• Keine Ergebnisse gefunden

Der 23. Parteitag der KPdSU und

4. Von der »Großen Chemie« zum Erdölprojekt unter Brežnev, 1964–1971unter Brežnev, 1964–1971

4.2 Der 23. Parteitag der KPdSU und

die (west-)sibirische Sozial- und Umweltpolitik

Die »Zweiteilung« des Landes betraf jedoch nicht nur die vorhandenen Res­

sourcen und Reserven östlich sowie die Industriestandorte westlich des Ural, sondern auch die Verfügbarkeit von Arbeitskräften. In wirtschaftlicher Hinsicht hatte der 23. Parteitag der KPdSU für Sibirien ein ehrgeiziges Programm auf­

gestellt. In Sibirien erhoffte sich die Parteiführung nun den zügigen Ausbau der Energieindustrie (Kohle, Erdöl, Erdgas, Wasserkraft), ebenso in der Buntme­

tallurgie, der Chemieindustrie und der Zellulose­ und Holzindustrie. Endlich sollte auch das größte Wasserkraftwerk der Welt in Krasnojarsk ans Netz gehen und der Bau von Hochspannungsleitungen forciert werden, die den Strom aus Krasnojarsk bis in den zentralen Landesteil leiten sollten. Für Westsibirien hatte man die Förderzahlen bei den im Regierungsbeschluss angeordneten Umfang von 20–25 Millionen Tonnen Erdöl belassen, plus der geforderten 16–26 Mil­

liarden Kubikmeter Erdgas. Die Erdölfelder Ust­Balyk und Šaim sollten über eine Abzweigung an die transsibirische Pipeline38 angeschlossen werden, die bisher Erdöl aus dem Volgagebiet nach Sibirien gebracht hatte; von einer Ver­

längerung der Pipeline in den Hafen von Nachodka war im Rahmen einer inter­

nationalen Kooperation mit den am Import von sowjetischem Erdöl äußerst interessierten Japanern ebenfalls die Rede.39

Über die transsibirische Pipeline sollte das westsibirische Erdöl zumindest aber in die Raffinerien in Omsk und Irkutsk geliefert werden, falls ein Geschäft

37 Čirskov: Žizn’ na opereženie, S. 87.

38 Die Pipeline war 3700 Kilometer lang und hatte einen Durchmesser von 720 Millimeter. Bis 1965 sollte parallel zur Transsibirischen Pipeline eine Pipeline für Erdölprodukte entstehen, die bis nach Čita reichte. Eventuell wollte man diese bis China verlängern. In Ebel: The Pet­

roleum Industry in the Soviet Union, S. 152.

39 Klinghoffer: The Soviet Union & International Oil Politics, S. 253–262.

mit den Japanern vorerst nicht zustande kommen sollte. Auch im Gassektor wur­

den West­ und Ostsibirien immer wichtiger: Eine Gaspipeline aus Westsibirien in die sowjetischen Zentralregionen war in Planung, und die Erschließung von Erdgasfeldern in Jakutien stand ebenfalls zur Debatte. Nun sprach man auch intensiv über Möglichkeiten, die schon Chruščev zur Diskussion gestellt hatte:

die Ansiedlung großer Metallurgiekombinate und anderer energieaufwändiger Industrien in Sibirien, die mit den sibirischen Energieträgern betrieben wer­

den konnten, an Stelle des bisherigen Abtransports des Öls und Gases aus der Region. Um den Material­ und Warenfluss in Sibirien zu erhöhen, wollte die Partei diverse Eisenbahnlinien, unter anderem auch eine von Tjumen’ nach Sur­

gut, einrichten.40 Die Tjumen’er Lokalzeitung Tjumen’skaja Pravda jubelte über den Erfolg, der sich in den 5 Milliarden Rubel niederschlug, die die Region für den Ausbau in den kommenden Jahren erhalten sollte.41

Doch hatte der 23. Parteitag der KPdSU auch als erklärtes Ziel, nicht nur die Wirtschaft und Technisierung zu fördern, sondern den Lebensstandard der sowjetischen Bevölkerung zu verbessern.42 Besonders die Mobilisierung von qualifizierten Arbeitskräften und der Aufbau einer angemessenen Infra­

struktur stellten im Erdöl­ und Erdgaskomplex Westsibiriens wie auch in zahl­

reichen anderen entlegenen Regionen Sibiriens die Partei und Planungsstrategen vor eine große Aufgabe. Bereits in der Anfangsphase der Erschließung offen­

barte sich, dass die Industriezweige und Institutionen wie die Strojbank nicht bereit waren, für bestimmte Objekte des Kommunal­ und Industriebaus wei­

tere Finanzmittel freizustellen. Stattdessen sollten die Kosten in der offiziellen Preiskalkulation (projektno-smetnaja dokumentacija) angegeben werden.43 Dies führte bei zusätzlichen Investitionen in die Industrie vor allem dazu, dass die Baustruktur um die Industrieanlagen, aber auch die kommunale Infrastruktur kaum mit der Rohstoff­ und Extraktionsindustrie mitwuchsen.

Und so begannen sich die sozialen Probleme in Westsibirien zu häufen, nicht zuletzt auch wegen der schnell wachsenden Städte wie beispielsweise

40 Starodubskij, L.V.: XXIII sjezd KPSS o razvitii proizvodvstennych sil’ Sibiri i Dalnego Vos­

toka v novoj pjatiletke, in: Izvestija SO AN SSSR (1966) 5, S. 3–8.

41 1965 waren dies nur 1,3 Prozent des gesamten Budgets der russischen Unionsrepublik, wäh­

rend die größten Beträge in die etablierten Ölregionen flossen. Siehe Tabelle in: Considine/

Kerr: The Russian Oil Economy, S. 96.

42 Breshnew: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sow­

jetunion an den XXIII. Parteitag der KPdSU, S. 105.

43 Schreiben der Strojbank SSSR an den Obersten Rat der Volkswirtschaft »Über die Erschließung neuer Erdöl­ und Erdgaslagerstätten in der Oblast Tjumen« vom Mai 1965, uz. S. Ginsburg, in: GARF, 5446, op. 100, d. 441, ll. 52–53.

Der 23. Parteitag der KPdSU und die (west-)sibirische Sozial- und Umweltpolitik 125 im Falle des ehemaligen Dorfs Uraj, welches seine Einwohnerzahl aufgrund der zugezogenen Neftjaniki in kurzer Zeit von 4000 auf 16.000 Bewohner ver­

vierfachte.44 Die Sozialpolitik drohte auf der Basis des verhältnismäßig großen Bevölkerungsandrangs stets zu entgleisen. Denn bisher war Westsibirien wie andere Regionen östlich des Ural eine dünnbesiedelte Region gewesen, die mit Tjumen’ und Tobolsk nur Städte im südlichen Teil Westsibiriens aufzuweisen hatte. Die bisherigen Bewohner der nördlichen Gebiete waren Indigene sowie Angehörige diverser sowjetischer Nationalitäten, die relativ unbehelligt von sowjetischen Industrieutopien von der Tierhaltung, der Landwirtschaft und dem Fischfang lebten und entgegen den kulturpolitischen Bestrebungen der Sowjetmacht oftmals auch traditionelle Kulturtechniken noch nicht abgelegt hatten. So musste die Moskauer Führung in den turbulenten Anfangszeiten auf die staatlichen Lenkungssysteme für Arbeitskräfte zurückgreifen, um Menschen für den entstehenden Industriekomplex in Westsibirien zu mobilisieren. Neben zahlreichen Armeereservisten waren so im Sommer 1965 auch Mitglieder des Komsomol eingetroffen, die beim Aufbau einer kommunalen Infrastruktur mit­

halfen, nachdem Tjumen’ zu einer Allunionsbaustelle (Vsesojuznaja udarnaja strojka) erklärt worden war.45

Auch im Jahr 1966 trafen unter der Losung »Das dritte Semester für das Erdöl« weitere Studentenbrigaden in Tjumen’ ein, die sowohl in den Indus­

trien selbst als auch in der Bauindustrie beschäftigt wurden; in den Jahren 1965–1969 waren dies bereits Zehntausende junge Menschen, die unter ande­

rem aus den Instituten der Ukraine stammten.46 Doch blieb es eine der größten Herausforderungen, qualifizierte Kader für die Region anzuwerben, die bereits in anderen Regionen in der Erdöl, Erdgas­ oder Bauindustrie tätig waren. Viele dieser ersten Spezialisten wurden aus den etablierten Regionen und den Förder­

vereinigungen wie Tatneft’ für die Arbeit in Westsibirien abgestellt, nachdem ihre Vorgesetzten, »lange, erzieherische Gespräche« mit ihnen geführt hat­

ten.47 Tatsächlich warnten viele Vorgesetzte ihre Schützlinge davor, nach West­

sibirien zu gehen, denn der plötzliche Bevölkerungsansturm führte dazu, dass

44 Schreiben zur Durchsicht im Büro des VSNH, N. Novikov, Ministerrat, unterzeichnet vom Stellvertreter des Komitees für Partei­ und Staatskontrolle, V. Zalužnyj, vom 22. Mai 1965, in:

GARF, f. 5446, op. 100, d. 441, ll. 45–51.

45 Aus dem Beschluss des Sekretariats des ZK des VLKMS »Über die Arbeit der Studentischen Baubrigaden in den Regionen der Erdöl­ und Erdgaslagerstätten Westsibiriens 1965 und die Fortsetzung der Arbeiten 1966«, vom 7. Januar 1966, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 17–19.

46 Koleva: Zapadno­sibirskij neftegazovyj kompleks, Bd. 2, S. 71.

47 Ėrv’e: Sibirskie Gorizonty, S. 28–30.

es kaum oder nur sehr schlechte Wohnungen gab, und um den Aufbau einer kommunalen Infrastruktur mit Trinkwasserversorgung und Kanalisation war es derart schlecht bestellt, dass sich Krankheiten wie Typhus und Dysenterie schnell ausbreiteten. Auf die ministeriellen Industriezweige war beim Bau der Kommunalstrukturen dabei nur eingeschränkt zu hoffen, denn diese befassten sich mit dem Ausbau der Produktionsanlagen und kamen lediglich den staat­

lich erteilten infrastrukturellen Bauaufgaben für die Arbeitskräfte der eigenen Betriebe nach, anstatt sich umfassend um die Region zu sorgen. Bis Mitte der 1970er Jahre sollten einige soziale Probleme weniger prekär werden, doch die Frage der Mobilisierung blieb, wie das Kapitel 9 später aufzeigen wird.

Diese Problematik hatte die Erschließung von Beginn an begleitet und schnell wurden die Stimmen lauter, die verlangten, die Angelegenheit recht­

zeitig unter Kontrolle zu bringen. Der Gosplan sah sich in der kommenden Zeit einer harschen Kritik ausgesetzt, die »die unbegründeten Ausgaben von staat­

lichen Mitteln«48 anprangerte. Zudem kritisierte der Ministerrat den Gosplan, der den Anordnungen aus dem Regierungsbeschluss vom 4. Dezember 1963 für die Verteilung von Finanzmitteln für den Zivilbau – Schulen, Kranken­

häuser, Kanalisation usw. – nicht nachgekommen war. Was nun folgte, war die Verteilung der Pflichten auf zahlreiche Schultern. So wurde das Staatskomitee für die Erdölförderung schon 1965 dazu aufgefordert, den Kommunal­ und Zivilbau in Westsibirien zu koordinieren. Die RSFSR und die staatliche Bau­

behörde Gosstroj sollten sich des umfassenden Zivilbaus annehmen. Auch die Republikebene des Ministerrats, also der Ministerrat der RSFSR, und das Komitee für die Gasindustrie wurden dazu aufgefordert, sich um den Aufbau einer Lebensmittelversorgung und einer Baumaterialindustrie zu kümmern. Für die Jahre 1965/1966 wurden materielle Sofortmaßnahmen gewährt, die helfen sollten, die Infrastruktur schnell zu errichten. Auch das Problem der Energie­

versorgung sollte gelöst werden. Für die Periode 1966–1970 sollten Bajbakov, Kortunov und der Vorsitzende des Ministerrats der RSFSR ein Projekt für die Abstimmung im Büro des Rats der Volkswirtschaft vorlegen.49 Damit auch

48 Punkt 4 der Tagesordnung Bescheinigung über das Schreiben des Komitees für die Partei­

und Staatskontrolle des ZK und des Ministerrats über Unzulänglichkeiten während der Er­

schließung der neuen Erdöl­ und Erdgaslagerstätten in der Oblast Tjumen, in: GARF, f. 5446, op. 100, d. 441, hier l. 61.

49 Punkt 4 der Tagesordnung Bescheinigung über das Schreiben des Komitees für die Partei­ und Staatskontrolle des ZK und des Ministerrats über Unzulänglichkeiten während der Erschließung der neuen Erdöl­ und Erdgaslagerstätten in der Oblast Tjumen, in: GARF, f. 5446, op. 100, d. 441, ll. 61–64. Klüter weist darauf hin, dass der Städtebau vom Industriebauministerium übernommen werden sollte. in: Klüter: Die territorialen Produktionskomplexe, S. 132.

Der 23. Parteitag der KPdSU und die (west-)sibirische Sozial- und Umweltpolitik 127 Industriezweige jenseits der Erdölindustrie und der Kommunalbau größere Unterstützung erhielten, forderte Lokalparteisekretär Ščerbina, dass der Gosplan innerhalb des Komitees für die Verteilung der Produktion ein Koordinations­

zentrum einrichten solle.50

Immerhin schaltete sich bereits 1965 das Komitee für Parteikontrolle in die Angelegenheit ein. Zur Lösung des Zivilbauproblems forderte das Komitee den Einsatz von Spezialisten für das Bauwesen aus den alten Erdölregionen Tatar­

stan, Baschkortostan und Kujbyšev, die einen Schwerpunkt auf den Zivil­ und Industriebau der Förderindustrie legen sollten.51 Im bereits oben erwähnten Beschluss des Ministerrats »Über die Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der erdölfördernden Industrie in der Oblast Tjumen’ 1966–70«52 vom Februar 1966 folgte eine Präzisierung der vorangegangenen Beschlüsse. Diese Präzisie­

rungen zielten ebenso wie die Forderungen des Komitees für Parteikontrolle auf den Weiterbau der Infrastruktur ab, die nicht direkt der Förderindustrie unter­

geordnet war. Dem Wohnungsbauproblem wollte man nun zu Leibe rücken, indem man den Bau von Planstädten in der Tundra organisierte. Zu den neuen Polarstädten gehörten das alte Surgut, aber auch ganz neue Städte wie Nižne­

vartovsk, Nadym und Novyj Urengoj. Zwischen den Städten und Siedlungen in der Polarregion sollte eine Hierarchie entstehen: In der regionalen Haupt­

stadt Tjumen’ wurden die Vertretungen zahlreicher Institutionen sowie später Ausbildungsstätten angesiedelt; sie bot einen relativ hohen Lebensstandard. Die Tundrastädte mittlerer Größenordnung dienten als Basis für die Arbeitskräfte, die an den entlegenen Bohrlöchern im Schichtdienst arbeiteten. In der Nähe der Bohrlöcher wurden rudimentäre Wagonsiedlungen für die Arbeitskräfte aus den weiter entfernten Polarstädten eingerichtet.53 Um diese prekären Lebens­

bedingungen zu verbessern, sollten zusätzliche 15 Millionen Rubel für nicht­

industrielle Bauten bereitgestellt werden. Die Infrastruktur und das Schicht­

system, in welchem viele Arbeitskräfte tätig waren, sollten verbessert und neue materielle Anreize für die Fachkräfte, beispielsweise am Schwarzen Meer ein Sanatorium für die Tjumen’er Neftjaniki eingerichtet werden.

50 Intensivno osvaivat novyj rajon« Artikel von B.E. Ščerbina aus der Pravda vom 27. Mai 1966, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 53–63, hier S. 63.

51 Schreiben zur Durchsicht im Büro des VSNH, N. Novikov, Ministerrat, unterzeichnet vom Stellvertreter des Komitees für Partei­ und Staatskontrolle, V. Zalužnyj, vom 22. Mai 1965, in:

GARF, f. 5446, op. 100, d. 441, ll. 45–51.

52 Zum Beschluss: Aus dem Beschluss Nr. 96 des Erdölministeriums »Über die Maßnahmen über die weitere Entwicklung der Erdölindustrie in der Oblast Tjumen’ 1966–1970«, 17. Februar 1966, in: Smorodinskov (Hg.): Neft’ i gaz Tjumeni, Bd. 2, S. 29–32.

53 Hill/Gaddy: The Siberian Curse, S. 91.

Aufgrund der in zahlreichen Regionen Sibiriens sich verschlechternden Lebensbedingungen war die Regierung angehalten, Abhilfe zu beschaffen. Pre­

mier Kosygin sprach auf dem 23. Parteitag der KPdSU nicht nur von den Pro­

blemen in Tjumen, als er sich zu einer neuen Arbeitskräfte­ und Lohnpolitik äußerte, sondern von ganz Sibirien. Dabei redete Kosygin offen über den Riss (razryv, der sich entlang des Ural zwischen Ballungsräumen im Westen und dem bevölkerungsarmen und rohstoffreichen Sibirien im Osten aufgetan hatte.

Um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden, legte Brežnev dar:

»Zur schnelleren Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens müssen im neuen Planjahrfünft sozial­ökonomische Maßnahmen getroffen werden, die namentlich dazu beitragen sollen, die dort tätigen Kader auf die Dauer sesshaft zu machen und neue Kräfte für diese Gebiete zu gewinnen. Das ist eine wichtige Aufgabe der Partei und des Staates.«54 Alle Arbeitskräfte sollten nun mittels des Koeffizientensystems entlohnt werden, nach welchem der Lohn nach der Höhe des Breitengrads ausbezahlt wurde, so dass der Lohn der Arbeitskräfte in den Polarregionen Sibiriens höher ausfiel als derjenige der Arbeitskräfte im Süden des Landes. Auch sollte es zusätzliche Vergünstigungen und Anreize (lgoty) für die Arbeit in Sibirien geben, wobei die Arbeit im Fernen Norden des Fernen Ostens (Krajnyj Sever Dal’nego Vostoka) mit einem doppelt so hohen Lohn wie in den zentralen Regionen bezahlt werden sollte.55

Dennoch blieben diese Mobilisierungsbestrebungen der Moskauer Zent­

rale ein Tropfen auf dem heißen Stein und lösten keinesfalls die sozialen und ökologischen Probleme, die sich in den südlichen Städten Sibirien schon lange offenbarten und nun auch auf die Polarregionen überzugreifen drohten. In Moskau, so kritisierten Wissenschaftler der Sibirischen Abteilung der Aka­

demie der Wissenschaften, ging es vor allem um eine schnelle Produktions­

steigerung. Denn bei der Ansiedlung von Industrien in Westsibirien würde man vor allem mit der Produktionsvergünstigung werben und dabei das Risiko einer allzu großen Belastung für Mensch und Umwelt durch fehlende Schutz­

maßnahmen außer Acht lassen. Beispiele dafür gebe es in der sibirischen Ver­

gangenheit bereits genügend. So seien sibirische Großstädte wie Krasnojarsk und Kemerovo planlos und ohne die Zustimmung aller Ministerien erweitert

54 Breshnew: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sow­

jetunion an den XXIII. Parteitag der KPdSU, S. 85–86; siehe auch: Starodubskij.: XXIII s’’jezd KPSS o razvitii proizvodvstennych sil Sibiri i Dalnego Vostoka v novoj pjatiletke, hier S. 6.

55 Die Löhne in Westsibirien waren um 70 Prozent höher als im europäischen Landesteil, in:

Dahlmann, Dittmar: Sibirien vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2009, S. 275.

Der 23. Parteitag der KPdSU und die (west-)sibirische Sozial- und Umweltpolitik 129 worden, was die Städte in »äußerst unsystematische Bebauung« verwandelt habe.

Auch sei die Luftbelastung durch Aerosole in den Städten sehr hoch. Unter den teilweise geplanten »Superkomplexen« wie dem sibirischen Kohlekomplex um Ačinsk würden aufgrund der Verschmutzung letztlich Mensch und Umwelt leiden. Die Orientierung an Westeuropa und den USA, wo es – der Ansicht einiger Wissenschaftler nach – zu einer »Ultra­Urbanisierung und dem Bau von Agglomerationen« gekommen sei, hinterfragten diese umso mehr.56 Mit ihren Thesen wurden einige Wissenschaftler zu umweltpolitischen Hardlinern.

Ihre Positionen unterschieden sich deutlich von denjenigen der grundsätzlich wirtschaftsfreundlichen Wissenschaftler, die lediglich einige Aspekte des Vor­

gehens kritisierten. Zu Letzteren gehörte beispielsweise der Wissenschaftler Nekrasov, der beispielsweise die großflächigen Rodungen entlang der Bahn­

trassen und um die Tajgastädte anprangerte, bei denen seit nunmehr vierzig Jahren beispielsweise Rohstoffe wie das Holz schlichtweg vernichtet worden waren. Weitere Schäden waren in der Vergangenheit auch durch Waldbrände, Bodenerosion und die extensive Kohleförderung entstanden.57 Doch ging es Nekrasov anders als den Hardlinern der Umweltbewegung lediglich um einen nachhaltigen Ressourcenabbau, während die radikalen Kritiker eine industrielle Erschließung Sibiriens weitestgehend verhindern wollten.58

Die politische Führung beschäftigte Umweltbelange kaum. Auch um die sozialen und gesundheitlichen Probleme in den schnell wachsenden Industrie­

städten und siedlungen kümmerten sich Regierende und Staatsplaner selten. Die Protokolle der Diskussionen und Regierungsbeschlüsse lassen nicht erkennen, dass man diesen Themen überhaupt einen Stellenwert zuschrieb. Lediglich der Baikalsee, das größte Süßwasserreservoir der Welt, erlangte als Prestigeobjekt eine gewisse Aufmerksamkeit. Stattdessen stand die Versorgungssicherheit, die man durch möglichst hohe Produktionsausstöße und einen im sowjetischen Preissystem errechneten geringen Selbstpreis der Rohstoffe und Güter gewähr­

leistet sah, an allererster Stelle jedweder Überlegungen.

56 Basil’ev, P.V.: Ob osobennostjach osvoenija prirodnych bogatstva Sibiri, in: Izvestija SO AN SSSR (1966) 5, S. 9–14.

57 Ders.

58 Zu den radikalen Kritikern zählten oft Literaten und Intellektuelle. Siehe u. a.: Bahro: Umwelt­

und Tierschutz in der modernen russischen Literatur. In Bezug auf den Westsibirischen Erd­

öl­ und Erdgaskomplex wird der Erfolg von Umweltschützern allerdings gering eingeordnet.

Siehe hierzu: Roxo, Valentina: Missing Green in the Black Gold­ Environment in the Pub­

lic Debate on West Siberian Oil Production from the 1970s to the Present, in: Möllers, Nina/

Zachmann, Karin (Hg.): Past and Present Energy Societies. How Energy Connects Politics, Technologies and Cultures, Bielefeld 2012, S. 249–275, hier S. 249.