millionen Tonnen angehoben werden, eine Produktionshöhe, die auch in Regierungskreisen und der örtlichen Tjumen’­Lobby kursierte, jedoch vom Minnefteprom nicht unter­

stützt wurde. Das Minnefteprom hingegen hatte bisher lediglich eine Förderung von 80 Millionen Tonnen angegeben. Mit solch signifikanten Produktionsaus­

stößen in Tjumen’, so der Ölingenieur Šmarev, könne auch die gesamtsowjetische Produktion auf 480–500 Millionen Tonnen erhöht werden. Der westsibirische Hauptproduzent sollte das gigantische Erdölfeld Samotlor werden. Auch die Gasförderung könne um ein Vielfaches ausgebaut werden, nicht nur in West­

sibirien, sondern auch in Zentralasien, Orenburg und Jakutien. Ein solches Vor­

gehen könne zudem die Belastung des ohnehin schon durch den Kohletransport vollkommen überbeanspruchten Schienennetzes mindern. Auch Šmarev schlug nicht weniger als ein Bartergeschäft vor, als er kundgab, den erhöhten Bedarf an Hochspannungsleitungen und Röhren teilweise mithilfe der Staaten des RGW und Westeuropas decken zu wollen, die dafür Elektroenergie aus Westsibirien

100 Slavkina: Triumf i tragedija, S. 23–24.

101 Schreiben von Genosse Šmarev an Aleksej Kosygin »Über die Frage der Brennstoff­ und Energiebalance« vom 24. April 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, ll. 1–5.

Das »große Öl«: Der Durchbruch sibirischen Erdöls zur Nationalressource 1969 143 importieren könnten. Der wirtschaftlichen Führung hingegen warf er dabei eine Kurzsichtigkeit in Fragen der Energieversorgungssicherheit vor: Wenn die wirtschaftliche Führung entscheiden würde, von den 3 Milliarden Tonnen nach­

gewiesenen industriell erschließbaren Vorräten im Jahr 1975 nur 60 Millionen anstatt der von Šmarev vorgeschlagenen 130–150 Millionen Tonnen zu fördern, dann würden die Pläne der Ministerien »praktisch einer Konservierung der riesi­

gen Vorkommen Sibiriens bei einem extremen Energiedefizit« gleichkommen.102 Stattdessen sollten Sibirien und das Volga­Ural­Gebiet im großen Stil auf eine Gasversorgung umgestellt werden, indem man in den Regionen am Ob’

und an der Volga Wärmekraftwerke mit Erdgas betrieb. Um die Regierung und vor allem Premier Kosygin von dem Projekt zu überzeugen, führte Šmarev an, dass das Projekt die ohnehin defizitären Pipelinegroßröhren einsparen würde, weil die Energie vor Ort genutzt beziehungsweise in Elektrizität umgewandelt würde. Šmarev verheimlichte nicht, dass die Ministerien seine Offensive bis­

her abgelehnt und für den kommenden Fünfjahresplan nur eine Förderung von 450 Millionen Tonnen Erdöl und 370 Millionen Kubikmeter Erdgas in der gan­

zen Sowjetunion festgelegt hatten. Die Ministerien planten laut Šmarev ein, die fehlende Energie durch den oben erwähnten Abbau von Kohle in Ėkibastuz und Kansk­Ačinsk zu kompensieren, was jedoch den Bahnverkehr schwer belastete.

Wie Kosygin persönlich den Vorschlag aufnahm, bleibt ungewiss. Trotz sei­

ner offensichtlich visionären Züge legte der Ministerratsvorsitzende den Vor­

schlag den Ministerien, dem Staatskomitee für Wissenschaft und Technik und dem Gosplan zur Überprüfung vor, die insbesondere die Wirtschaftlichkeit einer westsibirischen Ölförderung zuungunsten der Förderung im Volga­Ural­Gebiet und eine erhebliche Neuverteilung finanzieller Mittel prüfen sollten. Direkt griff der Vorschlag auch den Gosplan an, der das errechnete Energiedefizit im euro­

päischen Landesteil durch die Kohle aus dem offenen Tagebau in Kansk­Ačinsk und Ėkibastuz kompensieren wollte.103

Doch die Antwort der Ministerien, Beratungs­ und Planungsorgane zum Projekt des Erdölingenieurs Šmarev, die die Ministerien usw. an Kosygin sende­

ten, fielen vernichtend aus. Als »wirtschaftlich infundiert«104 sowie gar »völlig

102 Schreiben von Genosse Šmarev an Aleksej Kosygin »Über die Frage der Brennstoff­ und Energiebalance« vom 24. April 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, hier Zitat l. 1.

103 Entwurf eines Schreibens über das Schreiben von Genosse Šmarev über die Brennstoff­ und Energiebalance vom April 1969: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, 12–14, hier l. 13.

104 Dabei ging es um die Produktion von Elektroenergie auf Gasbasis, die Vorschläge in Bezug auf die Erdölindustrie wurden angenommen, in: Schreiben des Ministers für Energetik und Elektrifizierung, P. Neporožnyj, an den Ministerrat der UdSSR vom Mai 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, ll. 18–20, hier l. 18.

sinnlos«105 und »jeder realen Grundlage entbehrend«106 wurden die einzelnen Projekte beurteilt. Doppelt so teuer und zu aufwändig sei der Bau von Wärme­

kraftwerken im Fernen Norden, lautete die Meinung des Staatskomitees für Wissenschaft und Technik. Laut eines ausführlichen Schreibens an Kosygin von den geachteten Energieexperten Kirillin, Mel’nikov und Michail Adol’fovič Styrikovič107 war die Unterhaltung von Hochspannungstrassen über derartige Entfernungen teurer als der Bau von Großröhrenpipelines, die die Rohstoffe an Stelle der Elektroenergie nach Westen transportieren sollten. Jedwede Rat­

schläge über die energetische Zukunft Westsibiriens wollte das GKNT ohnehin erst dann erteilen, wenn ausreichende Einschätzungen und Berichte vorlagen.108 Das Ministerium für Energetik und Elektrifizierung erwies sich als hart­

näckiger Kontrahent von Šmarevs Vorschlag. Im Namen seines Vorsitzenden, des Ministers Pëtr Stepanovič Neporožnyj, gab das Ministerium an, dass die Anhebung der Fördermenge auf 130–150 Millionen Tonnen Erdöl durchaus

»Aufmerksamkeit verdiene«.109 Aber insgesamt war das Ministerium der Mei­

nung, dass für den Ural und die östliche Sowjetunion die Verwendung von Kohle deutlich günstiger und der Betrieb von Hochspannungsleitungen über derartige Distanzen nicht ohne große energetische Verluste möglich sei. Zudem waren ausreichend Kraftwerke im westlichen Landesteil vorhanden, die spä­

testens mit der sinkenden Förderung in den alten Regionen mit den Energie­

trägern der neuen Regionen ausgelastet werden könnten, so dass hier bis 1980 keinerlei neue Kraftwerke in Betrieb genommen werden müssten, sofern man das Öl und das Gas Sibiriens nutze. Lediglich im westlichen Landesteil müssten drei neue, mit der Kohle aus dem ukrainischen Kohlerevier Donbass betriebene

105 Dabei ging es um die Leitung von Erdgas in Ekibaztus­Revier, in: Schreiben des GKNT an den Ministerrat der UdSSR vom 7. Mai 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, ll. 15–17, hier l. 15.

106 Schreiben des Ministers für Energetik und Elektrifizierung, P. Neporožnyj, an den Minister­

rat der UdSSR vom Mai 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, ll. 18–20, hier l. 18.

107 Michail A. Styrikovič hatte in den 1920er Jahren sein Studium am Technologischen Institut in Leningrad abgeschlossen. Danach arbeitete er in der Turbinenforschung. Von 1939 bis 1971 lehrte er am Moskauer Energieinstitut und war ab den 1930er Jahren auch an Instituten der Akademie der Wissenschaften beschäftigt; ab 1964 war er Wissenschaftssekretär in der Ab­

teilung für physisch­technische Probleme der Energetik an der Wissenschaftsakademie und ab 1980 Mitglied ihres Präsidiums. Siehe hierzu: Biographie von Michail A. Styrikovič, online verfügbar unter: https://bigenc.ru/technology_and_technique/text/4170417 [10.12.2018].

108 Schreiben vom Staatskomitee für Wissenschaft und Technik an den Ministerrat vom 7. Mai 1969, unterzeichnet von V. Kirillin, N. Mel’nikov, M. Styrikovič, D. Žimerin, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, ll. 15–17 hier l. 17.

109 Schreiben des Ministers für Energetik und Elektrifizierung, P. Neporožnyj, an den Minister­

rat der UdSSR vom Mai 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, hier l. 18.

Das »große Öl«: Der Durchbruch sibirischen Erdöls zur Nationalressource 1969 145 Kraftwerke gebaut werden. Energie­ und Elektrizitätsminister Neporožnyj argu­

mentierte von seinem eigenen Standort aus, als er Šmarev vorwarf, dass die­

ser die sowjetische Wirtschaft auf alleiniger Basis von Gas betreiben wolle und andere Energieträger wie Wasserkraft, Atomenergie und die Kohle bei seinen Berechnungen kaum einbeziehe.110

Das Minnefteprom lehnte die von Šmarev vorgeschlagene Höhe einer Erd­

ölförderung von 150 Millionen Tonnen vehement ab. Zu teuer sei die bisherige Ölförderung unter den klimatischen Bedingungen Westsibiriens und an eine Steigerung der Förderung in den alten Förderregionen angesichts deren baldi­

ger Erschöpfung nicht zu denken; den Produktionszenit des bisherigen Erdöl­

eldorados Tatarstan wähnte Ölminister Šašin bereits im Jahr 1970 gekommen.

Ein Ausbau der Erdölförderung komme also nicht in Frage. Als Begründung führte Šašin diverse Berichte über die Energieplanung der Sowjetunion von den Akademiemitgliedern Mel’nikov, Nikolaj Prokof’evič Fedorenko und einem Projektierungsinstitut an. Das Institut Giprotjumenneftegaz schätzte eine reale Förderung von Erdöl in Tjumen’ für das Jahr 1975 auf maximal 75–80 Millio­

nen Tonnen. In einem Schreiben informierte das Ministerium, dass der Gosplan bereits Maßnahmen für den Abtransport und die Verarbeitung von 80 Millio­

nen Tonnen erarbeite, die die klimatischen Bedingungen einbezögen. Schemata für den Aufbau einer Ölindustrie unter den polaren Bedingungen seien bereits entworfen worden. Doch die bisherigen Arbeiten seien nicht ausreichend und wissenschaftliche Untersuchungen würden die von Šmarev angeführten Daten zur möglichen Förderung nicht bestätigen. Die Gründe dafür seien finanzieller Natur: Für die Anhebung des Förderniveaus auf 75–80 Millionen Tonnen allein in Westsibirien würden Kapitalinvestitionen von 5,1 Milliarden Rubel nötig sein, für ein Förderniveau von 150 Millionen Tonnen seien zusätzliche 3,1 Milliar­

den Rubel notwendig. Für die gesamte Ölindustrie in allen Landesteilen soll­

ten aus dem Staatsbudget 7,2 Milliarden Rubel zur Verfügung gestellt werden, wovon 3,1 Milliarden Rubel, also 47 Prozent, für Westsibirien bestimmt waren.

Dennoch sollte das meiste Erdöl auch im Fünfjahresplan 1971–1975 aus den alten Förderregionen stammen, obwohl ihnen gemeinsam nur die restlichen 4,1 Milliarden Rubel zur Verfügung stehen sollten. Daher füge man der Erd­

ölindustrie großen Schaden zu, wenn man ausschließlich Geld in Westsibirien investiere. Auch könne das Öl wohl kaum abtransportiert werden, da die hei­

mische Pipelineproduktion nicht genügend Röhren aus eigener Produktion

110 Schreiben des Ministers für Energetik und Elektrifizierung, P. Neporožnyj, an den Minister­

rat der UdSSR vom Mai 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, List 18–20, hier l. 18.

anfertigen könne beziehungsweise nur auf Kosten der Gasröhrenproduktion, der dann wiederum für die Erweiterung des eigenen Netzes nicht ausreichend Röhren zur Verfügung stehen würden. Alternativ müssten die Röhren aus der teuren »ausländischer Produktion« importiert werden. Außerdem sei es unmög­

lich, Westsibirien im angegebenen Zeitraum auch infrastrukturell zu erschließen.

Eine Fördermenge von 150 Millionen Tonnen Öl in Westsibirien würde daher

»jeder realen Grundlage entbehren«.111 Das Ministerium für Petrochemie hin­

gegen hieß den Vorschlag Šmarevs gut, widersprach jedoch dessen Aussage, dass die Verarbeitung des hochqualitativen westsibirischen Öls gegenüber dem Erdöl aus dem Volga­Ural­Gebiet große Vorteile mit sich bringe.

Die Erdölindustrie war zum Zeitpunkt von Šmarevs Schreiben an den Ministerratsvorsitzenden einer von vielen Teilbereichen, die um das Staats­

budget konkurrierten.112 Die Förderung anderer Energieträger oder Quellen war damit aufs Engste verbunden: Jede Freistellung von Öl für die Export­

bedürfnisse musste mit dem »rationalen« Einsatz anderer Energieträger kom­

pensiert werden; dass Westsibirien über riesige Mengen an Erdöl und Erdgas verfügte, musste schon allein deshalb ein Punkt auf der Tagesordnung der gro­

ßen Politik bleiben. Folglich kam das Thema Tjumen’ in einer weiteren Dis­

kussion im Ministerrat am 14. Mai 1969 erneut auf den Tisch. Der Bau von sechs Gaskraftwerken, wie ihn Šmarev vorgeschlagen hatte, wurde bei der Sit­

zung auf 22–23 Milliarden Rubel beziffert, ungefähr die Hälfte des Budgets für die gesamte Energiebranche im 9. Fünfjahresplan. Obwohl diese Angabe unkommentiert blieb, war eine Umsetzung eines solchen Projekts angesichts des exorbitanten Investitionsumfangs unwahrscheinlich. Bei dieser Gelegen­

heit wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass das Defizit mit Kohle aus dem offenen Tagebau behoben werden sollte. Um die Förderung in Samotlor auf 100–120 Millionen Tonnen anzuheben, würde man ca. 400 Millionen Rubel investieren müssen (weniger als 20 Prozent der Kapitalinvestitionen). Während der Sitzung fielen grobe Anschuldigungen gegenüber dem Minnefteprom, wel­

ches angeklagt wurde, den durchschnittlichen Ertrag der Brunnen vorsätzlich

111 Schreiben des Ministers für die Erdölindustrie, V. Šašin, an den Ministerrat der UdSSR vom 8. Mai 1969, in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, ll. 21–25. Schreiben des Ministers der Erdöl­

verarbeitenden und Petrochemischen Industrie, V. Fedorov, an den Ministerrat des UdSSR vom 3. Mai 1969 »Über die Energiebalance« in: GARF, f. 5446, op. 104, d. 449, l. 26.

112 Die gesamten sowjetischen Investitionen betrugen im Fünfjahresplan 1966–1970 306,3 Mil­

liarden Rubel. Von diesen wurden 119,7 Milliarden in die Industrie investiert, wovon wie­

derum 42 Milliarden an die Energieindustrie gingen. Von diesen erhielt die Erdölindustrie 9,3 Milliarden und die Erdgasindustrie 3,9 Milliarden. In: Considine/Kerr: The Russian Oil Economy, S. 93.

Das »große Öl«: Der Durchbruch sibirischen Erdöls zur Nationalressource 1969 147 auf 80 Tonnen pro Tag zu begrenzen, statt eine mögliche Förderung von durch­

schnittlich 170–200 in Samotlor Tonnen und 200–250 Tonnen in Westsibirien zu gewährleisten und diese große Menge des vorteilhaften schwefelarmen Öls in den westlichen Landesteil weiterzuleiten und der sowjetischen Wirtschaft damit einen Gewinn von 1 Milliarden Rubel einzufahren. Lediglich das Komi­

tee für Wissenschaft und Technik zweifelte die von Šmarev angeführten Daten an, stimmte jedoch zu, dass eine Förderung von Gas in Urengoj und von Öl am mittleren Ob’ grundsätzlich der weiteren Aufmerksamkeit bedürfe. Immer­

hin hatte Šmarev damit einen partiellen Erfolg, falls man dies so nennen kann, erlangt: Auf der Sitzung wurde beschlossen, dass eine Erhöhung des Öl­ und Gasanteils am Energiehaushalt der Sowjetunion nochmals als langjährige Pers­

pektive geprüft werden sollte. Zudem sollte eine Kommission bestehend aus Erd­

ölminister Šašin, Erdgasminister Kortunov und dem Stellvertretenden Gosplan­

Vorsitzenden Rjabenko wiederum in der Wintersaison nach Westsibirien fahren, um die Optionen einer bedeutenden Erhöhung der Ölförderung zu prüfen.113

Der Bericht Šmarevs hatte einen Stein ins Rollen gebracht, der kaum noch aufzuhalten war. Zwar engagierte sich die politische Führung um den Stell­

vertretenden Vorsitzenden des Ministerrats Efremov weiterhin in den Erdöl­

industrien Kasachstans und Zentralasiens, wo nach einer Sitzung vom 20. bis 22. Mai 1969 in den Erdöllagerstätten Uzen’ im westlichen Kasachstan und Nebit­

Dag in der Turkmenischen SSR weitere Maßnahmen zum Aufbau einer für die Ausbeutung des westkasachischen Erdöls speziell benötigten Infrastruktur zur Aufrechterhaltung der Viskosität sowie zur technisch hochwertigen Ausbeutung der Lagerstätte Uzen’ ergriffen werden sollten.114 Jedoch hatte der Ministerrat in den Sommermonaten auch den Vorschlag für ein Tjumen’­Projekt an sämtliche betroffenen Organisationen gesendet und damit neue Überprüfungen und Maß­

nahmen verlangt. Ende September 1969 meldete die staatliche Bauorganisation Gosstroj an den Stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden Efremov, dass sie nun die Projektierung der Polarstädte unter diversen Projektierungsinstituten aufgeteilt hätten. Besondere Aufmerksamkeit werde der Stadt Tobolsk zuteil, wo in Zukunft ein Zentrum für die Holzindustrie und ein petrochemischer Kom­

plex entstehen sollten. Bereits einen Tag später beantragten der Gosplan und Gosstroj eine Aufschiebung des Aufbaus einer Baumaterialbranche im nörd­

lichen Westsibirien, welches bisher aus anderen Regionen mit Baumaterialien

113 Beleg über die Note von A. T. Šmarev über die Brennstoff­ und Energiebalance, in: GARF,

113 Beleg über die Note von A. T. Šmarev über die Brennstoff­ und Energiebalance, in: GARF,